„Kurz, allzu kurz waren die nur drei Jahre, die ,Haus Bertha’ bestehen durfte. Doch waren es lange, reiche, fruchtbringende Jahre, wenn man an die Tausende [denkt] – und es waren Tausende immer mehr isolierter, immer stärker bedrohter und immer grausamer erniedrigter jüdischer Menschen in ihren Entwicklungsjahren –, die hier ihre Widerstandskraft und ihren Lebenswillen stärken und, umgeben von herrlicher Natur und umhegt von verständnisvollen Menschen mit großem, liebevollem Herzen, die bitter notwendige Entspannung, Erholung und nützliche Unterweisung finden konnten.“
Von Wolf Stegemann
Die Rede ist von dem in diesen Jahren von Kindern des „Reichbundes Jüdischer Frontsoldaten“ (RJF) in der Freudenberger Heide belegten Sommerlagers. Die Baracke erhielt den Namen „Haus Bertha“. Das war nicht nur ein schlichter Name, dahinter stand ein jüdisches Erziehungsprogramm für Jugendliche in einer für Juden aufdämmernden schweren Zeit. Haus und Grundstück lagen zwar auf Altschermbecker Gebiet, es gehörte aber zum Sprengel der evangelischen Kirche in Holsterhausen, zu dem es heute noch gehört, und neben Holsterhausen den Bereich von der Schlossstraße in Schermbeck die Orte Uefte, Rhade und Erle umfasst. Zudem war Altschermbeck – wie Erle, Holsterhausen, Dorsten und die übrigen damaligen Landgemeinden dem Amt Hervest-Dorsten zugehörig. Die Postanschrift von „Haus Bertha“ lautete „Altschermbeck 60, Hervest-Dorsten“, die Bahnstation war Deuten und die Telefonnummer: Amt Dorsten 2284.
Noch ein Wort zur Schreibweise:
Etliche authentische Dokumente geben den Namen „Bertha“ auch ohne h wieder. In der Sekundärliteratur kommen beide Schreibweisen vor. Das Ferienlager wurde nach der kurz vor Eröffnung des Heimes verstorbenen Mutter des Grundbesitzers benannt. In den Gelsenkirchener Standesamtsregistern wird „Bertha“ mit h geschrieben.
Alte Holsterhausener können sich noch gut an die Jugendlichen erinnern
Die Nähe des Ferienheims zur Gemeinde Holsterhausen war es denn auch, dass sich heute noch etliche ältere Holsterhausener an die jüdischen Jungen und Mädchen erinnern können, die hin und wieder auf der Borkener Straße einkauften. „Vor allem die schwarzhaarigen Mädchen waren so interessant anzusehen, dass sie mir in Erinnerung blieben; ich sehe sie noch heute vor mir“, sagt ein heute 90-Jähriger. Diese Erinnerungen an jüdische Kinder gehen in eine Zeit zurück, in der die braunen Kolonnen mit antisemitischen Parolen aufmarschierten und Hakenkreuzfahnen in den Straßen hingen.
Von dieser Zeit zwischen 1934 und 1937 spricht auch das Eingangszitat, das von keinem anderen stammt, als von dem damaligen Vorsitzenden der Heimverwaltung von „Haus Bertha“, Leo Gompertz. Er schrieb seine Erinnerungen Mitte der 1960er-Jahre in New York auf, wohin der damalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen emigriert war.
Obwohl die Geschichte von „Haus Bertha“ am Freudenberg – und auch dessen schlichte Existenz – weitgehend verdrängt und vergessen wurde, ist sie in den USA Dank der Mitte der 60er-Jahre schriftlich niedergelegten Erlebnisberichte Ehemaliger, die im Archiv des Leo-Baeck-Instituts in New York als „Leo-Gompertz-Collection“ zu finden sind, in der historischen Erinnerung erhalten geblieben. Leo Gompertz, Gründer von „Haus Bertha“ rief Mitte der 60er-Jahre über Zeitungen in Amerika und Israel auf, Fotos und Erinnerungen an „Haus Bertha“ an das Leo-Baeck-Institut zu schicken. Es meldeten sich viele Ehemalige. Anfang der 80er-Jahre nahm der Autor dieses Berichtes seine Recherchen über „Haus Bertha“ und Kontakt mit dem Leo-Baeck-Institut auf. Er veröffentlichte seine Recherchen mehrmals in Tageszeitungen und Büchern.
