W. St. – Rechtsgrundlage für den Abstammungsnachweis, der bald im Volksmund „Arierparagraf“ hieß, war Paragraph 3 im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Es war das erste rassistisch begründete Gesetz im Deutschen Reich seit 1871, das zugleich die Unmöglichkeit und Willkür einer rassischen Definition von „Judesein“ bewies. Denn seine erste Durchführungsverordnung vom 11. April 1933 bestimmte:
Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat.
Da es keinerlei spezifische Rasse-Merkmale für Juden gibt, wurde hier die jüdische Religion als Definitionsmerkmal zu Hilfe genommen. Dies bedeutete zum Beispiel, dass ein Deutscher, dessen Eltern getaufte Christen waren, aber einer der Großeltern nicht getauftes Mitglied einer jüdischen Gemeinde war, als nichtarisch galt. Andersherum galt auch jemand als nichtarisch, der erst kürzlich zum Judentum übergetreten war, aber selbst keine direkten jüdischen Vorfahren hatte.
„Kleiner“ Ariernachweis musste bis zu den vier Großeltern zurückreichen
Der Nachweis der „arischen“ Abstammung erfolgte durch die Vorlage von sieben Geburts- oder Taufurkunden des Probanden, der Eltern und der vier Großeltern sowie drei Heiratsurkunden der Eltern und Großeltern. Diese mussten von Pastoren, Standesamtbeamte und Archivaren offiziell beglaubigt worden sein. Ersatzweise konnten ein beglaubigter Ahnenpass oder eine beglaubigte Ahnentafel vorgelegt werden.
Bei der Überprüfung dieser Vorlagen wirkten die deutschen Kirchen entscheidend mit, indem sie ab April 1933 den Staatsbehörden freiwillig ihre Tauf- und Heiratsregister zur Verfügung stellten. Katholische Diözesen und evangelische Pfarrämter bescheinigten den Staatsbehörden auf Einzelnachfrage, was diese wissen wollten; die Kirchenverwaltungen ließen dazu eigene Formulare drucken. So konnte die Religionszugehörigkeit von Personen, auch Religionswechsel ihrer Eltern und Großeltern, festgestellt werden.
Nach 1933 wurde der Personenkreis, der den „kleinen Ariernachweis“ bis zu den Großeltern zu erbringen hatte, u. a. auf alle Angestellten und Arbeiter des Reiches und der Gemeinden, auf Ärzte, Juristen und Schüler höherer Schulen ausgedehnt. Bei ungeklärten Familienverhältnissen – etwa Findlingskindern, un- und außerehelichen Geburten – und in allen Zweifelsfällen entschied die „Reichsstelle für Sippenforschung“ im Reichsministerium des Innern über den Einzelfall. Dabei lieferten ihr Universitätsinstitute oft erb- und rassebiologische Gutachten.
„Großer“Ariernachweis für Parteimitglieder und SS bis zum Jahr 1750
Das Reichserbhofgesetz und die NSDAP verlangten sogar den Nachweis der „rein arischen“ Abstammung – auch für den Ehepartner – bis zum Jahre 1800 zurück, für Bewerber für die SS bis 1750 zurück („großer Ariernachweis“). Bei jeder aufgeführten Person musste Name, Beruf, Religion und Geburts- und Sterbedatum eingetragen werden. Um die Erarbeitung der Ahnentafel musste sich selbstverständlich der angehende SS-Soldat selbst kümmern. Es wurde außerdem darum gebeten, die dafür notwendigen Geburts-, Todes- und Heiratsurkunden beizulegen und an das Rasse- und Siedlungshauptamt zu schicken.
Auch hier wirkten die Kirchen bereitwillig mit. So legte etwa die evangelisch-lutherische Landeskirche Berlin-Brandenburgs eigene alphabetische Taufverzeichnisse für die Zeit von 1800 bis 1874 an – bis kurz nach der Reichsgründung, nach der staatliche Standesämter ähnliche Register führten – und führten außerdem besondere Karteien für getaufte Juden und „Zigeuner“.
Kirchenhistoriker: „Christenverfolgung innerhalb der Kirche“
Letztlich entschied der Ariernachweis über Leben und Tod. Ab Juni 1941 wurden die durch ihn ausgegrenzten Juden und so genannte Zigeuner – vor allem Sinti und Roma – deportiert, gettoisiert und schließlich im Holocaust ermordet. Der Kirchenhistoriker Manfred Gailus (Hg.) wies in seinem 2008 erschienen Buch „Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich nach, dass die Kirchen eine erhebliche Schuld als Erfüllungsgehilfe des Regimes auf sich geladen haben. Denn die Nachweise seien nur über Auszüge aus den Kirchenbüchern möglich gewesen Für das „böse Spiel von völkischer Inklusion und Exklusion“ hatten die Kirchen als Eigentümer dieser Quellen den entscheidenden Schlüssel in der Hand. Anhand von Fallbeispielen zu ausgewählten Landeskirchen machen die Autoren deutlich, wie dieser „Kampf um das Kirchenbuch“ konkret aussah. Das ernüchternde Fazit: In nur wenigen Fällen haben Pfarrer die Herausgabe brisanter Informationen verweigert. Selbst die Gemeinden der Bekennenden Kirche, die grundsätzlich den Arierparagraphen ablehnte, haben einem protestantischen „Beamtenethos“ folgend, korrekte Angaben gemacht. Erst durch diese Kenntlichmachung war es den Nazis schließlich möglich, über die etwa 500 000 „Glaubensjuden“ hinaus Arier von Nichtariern zu scheiden. – Zu Recht spricht der Herausgeber von einer „Christenverfolgung innerhalb der Kirche“. Seit 1938 waren die Mitarbeiter der Kirchenbuchämter dazu bereit, in ihrer Arbeitszeit nach „Juden“ bzw. „Judenstämmlingen“ zu suchen. Für den Kirchengemeindeverband Altona wurde sogar eine eigene „Judenkartei“ erstellt. Ähnliche Fälle auf Gemeindeebene lassen sich auch andernorts finden
Neuer Beruf: der Sippenforscher
Unter der dringenden Notwendigkeit der Ahnenforschung entstand ein eigener Beruf, der des Sippenforschers, dessen Zahl enorm anstieg. Eigens für diese Ahnenangelegenheiten wurde die „Reichsstelle für Sippenforschung“ (ab 1940 „Reichssippenamt“) gegründet, welche die Abstammungsnachweise auf Grund der Urkunden ausstellte.
