Von Wolf Stegemann
„Der Kampf gegen den ins Reich eingedrungenen Feind ist überall mit aller Unnachsichtigkeit und Unerbittlichkeit zu führen … Gau- und Kreisleiter, sonstige politische Leiter und Gliederungsführer kämpfen in ihrem Gau und Kreis, siegen oder fallen. Ein Hundsfott, wer seinen vom Feind angegriffenen Gau ohne ausdrücklichen Befehl des Führers verläßt, wer nicht bis zum letzten Atemzug kämpft. Er wird als Fahnenflüchtiger geächtet und behandelt. Reißt hoch die Herzen und überwindet alle Schwachen. Jetzt gilt die Parole: Siegen oder fallen…“
Dieser Text stand auf einem Plakat, das in hoher Stückzahl auf Befehl des Reichsleiters Martin Bormann noch Mitte März in Dorsten und den Dörfern angeschlagen wurde. Denn auf der linken Rheinseite rüsteten sich die Alliierten zum Angriff auf das Reich. Reichspropagandaminister Goebbels im Rundfunk: „80.000 bester Soldaten bilden am Niederrhein eine Abwehrmauer, an der sich der Feind blutige Köpfe holen wird.“ Währenddessen legten die alliierten Bombengeschwader eine Stadt nach der anderen in Schutt und Asche. Diese Luftangriffe waren, wie US-General Simpson in kühler Sachlichkeit feststellte. „Hammerschläge, die den Einmarsch vorbereiten sollten.“ Ein Hammerschlag, der über zwei Dutzend Male in diesen Märztagen des Jahres 1945 geführt wurde und der Land und Leute zerschlug: Bocholt, Borken, Dorsten, Stadtlohn, Coesfeld, Dülmen – sie alle gingen unter in einem Inferno aus Bomben und Feuer.
Dorstener NS-Bonzen verließen fluchtartig die Stadt
Der Weg für die 21. Armeegruppe Montgomery, bestehend aus der 1. Kanadischen Armee, der 2. Britischen Armee, der 9. US-Armee und dem britisch-amerikanischen 18. Luftlande-Korps war freigebombt. Der von Goebbels als starke Festung propagierte „Westfalenwall“, der zur Verteidigung völlig sinnlos war, wurde von den vorsichtig operierenden Alliierten aufgerollt.
Feldmarschall Montgomery hatte alles aufgeboten, was die britisch-amerikanische Streitmacht benötigte: 20.000 Geschütze, 40.000 Fallschirmjäger und Luftlandesoldaten, 26 britische Infanteriedivisionen, fünf Schützenpanzerdivisionen und die 1. Polnische Panzerdivision. Am 27. März, fünf Tage nach der Zerstörung der Dorstener Altstadt und fünf Tage nach Beginn der großen alliierten Luftlandeunternehmung und des Vorstoßes vom Rhein her, der dem Herzen Deutschlands galt, standen die Panzerspitzen der 9. US-Armee vor der Stadt Dorsten, aus der sich viele örtliche NS-Führer entgegen der Aufforderung von Reichsleiter Bormann aus dem Staube gemacht hatten: Bürgermeister Dr. Gronover setzte sich zur Verwandtschaft nach Greven ab, der frühere Ortsgruppenleiter Heine in seine Heimatstadt Reinertshausen (Hessen) und der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Altendorf-Ulfkotte zu seiner Verwandtschaft nach Oldenburg. Andere NS-Funktionäre flohen bereits vor der Bombardierung samt Gepäck in die Nazi-Hochburg Bückeburg, wo sie hofften, im Schütze des dort noch funktionierenden NS-Behördcn-Apparates als harmlose Bürger untertauchen zu können, was auch einigen der Abgehauenen gelang. SA-Führer Aßmann aus Hervest-Dorsten, der von den Alliierten wegen Mordes an drei englischen Fliegern und einem Ostarbeiter gesucht wurde, lebte noch einige Zeit unbehelligt in Bückeburg, bis er von den Engländern, die ihn suchten, wegen Mordes an alliierten Piloten verhaftet wurde.