Der Schermbecker Pfarrer Wolfgang Bornebusch hat sich um die Materialsammlung verdient gemacht. Von Reisen nach New York brachte er weiteres bis dahin unbekanntes Foto- und Textmaterial mit und sammelte vor Ort Augenzeugenberichte, um die Geschichte von „Haus Bertha“ in einer Ausstellung zu dokumentieren. Über jüdische Jugendverbände hat die Dorstenerin Jutta Hetkamp 1994 veröffentlicht („Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland von 1913-1933“ und „Ausgewählte Interviews von Ehemaligen der Jüdischen Jugendbewegung in Deutschland von 1913-1933“).
Ein sozialhistorisch hervorragender Ort
„Haus Bertha“ als Ferienheim für jüdische Kinder und Jugendliche aus dem gesamten deutschen Reich war die interessanteste Phase in der Geschichte der schlichten Baracke, die dem Gelsenkirchener jüdischen Kaufmann Julius Goldschmidt gehörte, der Eigentümer des Kaufhauses Gebr. Alsberg war (später Westfalen-Kaufhaus/Weka, Bahnhofstraße 55-65). Das jüdische Ferienheim war aus heutiger Sicht in damaliger Zeit einer der sozialhistorisch hervorragenden Orte in der Region, deren Bedeutung lange Zeit im offiziellen Gedächtnis verschüttet war – und es in der breiten Öffentlichkeit heute noch ist. „Haus Bertha war grundlegend für mein späteres Leben, und ich bin den Menschen, die es geschaffen haben, sehr dankbar“, schreibt der vor dem Naziregime nach Südamerika geflohene Jude Heinz Georg (jetzt: Jorge) Isakowitz (früher Marienwerder/Westpreußen). So und ähnlich bewerten viele Juden, die als Kinder und Jugendliche den Holocaust überlebten und in alle Welt emigrieren konnten, ihre Zeit im Ferienlager „Haus Bertha“ zwischen Schermbeck und Holsterhausen (siehe Kasten: Reminiszenzen Ehemaliger).
Neben dem wenige Wochen andauernden Ferienaufenthalt konnten Jugendliche auch ein halbes Jahr und länger in „Haus Bertha“ bleiben, um an so genannten „Heimhilfen“ teilzunehmen. Danach bekamen sie ein Zeugnis. Heinz Georg Isakowitz, damals 15 Jahre alt, wurde bescheinigt, dass er „liebenswürdig, offen und ehrlich“ sei, „sauber, bescheiden und ordnungsliebend“, dass sich sein Gesundheitszustand festigte und er, der Schaufensterdekorateur werden sollte, nicht zu all zu schweren körperlichen Arbeiten fähig sei. Mit größtem Fleiß, Eifer und Ausdauer habe er alle vorkommenden Arbeiten erledigt. „Er ist geistig sehr rege und über Durchschnitt. Vielseitig geistiger Interesse, bewies beim englischen Kurs seine sprachliche Begabung.“ Schon hier deutet sich zaghaft an, dass von der Heimleitung versucht wurde, die Jugendlichen auf die wegen des NS-Terrors notwendig werdenden Auslandsaufenthalte beruflich und sprachlich vorzubereiten.
