Von Wolf Stegemann
Eine französische Karikatur von 1947 macht die Furcht der Siegermächte vor einem wiedererstarkten Deutschland deutlich: Deutschland, ein blondes, pralles Pin-up-Girl, trägt als Haarspange ein Hakenkreuz am Zopf und hält hinterm Rücken ein Schwert, auf dem »Ruhr« steht. – Nach 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges beeinflusste Furcht, teilweise sogar Hass die Politik der Siegermächte. Die Abkommen der Alliierten von Jalta und Potsdam wollten die Industrie Deutschlands als möglichen neuen Rüstungsherd „kurz“ halten. In Amerika schien sich der Präsidenten-Berater Morgenthau durchgesetzt zu haben, der sagte: »Deutschland ist in ein Land zu verwandeln, das in seinen wesentlichen Zügen als Ackerbau- und Weideland anzusehen ist.“ Über das Ruhrgebiet meinte er: »Ich würde jedes Bergwerk und jede Fabrik zerstören. Ich bin dafür, dass erst einmal alles vernichtet wird. Dann können wir uns über die Bevölkerung den Kopf zerbrechen.« In Washington setzten sich schließlich die Bedächtigeren durch. Aus Deutschland wurde kein Weideland. Die Sieger zeigten Großmut: Es blieb bei der Demontage von Industriewerken und Fabriken, ohne dem Land die industrielle Existenzgrundlage zu nehmen.
Obwohl die Kriegswaffen längst schwiegen, gingen immer wieder Sprengsätze hoch: Industrieanlagen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dem »Industrieplan« von 1946 folgend, schickten sich die Alliierten an, über die Hälfte der Chemieindustrie zu vernichten, ferner den Großteil der Werkzeugmaschinenfabriken. Die Sieger beabsichtigten, das deutsche Wirtschaftspotential auf den Stand von 1930/32 zurück zu versetzen. Als Wiedergutmachung erhielten kriegsgeschädigte Staaten, insbesondere die Sowjetunion, ganze Fabriken samt Menschen und Material. Während Hunger und Elend in Deutschland um sich griffen, die Amerikaner und Engländer zu großen Hilfsaktionen veranlassten, während der amerikanische Außenminister Marshall für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands und Europas 1947 einen Soforthilfeplan entwickelte, der amerikanische Wirtschaftshilfe in einem Zweiphasenprogramm vorsah, mussten deutsche Arbeiter, teilweise unter Waffengewalt der Besatzer, ihre Fabriken demontieren. Ein weiterer Gegensatz: Während Industrieanlagen von den Besatzern vernichtet oder außer Landes geschafft wurden, begann gleichzeitig der industrielle Aufbau. Beispielsweise startete das Volkswagenwerk im Jahre 1946 wieder seine Serienproduktion.
Eisengießerei und Norres-Laboratorium standen auf der Liste
Am 18. Oktober 1947 veröffentlichten die »Westfälischen Nachrichten« die endgültige Demontageliste für Nordrhein-Westfalen. Der Demontageplan sah vor, dass in Nordrhein-Westfalen 294 Industrieanlagen, darunter 43 Rüstungsbetriebe, demontiert werden sollten. Dadurch wären 34.000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Fabrikgebäude sollten dabei nicht zerstört werden. Dies dürfe nur dann geschehen, wenn die Demontage einer großen Maschine dies erforderlich mache.
Als chemische Fabrik war von der Demontage auch das Dorstener »Pyrotechnische Laboratorium W. Norres« betroffen, das während des Krieges Sprengstoffe herstellte. Dort sollten die Fabrikationsanlagen zur Erzeugung des Sprengstoffes abgebaut werden. Auch stand auf der Liste die »Dorstener Eisengießerei und Maschinenfabrik Hervest-Dorsten«. Demontiert sollten werden Aufzüge und Kräne, Anlagen für Steinbrüche, Zerkleinerungsanlagen für Chemikalien, Transmissionsanlagen und Schmelzöfen für die Eisen- und Stahlindustrie.