Eine Art „Ariernachweis“ in einer gegenwärtigen Burschenschaft
Eine Mannheimer Studentenverbindung sollte aus dem Dachverband Deutsche Burschenschaft ausgeschlossen werden, weil sie einen chinesischstämmigen Studenten aufgenommen hatte. Wie viel deutsch muss sein? Diese von der „Süddeutschen Zeitung“ am 4. November 2011 gestellte Frage beantwortete der Burschenschaftssprecher Stefan Dobner und der Pressesprecher Michael Schmidt: „Das Bekenntnis zur deutschen Kultur, die deutsche Staatsangehörigkeit und die Abstammung“ seien zwar weiterhin entscheidende Anforderungen an Bewerber, allerdings müsse nicht jeder einzelne dieser Punkte erfüllt werden, um aufgenommen zu werden. Die Debatte um die Einführung dieser Art von „Ariernachweis“ sorgte für öffentlichen Wirbel – zuerst auch im Dachverband der Deutschen Burschenschaften, die einen Antrag auf Ausschluss der Mannheimer Studentenverbindung wieder zurückgezogen hatten. Dem Dachverband Deutsche Burschenschaften gehören 120 Verbindungen mit rund 1.500 Studenten und 10.500 „Alte Herren“ (frühere Studenten) als Mitglieder an.
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Verordnung über den Nachweis deutschblütiger Abstammung vom 1. August 1940
Auf Grund gesetzlicher Ermächtigung wird mit Zustimmung des Beauftragten für den Vierjahresplan und des Oberkommandos der Wehrmacht folgendes verordnet:
§ 1 – (1) Der Nachweis deutschblütiger (arischer) Abstammung bis zu den Großeltern gilt Behörden und Dienststellen der Wehrmacht gegenüber als erbracht
a) von Mitgliedern der NSDAP oder ihren Gliederungen durch Vorlage einer Bescheinigung des zuständigen Kreisleiters oder des übergeordneten Hoheitsträgers der NSDAP, daß der Nachweis bereits geführt worden ist,
b) von einem Ehegatten der unter a) genannten Person lautenden Bescheinigung,
c) von Beamten und Angestellten im Dienste des Reichs, eines Landes, oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft mit Ausnahme der Religionsgesellschaften, von Angehörigen der Wehrmacht sowie des Reichsarbeitsdienstes durch Vorlage einer Bescheinigung ihrer Dienststelle, daß der Nachweis bereits dort geführt worden ist,
d) von einem Ehegatten der unter c) genannten Personen durch Vorlage einer gleichartigen, auf seine Person lautenden Bescheinigung der Dienststelle,
e) von Vollgeschwistern der unter a bis d genannten Personen durch Vorlage der dort für diese Personen angeforderten und auf deren Namen lautenden Bescheinigungen.
(2) Die Reinheit des Blutes über die Großeltern hinaus gilt insoweit als nachgewiesen, als in der Bescheinigung nach Abs. 1 ersichtlich gemacht ist, daß ein den weitergehenden Anforderungen entsprechender Nachweis geführt worden ist.
(3) Die Bescheinigungen der Abs. 1 und 2 sind auch gültig für den Abstammungsnachweis von Nachkommen der dort genannten Personen.
§ 2 – (1) Die Bestimmungen des § 1 gelten nicht im Anwendungsbereich des § 5 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1937 (RGBl. I. S. 1146), der §§ 17 und 19 der Ersten Ausführungsverordnung hierzu vom 19. Mai 1938 (RGBl. I. S. 533), des § 13 des Reichserbhofgesetzes vom 29. September 1933 (RGBl. I. S. 685) in Verbindung mit § 6a der Erbhofrechtsverordnung vom 21. Dezember 1936 (RGBl. I. S. 1069) in der Fassung der Verordnung vom 26. April 1939 (RGBl. I. S. 843) sowie der Bestimmungen über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit.
(2) Die Bestimmungen des § 1 Abs. 3 der Zweiten Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes vom 30. August 1939 (RGBl. I. S. 1540) und des § 16 der Dritten Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes (Personenstandsverordnung der Wehrmacht) vom 4. November 1939 (RGBl. I. S. 2163) bleiben unberührt.
§ 3 – Der Reichsminister des Innern erläßt die zur Durchführung und Ergänzung erforderlichen Bestimmungen.
§ 4 – Die Verordnung gilt für das Gebiet des Großdeutschen Reichs.
Aufgehoben durch das Gesetz Nr. 1 des Alliierten Kontrollrats für Deutschland
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