Ein Projekt jüdischer Kraft
Nachdem der Besuch deutscher Jugendherbergen für jüdische Kinder verboten, und es dem Kyffhäuserbund untersagt wurde, weiterhin Gelände und Baracke des Juden Goldschmidt zu nutzen, hatte der spätere Vorsitzende der Heimverwaltung Leo Gompertz die Idee, dort ein Heim für jüdische Kinder einzurichten. Er erinnert sich:
„Es bedeutete für mich die Erfüllung eines Wunschtraumes und eines Höhepunktes meines jüdischer Arbeit gewidmeten Lebens, als ich am Sonntag, den 29. Juli 1934 das Ferien- und Umschichtungsheim ,Haus Bertha’ […] übergeben konnte.“
Doch zwischen Idee und Eröffnung lag ein langer und steiniger Weg. Zuerst wandte er sich an seinen Freund Julius Goldschmidt, auf dessen etwa 20 ha großem Gründstück am Freudenberg er dieses Heim zu errichten gedachte. Goldschmidt knüpfte an die für eine Überlassung notwendige Bedingungen: das Ferienheim sollte unter dem Protektorat des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) entstehen und geführt werden, wozu die Gestapo ihr Einverständnis erklären sollte. Diese holte sich Gompertz zuerst ein, der damals 46 Jahre alt war und seit vielen Jahren die jüdische Jugendarbeit förderte, so dass nun noch der RjF eingebunden werden musste.
Kluge Trägerschaft durch Frontsoldaten
Von Goldschmidt und Gompertz war diese Einbindung der jüdischen Frontsoldaten als Träger der Einrichtung gegenüber den NS-Behörden und der Gestapo eine geschickte Taktik. Denn Juden, die deutsche Frontsoldaten im (Ersten) Weltkrieg waren, waren zu Anfang der NS-Zeit noch geschützt und Nationalsozialisten konnten bei allem Antisemitismus hier noch nicht den Hebel der Entrechtungen ansetzen, ohne starke Proteste der Soldatenverbände fürchten zu müssen. Zudem wollte man nicht den greisen Reichspräsidenten, Feldmarschall von Hindenburg, herausfordern. Erinnert sei hier an die so genannte „Judenzählung“, die der deutsche Kriegsminister in antisemitischer Absicht im Oktober 1916 veranlasste. Er wollte statistisch beweisen, dass weniger Juden an der Front dienten als Nichtjuden und weit mehr Juden als Nichtjuden unter den „Reklamierten“ (Drückeberger) waren. Im Heer kam es daraufhin zu antisemitischen Übergriffen. Als sich herausstellte, dass die Anzahl der jüdischen Frontsoldaten verhältnismäßig nicht geringer war als die der nichtjüdischen, und dass es unter den Nichtjuden mehr Drückeberger gab, als unter den Juden, wurden diese Ergebnisse nicht veröffentlicht. Als Reaktion darauf veröffentlichte der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ ein Buch, in dem alle 12.000 für Volk, Vaterland und Kaiser gefallenen jüdischen Soldaten namentlich verzeichnet waren. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die Behörden 1933 und 1934 dem „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ gestatteten, die Baracke in der Heide am Freudenberg als Jugendferienlager zu beziehen.