Am Gründonnerstag waren die Amerikaner in der Stadt
Den Dorsten näher rückenden Soldaten der 8. US-Panzerdivision und den Kampfgruppen der 30. US-Infanteriedivision standen deutsche Soldaten der 116. Panzerdivision und der 190. Infanteriedivision des XXXXVII. Panzerkorps gegenüber. An diesem Dienstag, den 27. März, konnten die deutschen Truppen eine noch einigermaßen zusammenhängende Frontlinie wahren, die von Emmerich im Norden bis nördlich der Lippe und westlich von Dorsten reichte. Bereits am andern Tag war diese Frontlinie unterbrochen. Der damalige Dorstener Postbeamte Schröder, der in der Körnerstraße wohnte, notierte in sein Tagebuch: „Der Artilleriebeschuss von Richtung Wesel nahm von Tag zu Tag zu. Am Mittwoch hieß es, dass der Feind bereits bis zur Hardt vorgedrungen sei.“ Am andern Tag verhielten sich die Amerikaner, die einzelne Panzergefechte in der Herrlichkeit Lembeck und vor allem im Hervest-Dorstener Raum durchzustehen hatten, noch verhältnismäßig ruhig. Die deutsche Artillerie zog sich nach Marl zurück und beschoss von dort die heranrückenden amerikanischen Truppen. Hermann Schulte-Hemming aus Altendorf-Ulfkotte erinnerte sich:
„In unserem Haus war ein Artilleriebeobachter zurückgeblieben, der die deutsche Artillerie in Marl und Polsum einwies, die die Dorsten einnehmenden amerikanischen Truppen und Panzerspitzen beschoss.“
Am Gründonnerstag, dem 29. März, rückten frühmorgens um fünf Uhr amerikanische Panzer, auf denen Kampftruppen saßen, in Dorsten ein. Die Einnahme der umkämpften und von Bomben total zerstörten Stadt, die zudem seit Tagen unter Artilleriebeschuss lag, dauerte zwei Tage. Allerdings rückten am Abend die ersten amerikanischen Kampftruppen in Richtung Haltern und Ruhrgebiet wieder ab, während neue Truppen, vom Niederrhein kommend, in letzte und immer schwächer werdende Abwehrkämpfe in und um Dorsten verwickelt wurden. Allein der Kampf in der bereits durch die vorangegangene Bombardierung zertrümmerten Altstadt kostete 19 deutsche Soldaten und fünf Zivilisten das Leben.
Der erste Militärkommandant von Dorsten war der 29-jährige US-Captain Henry F. Duncan. Er bekleidete diesen Posten ganze drei Stunden. Sein Hauptquartier schlug er unweit der Katharinenstraße (damals noch „Straße der SA“) auf. Während er mit seinen Truppen wieder abrückte, kam der nächste Truppenkommandant, Smith, der ebenso nur einige Stunden Stadtkommandant war.
Dorstener Stadtverwaltung harrte mit einer Handvoll Angestellten aus
Die Dorstener Stadtverwaltung befand sich damals im Hause Frerick, Goethestraße 11, da das Amtsgebäude gegenüber dem Franziskanerkloster bei der Bombardierung zerstört worden war. Günther Titselaar, der damals in der Stadtverwaltung tätig war, erinnerte sich: „Alle zwei Stunden kam ein neuer Stadtkommandant, und wir mussten aller heraustreten. Bei fast jedem das gleiche Spiel: Sie kamen und riefen: Wer war in der Partei? Raus! – Es blieben nicht viele übrig. Die Stadtverwaltung bestand in den Stunden des Umbruchs nur noch aus fünf oder sechs Angestellten, die offiziell ausharrten und die ersten Ansprechpartner für die amerikanischen Besatzer waren.“
Amerikaner plünderten die Wohnungen
Fast die gesamte Dorstener Bevölkerung saß in den Stunden der Besetzung in Kellern und Bunkern. Wer in den Häusern und Wohnungen oder sogar auf der Straße erwischt wurde, musste oft stundenlang mit erhobenen Händen an den Sammelplätzen stehen. Beispielsweise am Essener Tor. Augenzeugen wussten von schlimmen Vergewaltigungen zu berichten. Häuser und Wohnungen, deren Bewohner in den Kellern saßen, wurden durchwühlt und auch zerstört und geplündert. Dazu der bereits zitierte Postbeamte Schröder von der Körnerstraße:
„An Lebensmitteln und Kleidungsstücken hatte man sich nicht vergriffen. Aber an Gold und Silber ist einiges mitgenommen worden. Besonders Uhren, Broschen und alte Münzen. Magdas alter Fotoapparat war auch verschwunden… Wie erzählt wird, soll nun Friede sein. Zumindest haben wir zurzeit Waffenruhe…“