Von Prof. Dr. Christoph Kleßmann
Das Schlüsseljahr 1945 ist sicherlich primär eine europäische Größe, weil hier die Folgen besonders einschneidend waren. Ohne Frage reichte jedoch die Wirkung der mit diesem Jahr verknüpften Entwicklungen weit über Europa hinaus, wie nicht nur die welthistorische Zäsur des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 verdeutlicht. Der Weltkrieg und seine Konsequenzen waren ein globales historisches Ereignis wie bislang wohl kein anderes. Zwei Drittel aller Staaten und drei Viertel der Weltbevölkerung waren davon betroffen. Für Deutschland stellte 1945 als Befreiung von der NS-Herrschaft auch „einen Tiefpunkt der neueren deutschen Geschichte“ dar. Neben enormen Gebietsverlusten legte eine nie erlebte Zahl von Toten, Flüchtlingen und Vertriebenen, Vergewaltigten, Evakuierten und Gefangenen den Eindruck von Finis Germaniae nahe.
Aus einer internationalen Perspektive lässt sich zugleich die oft verengte deutsche Sicht auf 1945 aufbrechen und in eine breitere Übergangsphase vom Beginn des deutschen Machtzerfalls 1943 bis zur Erstarrung der politischen Strukturen durch den Kalten Krieg erweitern. Das entspricht sowohl einem sozialgeschichtlichen wie einem erfahrungsgeschichtlichen Horizont. Dass mit dem Ende der NS-Diktatur und des von ihr angezettelten Weltkrieges eine Befreiung verbunden war, die in Ostmitteleuropa sehr schnell wieder in ein neues Diktatursystem mündete, gehört zu den nicht auflösbaren Paradoxien des Jahres 1945. Für die osteuropäischen Völker ist dieser Zusammenhang sicherlich das wichtigste und schmerzlichste Element in der Erinnerung. Insofern wird sich das Jahr 1945, zu dessen symbolischen Chiffren auch Jalta gehört, kaum als gemeinsamer europäischer Erinnerungsort nutzen lassen. „Die Erinnerung an das Kriegsende und an die Errichtung der Nachkriegsordnung ist derzeit bei weitem zu gegensätzlich – und auch partiell zu traumatisch –, um als Fundament einer europäischen Erinnerungskultur dienen zu können.“
Mit dem Ende des Deutschen Reiches und des Zweiten Weltkrieges verbanden sich außer der Niederlage der rasseideologischen NS-Diktatur tiefgreifende Veränderungen weltweit, die freilich erst im Nachhinein offensichtlich wurden und den Zeitgenossen 1945 keineswegs klar vor Augen standen. Die neue Weltordnung, die Hitler in hypertrophen Machtphantasien entworfen hatte, wurde nun nicht zuletzt als Folge seines Scheiterns in ganz anderen Formen realisiert. 1945 endete auch die zwei Jahrhunderte andauernde Epoche, in der Europa die Welt beherrscht hatte. Es war zwar nicht das Ende Europas, wie manche befürchteten, aber „das Ende Europas als Gesetzgeber und Weltpolizist“. Insofern bedeutete dieses Jahr auch, wie der Soziologe Alfred Weber 1946 konstatierte, einen „Abschied von der bisherigen Geschichte“. Karl Dietrich Bracher hat den historischen Ort des Zweiten Weltkrieges als „Ende des europäischen Zeitalters“ charakterisiert. … Ein Element von enormer Wirkung und Sprengkraft ist im weiteren Zusammenhang von 1945 ebenfalls zu nennen: die Gründung Israels. Die Nationalsozialisten wollten die „Endlösung der Judenfrage“ und realisierten sie in Europa in grauenhafter Konsequenz. Aber die Folge des Holocaust war mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die Gründung eines jüdischen Staates. Damit aber wurde „das Ende der ‚jüdischen Frage’ in Europa zu ihrem Beginn im Nahen Osten“.
Siehe vom selben Verfasser: 1945 (II) – Das Jahr der Niederlage und/oder Befreiung? – 1945 (III) – Ende und Anfang der gefühlten „Stunde Null“ (mit Literaturverzeichnis)
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