Leo Gompertz übernahm die Garantie für die Kosten
Gompertz trug sein Anliegen im März 1934 der Bundesleitung des RjF in Frankfurt am Main vor. Als ob er es ahnte, dass die Zeiten für Juden immer härter werden sollten, drängte er auf schnelle Realisierung und erklärte sich sogar bereit, „die Aufbringung der recht erheblichen Kosten zu garantieren“. Der Vorsitzende des RjF-Landesverbandes Rheinland-Westfalen, Albert Süsskind aus Köln, unterstützte Gompertz’ Anliegen. Nachdem sichergestellt war, dass das Heim Berufsumschichtungsmöglichkeiten der jüdischen Jugendlichen in nichtjüdische Institutionen fördern würde, und dass das Haus jedem jüdischen Jugendlichen, gleich welcher politischen oder religiösen Richtung er angehörte, offen wäre, und „es zu diesem Zwecke streng koscher und ,unter Aufsicht’ geführt und jüdische Religion gelehrt werden würde, stimmte die Bundesleitung „nach eingehender Diskussion und Beseitigung mancher Meinungsverschiedenheiten“ zu. Gompertz wurde zum Vorsitzenden des Heim-Kuratoriums berufen und konnte somit seine Idee, die sein „Herzenswunsch“ war, umsetzen. Er schreibt 1964:
„Die Hilfsbereitschaft und das Verantwortungsgefühl, die Einsicht und Selbstlosigkeit, der ich dabei bei vielen meiner Glaubensgenossen begegnete, bedeutet ein Ruhmesblatt und erfüllt mich noch heute, nach 30 Jahren, mit Stolz.“
Stolz konnte er sein. Denn das Ferienheim wurde von den jüdischen Jugendlichen gut angenommen, die aus allen Regionen des Deutschen Reiches in die Heide am Freudenberg kamen. Darüber gibt es viele Erlebnisschilderungen. Das geräumige Holzhaus auf Betonfundamenten konnte weit über 100 Kinder aufnehmen. Es war „dürftig ausgestattet, jedoch ausbaufähig“, so Gompertz. Früher diente es einmal als Lokschuppen für Arbeiten in der nahen Kiesgrube, dann dem Freiwillige Arbeitsdienst (FAD) bzw. bis 1933 dem Kyffhäuserbund als Domizil. Leo Auerbach, der Sohn des Recklinghäuser Bezirksrabbiners, erinnert sich:
„Haus Bertha lag ideal im geographischen Zentrum Rheinland-Westfalens, in einem Stück Heide und Wald […]. Es war gut zu erreichen für alle Westdeutschen, und hauptsächlich wurde es von Gruppen aus Köln, Aachen, Düsseldorf, Essen, Dortmund, Münster, Hamburg usw. besucht. Aber auch aus weiter weg liegenden Orten kamen alljährlich Gruppen aus Berlin, Bremen, Breslau, und nicht zu vergessen: die Süddeutschen, die Frankfurter. Bunt war auch die Zusammensetzung er Gruppen. Die meisten […] gehörten der Jugendverbindung des R.J.F. an […] aber viele Mitglieder anderer Jugendorganisationen kamen: Makkabi, Bar Kochba, Kadimah, Misrachi u. a.“.
Das Organisatorische hatte Gompertz gut im Griff und schnell geregelt: Amtsgerichtsrat Dr. Willy Stern wurde Heimleiter, Bezirksrabbiner Dr. Selig Auerbach aus Recklinghausen, der später nach Lake Placid/N.Y./USA emigrierte, übernahm die Rabbinatsaufsicht, war zuständig für Seelsorge, Religionsunterricht und geistig-geistliche Ansprachen, da „Haus Bertha“ innerhalb des Bezirksrabbinats Recklinghausen lag.
Koscher gekocht
Für die Beaufsichtigung der streng koscheren Küche war auf Empfehlung des Hamburger Rabbiners Dr. Carlebach Edith Möller aus Hamburg-Altona zuständig, die aber nur drei Monate tätig war und später nach London auswanderte. Das Kochen unterstand dem Ehepaar Auerbach, das den Nazis später nach Santiago de Chile entkommen konnte. „Infolge des Schächtverbots gab es wenig Fleisch zu essen!“
Als Arzt fungierte schließlich Dr. Philip Harf aus Wesel, der nach Cambridge N. Y. auswanderte. Sein Assistent war Hans Abraham, der später in New York promovierte und sich Dr. Harvey Brandon nannte. Ruth Stamm, nach dem Krieg in Flashing N. Y., übernahm den Jugendsport und die Gymnastik. Ein Sportlehrer, ein Fußballleiter und ein Gärtner vervollständigten das Betreuungsteam.
Eröffnung – SA und SS als Zaungäste
Die Eröffnung von „Haus Bertha“ am Sonntag, den 29. Juli 1934, war ein Regentag und für Leo Gompertz ein großer Tag, an den er sich immer gern erinnerte.