Die Aufführung der beiden Dorstener Firmen in der Demontageliste rief einen Proteststurm bei den Dorstener Kommunalpolitikern, bei den Kreispolitikern, bei der Bevölkerung und den Belegschaften hervor. In einer gemeinsamen Sitzung der Vertretungen des Amtsbezirks Hervest-Dorsten und der Stadt Dorsten vom 28. Oktober 1947 schilderte Amtsdirektor Dr. Banke die schwere Erschütterung der Bevölkerung. Man denke nicht daran, so Banke, die Beschlüsse des Kontrollrates zu sabotieren, aber man müsse doch zu bedenken geben, was diese Maßnahme für die Stadt Dorsten bedeute. Da die Eisengießerei mit Hilfe der englischen Militärregierung seit anderthalb Jahren wieder produziere, würde der Ausfall des Werkes für die Stadt Dorsten zu einem Fehlbetrag von über 200.000 Reichsmark führen. Banke führte weiter aus, dass auch das Schicksal der betroffenen Arbeiter, die nicht anderweitig unterzubringen seien, größte Bedeutung habe. Der Antrag der KPD, eine eigene Entschließung zu veröffentlichen, wurde mit den mehrheitlichen Stimmen von CDU und SPD abgelehnt. Vielmehr schlossen sich die Dorstener Kommunalpolitiker einer Entschließung des Recklinghäuser Kreistages vom 16. Oktober 1947 an. die in der Sitzung vom 24. Oktober verlesen wurde:
Proteste verhinderten die Demontage in Dorsten
»Der Kreistag (…) stellte mit Bedauern fest, dass auf dieser Liste auch Firmen und Betriebe aus unserem Kreis stehen, die für den Neuaufbau unserer Friedenswirtschaft unbedingt notwendig sind (…). Das deutsche Volk ist zur Wiedergutmachung grundsätzlich bereit und mit der Militärregierung der Meinung, dass Kriegs- und Rüstungsbetriebe demontiert werden müssen. Wenn aber die genannten Betriebe in Dorsten und Herten der Demontage verfallen sollen, werden die erfreulichen Ansätze in der Steigerung der Kohlenförderung sehr gefährdet. Außerdem werden die hieraus freiwerdenden Arbeiter, besonders der große Anteil der Kriegsversehrten, sehr hart betroffen, weil sie fast durchweg seit Jahrzehnten aufs engste mit der Scholle verbunden sind, denn nach der Demontage können sie anderweitig nicht untergebracht werden. Sollte die Demontage dieser Werke wider Erwarten doch erfolgen, so würde sich dies auch in steuerlicher Hinsicht katastrophal auswirken, zumal da die Stadt Dorsten zu zwei Drittel durch Kriegseinwirkung zerstört ist. Diese Erklärung entstammt nicht einer propagandistischen Absicht, sondern ist nur allein der Ausdruck der Sorge um den Fortbestand unseres Volkes. Wir bitten daher die Militärregierung nochmals, eine Überprüfung dieser Betriebe vornehmen zu lassen, und geben der Hoffnung Ausdruck, dass aus vorgenannten Gründen die Demontage dieser Firmen unterbleibt.«
Auch die Gewerkschaft protestierte gegen das Vorhaben der Demontage. In einer Belegschaftsversammlung erklärte der Ortsbeauftragte des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Hahneiser, dass die in der Liste genannte Bedeutung der Eisengießerei nicht stimme. Rund 70 Prozent produziere das Werk für den Bergbau. Als ein solches habe es für den Wiederaufbau primäre Wichtigkeit: »Dorsten bangt um das Werk und hofft auf einen guten Ausgang. Die Treue der Arbeiter zum Werk ist vorbildlich.« Auch meinte der Gewerkschaftsvertreter, dass die Produktionsangaben des Pyrotechnischen Laboratoriums W. Norres in der Demontageliste falsch angegeben seien produziere für den Bergbau und stehe somit unter dem Demontageschutz der Engländer. Den vereinigten Bemühungen von Stadt, Amt, Kreis, Gewerkschaft und der Kohlenbergbauleitung gelang es schließlich, die Beschlagnahme der Maschinen für Reparationszwecke aufheben zu lassen. Trotz des hohen Ausmaßes an Demontagen war die Substanz der deutschen Wirtschaft keinesfalls vernichtet. Die Produktionskapazität war im Vergleich zum Jahr 1944 nur um rund 15 bis 20 Prozent geringer. Während die Amerikaner die Demontage bereits im Frühjahr 1946 praktisch eingestellt hatten, setzten die Franzosen und Engländer teilweise trotz massiven Widerstandes der Arbeiter diese noch bis 1951 fort.
Der Gesamtwert der aus den Westzonen entnommenen Güter schwankte zwischen 1,5 und 5 Milliarden Reichsmark. Wesentlich härter als die Westdeutschen hatten die Bewohner der Ostzone unter umfangreichen Demontagen zu leiden. Komplette Schiffswerften und Produktionsanlagen wurden in die Sowjetunion transportiert. Vorsichtige Schätzungen beziffern diese sowjetischen »Entnahmen« auf über 7,5 Milliarden Reichsmark.