Von Wolf Stegemann
Hauptlehrer Fritz Sagemüller, Schulleiter in Erle, bekam am 15. Juli 1938 von der Redaktion des antisemitischen Kampfblatts „Der Stürmer“ unter dem Aktenzeichen To/Lu. aus Nürnberg einen Brief, in dem der Lehrer aufgefordert wird, endlich auf dem Schulhof den „Stürmer-Kasten“ anzubringen, damit die Schüler über den Kampf gegen das Judentum informiert werden. Im Brief wurde die Drohung ausgesprochen, wenn dies nicht erfolgen sollte, würde in der nächsten Ausgabe des Stürmers stehen: „Hauptlehrer Sagemüller in Erle verbietet den Stürmer-Aushang.“ Weiter schrieb die Zeitung, dass ihr die Information über den fehlenden Kasten „von fanatischen Kämpfern gegen das Judengesindel“ mitgeteilt worden sei und „Sie (Sagemüller) in Ihrer Eigenschaft als Hauptlehrer den Aushang verbieten“ würden. Weiter schrieb der „Stürmer“:
„Wir sind besonders erstaunt darüber, dass Sie sich sogar über den dortigen Ortsgruppenleiter der NSDAP und Bürgermeister hinwegsetzen. Wir werden uns in dieser Angelegenheit noch mit den maßgebenden dortigen Stellen befassen.“
Diese Drohung war an einen Mann gerichtet, der zwar kein hundertprozentiger Nazi war, den Nationalsozialismus aber in seinem Dienst- und Wohnbereich von Anfang an bis zum Ende mitgetragen hatte. Seine politische Grundeinstellung war national-konservativ, was ihn nicht unbedingt zum Freund der Weimarer Republik machte, denn den „Versailler Vertrag“ hielt er für eine „Schande“. Daher setzte Fritz Sagemüllere seine politischen Hoffnungen in das nationalsozialistische Erneuerungsprogramm für Deutschland. Schon am 26. April 1933 trat er in die NSDAP ein (Mitgl.-Nr. 2.170.780) und wurde in der Ortsgruppe Erle Propagandaleiter, um die Erler Bevölkerung zu ideologisieren und vor allem die Kinder, die ihm als Lehrer anvertraut waren, auf nationalsozialistischen Kurs zu bringen. Nichts anderes verbarg sich hinter dem Amt des Propagandaleiters, das und sechs andere Parteiämter Fritz Sagemüller bis zu seinem Tod wenige Tage vor Kriegsende innehatte. Nach der Aufforderung von 1938, den „Stürmer-Kasten“ anzubringen, soll er ihn so hoch gehängt haben, dass die Schulkinder seinen antisemitischen Inhalt nicht lesen konnten. Diese Aussage konnte aber nicht verifiziert werden.
1937 gab es rund 700 Stürmer-Kästen
Im Deutschen Reich waren die so genannten Stürmer-Kästen verbreitet. Das waren mit antisemitischen Parolen beworbene öffentliche Schaukästen, in denen die aktuelle Ausgabe kostenlos zu lesen war. Während der Olympischen Sommerspiele 1936 wurden an den Wettkampforten die Stürmer-Kästen abmontiert bzw. leer gelassen, und das Blatt wurde an einigen Kiosken vorübergehend nicht verkauft. Damit sollte die Reputation des Deutschen Reichs im Ausland gewahrt bleiben. 1937 gab es etwa 700 Stürmer-Kästen. In Dorsten hing ein Stürmer-Kasten am Haus des nationalsozialistischen „General-Anzeigers“ am Essener Tor (damals Adolf-Hitler-Platz). Wo solche Kästen sonst noch hingen, an welchen Schulen in den Herrlichkeitsdörfern, ist hier nicht bekannt.