„Hunderte von fröhlichen Jungen und Mädchen ergingen sich in turnerischen Spielen und Wettbewerb. Mittags fuhren wohlgefüllte Gulaschkanonen auf. Dann kampierten die einzelnen Gruppen singend und plaudernd in einem Kiefernwäldchen. In einem eigens dafür errichteten Zelt verpflegten wir die Ehrengäste…“.
Gegen 16 Uhr fand die feierliche Übergabe des Hauses statt. Albert Süsskind, RjF-Vorsitzender des Westdeutschen Landesverbandes begrüßte die Gäste, nachdem der Chor des Bundes deutsch-jüdischer Jugend unter Leitung von Gert Orgler aus Essen (später Sao Paulo) für musikalische Einstimmung gesorgt hatte. Danach sprach Leo Gompertz als Leiter des Kuratoriums von „Haus Bertha“ über die Bedeutung des Heims. Es folgten die Gruß- und Dankesworte der Ehrengäste, darunter Kammergerichtsrat Dr. Dienemann aus Berlin, der Leiter der Jugend- und Sportabteilung des RjF, Dr. Elsbach aus Berlin und der Syndikus des RjF-Landesverbandes Westdeutschland, Dr. Salomon aus Köln. Es sprachen noch Rabbiner Dr. Steinthal aus Münster, der Vorsitzende des Südwestdeutschen RjF-Landesverbands Rosenberger, der Leiter des Bundes Deutsch-jüdischer Jugend in Westfalen, Kurt Braun. Für die orthodoxen Juden dankte Dr. Salomon Ehrmann aus Frankfurt am Main und Paul Hirsch sprach für die Aachener jüdische Sportgruppe, die zur Eröffnung zahlreich erschienen war. Josef Stamm von der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen überreichte für das Haus einen silbernen Chanukka-Leuchter. Julius Goldschmidt, der Haus und Grund zur Verfügung stellte, bekam als Dank die Ehrennadel des jüdischen Sportbundes überreicht. Anschließend fand eine Gedenkfeier für die jüdischen Kriegsgefallenen statt.
Dieser so pracht- und bedeutungsvolle jüdische Festtag auf der von Kiefern durchwachsenen Heide bei Holsterhausen zog nicht nur jüdische Familien aus der Region an, er brachte auch viele nichtjüdische Zuschauer auf die Beine, darunter auch Beobachter der NS-Organisationen SA, SS und der Gestapo. „Wie mir der nichtjüdische Besitzer des Forsthauses Freudenberg später berichtete“, so Gompertz, „waren diese [NS-Beobachter, der Verf.] von dem Sportsgeist nicht wenig beeindruckt, den eine große Zahl Jugendlicher aus Frankfurt am Main und Aachen an den Tag legte, die, mit schweren Tornistern, Decken und Zelten ausgerüstet, auf ihren Fahrrädern nach den Strapazen einer langen Fahrt frisch und pünktlich [am „Haus Bertha“, der Verf.] eintrafen.“
Kinder lasen die Thora
Die Tage, Monate und Jahre vergingen in fröhlichem Gefühl der Zusammengehörigkeit der jüdischen Jugend zwischen Sport und Singen, Gottesdienst und Vorträgen, Wandern und Werken. Hin und wieder kamen Erwachsene ins „Haus Bertha“, um religiöse Vorträge zu hören und sich über die politische Lage in Deutschland auszutauschen. Da die Küche streng koscher ausgerichtet war, schickten immer mehr orthodoxe Eltern ihre Kinder ins Ferienlager „Haus Bertha“. Hier fanden sie in Gottesdiensten und Bar-Mizwa-Feiern, die zu Hause bereits verboten waren, zu ihrer jüdischen Identität, fühlten Schutz und Geborgenheit. Aber wie lange noch?
Die Schabbat-Feiern an den Freitagabenden waren immer besonders festlich. Entweder kam Rabbiner Dr. Auerbach oder Heimleiter Dr. Stern hielt die Ansprache. An Gottesdiensten wurde die Thora gelesen. Dabei amtierten die Jungen als Vorbeter und Thoravorleser, um das Gebot des Minjan zu erfüllen.
Einmal fand in „Haus Bertha“ eine Rabbinerkonferenz statt, weil sie woanders nicht abgehalten werden konnte. Hochkarätige Vertreter der jüdischen Religion versammelten sich. Anwesend waren u. a. Oberrabbiner Dr. Carlebach aus Hamburg, Dr. Eschelbacher aus Düsseldorf, Dr. Jacobs aus Bad Kreuznach, Dr. Neumark aus Duisburg, Dr. Wolf aus Köln und der Bezirksrabbiner von Recklinghausen, Dr. Auerbach. Der Grund dieser Konferenz ist leider in Vergessenheit geraten.
Schutz und Geborgenheit des Hauses waren für die Kinder und Jugendlichen wichtig. Denn zu Hause wurden sie in der Schule von ihren Lehrern und Mitschülern immer häufiger erniedrigt, ausgegrenzt und gedemütigt, auf der Straße und auf dem Schulhof nicht selten verprügelt, aus ihrer gewohnten nichtjüdischen Nachbarschaft und aus den Vereinen ausgeschlossen.
Das Gründungsjahr von „Haus Bertha“ ist gerade für Juden das Fanal einer immer systematischer werdenden Verfolgung. Reichskanzler Adolf Hitler festigte seine Diktatur. Nach dem Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg vier Tage nach Eröffnung von „Haus Bertha“ machte sich Hitler auch offiziell als „Führer und Reichskanzler“ zum Diktator, erließ das „Heimtückegesetz“ (Terrorgesetz zum Schutz der nationalen Diktatur), die Vertreibung der Juden aus ihren Berufen begann, der Volksgerichtshof wurde errichtet, der Reichstag brannte, SA-Führer Röhm und Oppositionelle aus Kirche, Gewerkschaften, Verwaltung und Militär ließ Hitler ermorden, Einstein emigrierte in die USA. Immer mehr verdichteten sich die dunklen Wolken über die deutschen Juden, auch über „Haus Bertha“, das den Jugendlichen noch Freiräume gibt, zumindest in der abgelegenen Gemeinsamkeit der Freudenberger Heide ihr Judentum auszuleben.
1935 werden die „Nürnberger Rassegesetze“ erlassen und die Juden weitgehend aus dem öffentlichen Leben gedrängt und mit Verboten belegt. Und in „Haus Bertha“?
Charles Wolff aus New York schreibt: „Noch erinnere ich mich der Gedenkfeier am 4. August 1935 anlässlich des einjährigen Todestages des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von Hindenburg. Während des Morgenappells wurde die Fahne auf Halbmast gesetzt und der Heimleiter Dr. Stern sprach einige Worte des Gedenkens.“ Am Mast hing die Fahne des jüdischen Soldatenbundes, denn seit März durften Juden die schwarz-weiß-rote Reichsfahne nicht mehr zeigen. Wolff erinnerte sich aber auch an einen „leichten Zusammenstoß“ mit der Hitlerjugend, deren Führer sich aber mit seinem Haufen zurückzog, als ihm die jüdischen Jugendlichen zu verstehen gaben, dass dieses Gelände Privatbesitz sei. Auch musste die Heimleitung darauf achten, dass religiöse Festlichkeiten sich nicht allzu öffentlich abspielten. Leo Auerbach gibt die Begründung: „Da „Haus Bertha“ sehr nahe am größten Arbeitslager in Westdeutschland, ,Lager Wulfen’ war, mussten sehr oft die Feierlichkeiten beschränkt werden und nur im Saal oder in der näheren Umgebung der Bauten abgehalten werden.“ Mit „Lager Wulfen“ meinte Auerbach das Ludwig-Knickmann-Lager des Reichsarbeitsdienstes (RAD) an der heutigen B 58.