Antisemitisches, pornografisches und hetzerisches Wochenblatt
Hauptthema der am 20. April (Hitlers Geburtstag) 1923 von Julius Streicher in Nürnberg gegründeten antisemitischen, pornografischen und hetzerischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ war der Kampf gegen die „Degeneration der nordisch-germanischen Rasse“ durch Rassenschande. Zum Inhalt des Stürmers gehörten daher überwiegend geradezu pornografische, oft sadistische Schilderungen von Vergewaltigungen und anderen Formen von sexueller Nötigung deutscher Frauen durch Juden. Um seine Leser davon zu überzeugen, dass es die Absicht „der Juden“ sei, die „nordisch-germanische Rasse“ zu schädigen, bediente sich der Stürmer eines umfassenden Systems der sexuellen Denunziation. Der Jude vergreife sich nicht nur an arischen Mädchen und Frauen, sondern sei auch unermüdlich darauf aus, Kinder und Kleinkinder zu schänden. Sodomitische Handlungen, homosexuelle Aktivitäten und alle nur erdenkbaren Perversionen seien dem Juden als Mittel recht, die arische Rasse zu vernichten. Durch Prostitution und Mädchenhandel würden syphilitische Beschwerden und andere Geschlechtskrankheiten gezielt auf die Arier übertragen, um diese zu vernichten.
SS-Führer Richard Hildebrandt legte sich 1932 mit Julius Streicher an
Richard Hildebrandt, vor 1933 NSADP-Oretsgruppenleiter von Bad Windsheim (Mittelfranken) und SS-Führer, der großre Karriere als solcher machen sollte ud n dafür in Polen gehenkt wurde, hatte 1932 wegen der Zeitung „Der Stürmer“ eine harsche Auseinandersetzung mit dem Herausgeber Streicher. Hildebrandt, für Bayern zuständiger SS-Führer, erließ ein Jahr vor der Machtergreifung eine für ganz Bayern gültige Anweisung, dass sich kein SS-Mitglied an den Befehl von Julius Streicher gebunden fühlen müsste, den „Stürmer“ zu abonnieren, da das „Niveau dieser (antisemitischen) Zeitung zu niedrig“ sei. Hildebrandt stellte den Fall so dar, dass Streicher mit der Hundepeitsche auf ihn losgegangensei. Da habe er (Hildebrandt) zur Pistole gegriffen. Ein SS-Führer sei dazwischen gegangen. Streicher beschwerte sich bei Hitler und Himmler auch über Hildebrandts Bemerkung, mit der er sich angeblich auf seine Erziehung berief, die er im humanistischen Gymnasium Petrinum in Dorsten genossen hatte: „Ich kann es mit meiner humanistischen Erziehung und meinem Gewissen nicht vereinbaren, ähnlich schmutzige Presseorgane zu propagieren.“ Richard Hildebrandt wurde daraufhin aus seiner Stellung entlassen und erst wieder 1933 in Funktionen eingesetzt.
Denunziation gehörte zum Alltagsgeschäft der Zeitung
Oft basierten die Artikel auf Berichten von Lesern, die den vollen Namen der jüdischen Beschuldigten wiedergaben; teilweise erschienen die Artikel auch in Form von aktuellen Berichterstattungen über zeitgenössische Kriminalfälle bzw. Gerichtsverhandlungen.
Auch religiöse Themen bildeten einen Teil des antisemitischen Repertoires, beispielsweise in Gestalt von Juden als Ritualmörder und Gottesmörder. Darüber hinaus gab es diffamierende Artikel über jüdische Ärzte, Anwälte, Kaufleute und Viehhändler. Ziel dieser Artikel war, so der Historiker Dennis E. Showalter, die Kennzeichnung des Juden als „böser Nachbar“ und damit die Übertragung eines abstrakten antisemitischen Feindbildes auf identifizierbare Mitglieder der Gesellschaft. Die aggressive Judenfeindlichkeit des Stürmers wurde noch dadurch verdeutlicht, dass seit 1927 Heinrich von Treitschkes Zitat „Die Juden sind unser Unglück!“ am Fuße einer jeden Titelseite stand.