Gestapo stürmt Haus Bertha
In den Städten und auch in Dorsten, Holsterhausen und im nahen Schermbeck tauchten die ersten antisemitischen Spruchbänder auf. Abgelegen in der Freudenberger Heide und dennoch stets von der Gestapo überwacht, konnte sich „Haus Bertha“ noch bis Anfang 1937 behaupten. In der Rückbesinnung erstaunt es Charles Wolff, dass in der antisemitischen Atmosphäre des damaligen Deutschland eine Einrichtung wie „Haus Bertha“ trotz der nur drei Jahre ihres Bestehens doch so lange hatte bestehen konnte.
Während eines Schabbat-Gottesdienstes im Speisesaal griff die Gestapo überfallartig zu und ordnete die Schließung und Auflösung des Hauses innerhalb kürzester Zeit an. In einem Lagebericht der Staatspolizeidienststelle für den Regierungsbezirk Münster heißt es 1937:
„Die polizeiliche Schließung des jüdischen Ferienhauses (…) hat nach dem vorliegenden Bericht des Landrats in Recklinghausen in der Bevölkerung lebhafte Befriedigung ausgelöst.“
Leo Gompertz kämpfte noch für das Weiterbestehen von „Haus Bertha“ – wenn auch erfolglos. Er erinnert sich: „Auf Anraten der Gestapo-Dienststelle Gelsenkirchen begab ich mich nach Berlin, um bei der Hauptstelle der Gestapo im Berliner Polizeipräsidium vorzusprechen, und ich tat das nicht ohne Hoffnung, da von der Gelsenkirchener Stelle selbst keine gesetzlichen Bedenken [gegen die Weiterführung von „Haus Bertha, der Verf.] erhoben wurden.“
Mitglieder der Bundesleitung des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ begleiteten ihn. Das waren Dr. Leo Loewenstein, Gründer des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ und Dr. Dienemann. Auf telefonische Anfrage hin bekamen sie einen Termin beim zuständigen Dezernenten zugesagt. Doch die Gestapo ließ die drei Herren zwei Stunden lang in einem abgeschlossenen Raum warten, um ihnen dann zu sagen, der Dezernent habe keine Zeit und sie sollten schriftlich einreichen, was sie wollten. „Diese hatten wir in richtiger Voraussicht bereits vorbereitet, und wir konnten [den Antrag] an Ort und Stelle übergeben.“
Allerdings reagierte die Gestapo nicht auf diese Eingabe und die Schließung von „Haus Bertha“ blieb bestehen. Gompertz veranlasste nach Rückkehr die sofortige Räumung von „Haus Bertha“. Alle beweglichen Gegenstände, darunter auch ein Klavier, wurden nach Gelsenkirchen geschafft und dort verkauft oder an Bedürftige abgegeben. Den silbernen Chanukka-Leuchter nahm Gompertz mit in die USA und rettete ihn somit vor der kurz darauf stattgefundenen Beschlagnahme des verbliebenen Inventars. Augenzeugen erinnern sich, dass restliche Einrichtungsgegenstände 1938 im Haus selbst versteigert wurden, wie es damals auch andernorts mit jüdischen Einrichtungsgegenständen in Wohnungen üblich war, wenn Bürgermeister und Finanzamt die Versteigerungen durchführten.
Die von der Gestapo beschlagnahmte Baracke, aus der und um die einst fröhliches Kinderlachen und Musik erklang, stand nun still, leer und verwaist in der Heide. Während des November-Pogroms 1938 ging „Haus Bertha“ in Flammen auf. Ein Augenzeuge will drei Männer in SA-Uniformen gesehen haben, wie sie Feuer legten und verschwanden. Der spätere Bürgermeister von Altschermbeck, der Landwirt Josef Markfort, nutzte fortan das große Grundstück. Er will dies getan haben, soll er nach dem Kriege sagen, um die völlige Verwüstung des Grundstücks zu verhindern.
„Haus Bertha“ gab es nun auch als Gebäude nicht mehr. Doch wenn es auch abgebrannt war und die Menschen, die dort gewesen waren, in aller Welt verstreut lebten und viele andere sicherlich in den Konzentrationslagern ums Leben kamen, konnte der Geist der Jugend, der von „Haus Bertha“ ausging und dort die immer mehr vereinsamende jüdische Jugend stärkte, nicht vernichtet werden. Dazu Leo Auerbach aus Santiago de Chile:
„Die Erinnerung bleibt. Und die Gewissheit, dass der Geist der Jugend vom Lager aus in die weite Welt mitging, und viele der ehemaligen Lagerbesucher haben in ihrer neuen Umgebung oft mit Erfolg versucht, ein neues Lager [wie „Haus Bertha“, die Red.] zu errichten.“
Nach dem Krieg ein unrühmliches Nachspiel
Das Geschehen um „Haus Bertha“ hatte nach dem Krieg ein für deutsche Verwaltungsstellen unrühmliches Nachspiel. Das Grundstück war als jüdischer Besitz 1938 in das Eigentum des Deutschen Reichsfiskus übergegangen. 1948 schloss der Oberfinanzpräsident von Westfalen als Grundstückseigentümer einen offiziellen Pachtvertrag mit dem Landwirt und Bürgermeister von Altschermbeck, dem bereits erwähnten Josef Markfort, der das Grundstück bereits seit der „Arisierung“ nutzte. Der eigentliche Eigentümer, Julius Goldschmidt, konnte seine Rechtsansprüche auf Wiedergutmachung nicht durchsetzen, da er nach einem zwölfjährigen erfolglosen Papierkrieg zwischen seinen Anwälten und den sich der Wiedergutmachung verweigernden deutschen Behörden in San Francisco verstarb.
Seine Erben strengten das daraufhin eingeschlafene Verfahren neu an und erhielten 1960 eine Abfindung in Höhe von 20.000 DM, nachdem der unstrittige Wert des „Haus-Bertha“-Grundstücks am Freudenberg noch zwölf Jahre vorher mit 140.000 DM angegeben worden war.
________________________________________________________________________________
Tagesablauf in „Haus Bertha“
Die Tage in „Haus Bertha“ waren gut durchorganisiert. Nach dem Frühstück wurde aufgeräumt und geputzt, zum Fahnenappell angetreten, dann die Jungen und Mädchen in Gruppen aufgeteilt nach Alter, Geschlecht und Interessen. Während sich die Älteren in „Wald und Feld“ begaben oder sich mit Schreinerarbeiten beschäftigten, trieben die Jüngeren Sport und veranstalteten Spiele, hörten Vorträge, die sich meist mit jüdischen Themen befassten. Das gemeinsame Mittagessen um 12 Uhr vereinigte alle Gruppen, danach war bis 15 Uhr Freizeit, von der nur die Gruppe ausgenommen war, die Küchendienst hatte. Sport und Spiel setzen sich am Nachmittag fort, bis es um 17 Uhr Kaffee oder Kakao gab. Nun hörten die Älteren Vorträge, diskutierten über die politische Lage der Juden in Deutschland, machten Zukunftspläne oder wanderten durch das weite Gelände.
Um 19 Uhr wurde mit einem Appell die Fahne des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten eingeholt und die Nachtwache eingeteilt. Bis 21 Uhr durften die Älteren am Lagerfeuer zusammensitzen, plaudern, Klampfe, Mandoline und Ziehharmonika spielen und Lieder singen. Die Nacht verbrachten die Jugendlichen in Schlafsälen auf Strohsäcken oder, wenn es das Wetter zuließ, in mitgebrachten Zelten. Auch stand ein eigenes Hauszelt mit 30 Feldbetten zur Verfügung.
________________________________________________________________
As one of Leo Gompertz’s grandsons, it was wonderful to find this detailed article!