Julius Streicher wurde nach dem Krieg in Nürnberg zum Tode verurteilt
Franken-Gauleiter Julius Streicher war Herausgeber der Zeitung und nutzte dazu den eigenen „Stürmer-Verlag“. Er war einer der radikalsten Antisemiten und forderte die Todesstrafe für jüdische „Rasseschänder“. Er bezichtigte indirekt sogar Hitler zu großer Nachgiebigkeit in der „Judenfrage“. Manche Parteigenossen hielten Streicher für „nicht ganz zurechnungsfähig“. Dennoch genoss Streicher die persönliche Protektion Hitlers. „Der Stürmer“ war nie eine Parteizeitung und durfte daher auch nicht das Zeichen der NSDAP, das Hakenkreuz, führen. Er blieb bis zuletzt im Privatbesitz von Julius Streicher. Allein die Einkünfte daraus machten den NS-Gauleiter zum mehrfachen Millionär. Streicher arbeitete persönlich in der Redaktion mit und prüfte jedes Manuskript vor der Drucklegung. Chefredakteure der Zeitung waren 1924/25 Fritz Hülf (1925-1938), danach Karl Holz, Ernst Hiemer und kurzfristig (1941/42) Erwin Jellinek. – Julius Streicher wurde 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aufgrund seiner Aufhetzung zum Judenhass wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Fotograf denunzierte Kunden der Dorstener Metzgerei Perlstein
Die Artikel im „Stürmer“ wurden oft von großformatigen Überschriften und vulgär-antisemitischen Karikaturen von Philipp Ruprecht (Pseudonym Fips) oder von Fotos begleitet, um die im Text dargestellten antisemitischen Stereotype auch visuell zu illustrieren. In der Rubrik „Am Pranger“ wurden „art-vergessene“ Frauen und Männer angeprangert und deren Bestrafung eingefordert. Es wurden auch Namen und Fotos von Personen veröffentlicht, die beispielsweise in jüdischen Geschäften einkauften. In der Essener Straße stand ein Dorstener Fotograf mit der Kamera, manchmal in Zivil, manchmal in SA-Uniform, der jeden fotografierte, der die Metzgerei Perlstein betrat. Foto und Namen schickte er dann an den „Stürmer“. In seiner wöchentlichen Ausgabe veröffentlichte das Blatt auch Listen verhafteter Juden, die verdächtigt wurden, gegen die 1935 eingeführten Nürnberger Rasse-Gesetze verstoßen zu haben. „Der Stürmer“ erhielt außerdem unter der Rubrik „Lieber Stürmer“ wöchentlich zahlreiche Leserbriefe mit antisemitischem und denunzierendem Inhalt. Sie wurden ab 1935 auch von der Gestapo ausgewertet. Betroffenen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, die vom „Stürmer“ beleidigt und angegriffen wurden, war allgemein jeder rechtliche Schutz dagegen verwehrt.
Entwicklung der Auflage bis Februar 1945
Zunächst erschien „Der Stürmer“ im „Völkischen Verlag Wilhelm Härdel“, ab 1935 im Verlag „Der Stürmer“. In der Anfangszeit hatte das Blatt nur eine eher geringe Auflagenzahl, mit der Machtübernahme der NSDAP stieg die verkaufte Auflage. Die letzte Ausgabe erschien am 22. Februar 1945. Die genaue Auflagenhöhe des Stürmers ist nicht ermittelbar. Nach den Angaben von Julius Streicher im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess schätzte Dennis E. Showalter, dass der „Stürmer“ 1927 eine Auflage zwischen 17.000 und 20.000 hatte und in den Jahren nach 1933 sechsstellige Auflagenhöhen erreichte. In der Urteilsbegründung des Nürnberger Gerichtshofs ist von einer Auflage von 600.000 ab dem Jahr 1935 ausgegangen worden. Fred Hahn geht davon aus, dass lediglich Streichers Aussage über die Auflage für 1934 in Höhe von 40.000 als gesichert angesehen werden kann.
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Ich habe ein Buch über den Stürmer veröffentlicht: Schwerpunkt Fips (Philipp Rupprecht). Ich habe als Manuskript Fips und die Wehrmacht (Zeichnungen); Fips und die Karikaturen 33-36 (Seite 2 des Stürmers); Fips und die Feinde im „Kommen“ Fips und Stalin usw. Fips und Amerika.