Deutsche Soldaten in sowjetischen Lagern – Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft

W. St. – Ein Kriegsgefangener ist „ein Mann, der dich töten will, dich aber nach seiner Überwältigung bittet, ihn nicht zu töten“. So lautet die sinngemäße Übersetzung eines Bonmots, das von Winston Churchill stammen soll. Es offenbart ein für das 20. Jahrhundert charakteristisches Verständnis, dass die Kriegsführung kein atavistisches Morden, sondern eine Handlung im staatlichen Auftrag sei und der Gegner die Hoffnung haben darf, nicht aus Rache getötet zu werden. Im Altertum machte man keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nicht-Kämpfern. Dem siegreichen Feldherrn stand das Recht zu, mit allen Angehörigen des Gegners zu verfahren, wie es ihm beliebte, sie in der Regel zu töten oder als Sklaven zu verkaufen. Die Versklavung war bei den Griechen und Römern üblich und wurde auch im christlichen Abendland praktiziert, bis auf dem 3. Laterankonzil (1179) den Christen der Handel mit Sklaven verboten wurde. In der Folge wurde es Brauch, Kriegsgefangene gegen Lösegeld freizulassen. Wesentliche Änderungen ergaben sich mit dem Aufkommen der Söldnerheere. Man unterschied in dieser Zeit bereits zwischen Kombattanten und nicht beteiligter Zivilbevölkerung. Der einzelne Soldat wurde zum wertvollen Wirtschaftsgut. Gefangene wurden entweder für die eigene Truppe geworben, von den Gegnern frei gekauft oder nach festen Regeln und in regelmäßigen Zeitabständen gegen eigene Leute in feindlicher Gefangenschaft ausgetauscht.

Französische Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg, Postkarte.

Mit der Aufklärung setzte sich die Ansicht durch, dass die Kriegsführung als Angelegenheit der Staaten von staatlichen Organen zu führen sei, also von Soldaten und daher die prinzipiell unbeteiligte Zivilbevölkerung zu schonen sei. Es zeigten sich schon Ansätze eines modernen Verständnisses, dass nämlich Kriegsgefangene Individuen mit gewissen Rechten seien und nicht nach Belieben der Sieger behandelt werden dürften. Infolge der Französischen Revolution und der Einführung der Wehrpflicht im 19. Jahrhundert entfernte man sich von der Auffassung, dass der Soldat ein handelbares Wirtschaftsgut darstelle und ging dazu über, Kriegsgefangene auf die Dauer des Krieges wegzusperren oder gegen das Ehrenwort, nicht mehr an der Kriegsführung teilzunehmen, freizulassen.

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 bewirkte einen weiteren Schritt in der Entwicklung . Es kam zu Bestrebungen, für die Kriegsgefangenen ähnliche Konventionen abzuschließen, wie sie für die Verwundeten bereits existierten (nach der Schlacht von Solferino 1859 und der Gründung des Roten Kreuzes).

Deutsche Ulanen führen 1917 russische Soldaten in die Gefangenschaft

Die Haager Konferenz 1907 führte zur Landkriegsordnung

Das führte zur Haager Konferenz im Jahre 1907, in der das „Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges und seine Anlage“, besser bekannt als die „Haager Landkriegsordnung“ beschlossen wurden. In dieser wurde auch die Behandlung der Kriegsgefangenen geregelt. Die wesentlichen Punkte davon sind: Kriegsgefangene sind menschlich zu behandeln, Privateigentum darf ihnen nicht genommen werden. Sie sind nach dem Standard der eigenen Truppe unterzubringen und zu verpflegen. Es sind Auskunftsstellen einzurichten, Hilfsgesellschaften wie beispielsweise das Rote Kreuz sind zu unterstützen. Gefangene dürfen nur zu Arbeiten eingesetzt werden, die in keiner Beziehung zu den Kriegshandlungen stehen. Sie sind nach Friedensschluss binnen kürzester Frist in ihre Heimat zu entlassen.

Die Haager Landkriegsordnung hatte allerdings einen wesentlichen Konstruktionsfehler, die so genannte Allbeteiligungsklausel. Sie setzte fest, dass der Vertrag nur dann Anwendung finden sollte, wenn ihn alle kriegsführenden Mächte unterzeichnet hatten. Deswegen musste im Ersten Weltkrieg aufgrund der Vielzahl der beteiligten Staaten ein separates Einverständnis der Hauptkriegsgegner hergestellt werden, dass die Haager Landkriegsordnung anzuwenden sei.

Alliiertes Flugblatt mit dem Versprechen einer guten Behandlung, 1944.

Genfer Konferenz von 1929 regelte die Bestrafung von Kriegsgefangenen

Aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wurden in der Genfer Konferenz von 1929 zwei Konventionen beschlossen, die den verbesserten Schutz für Verwundete und Kriegsgefangene als Ergänzung der Haager Landkriegsordnung beinhalteten. Sie betrafen u. a. die Regelung der Bestrafung von Kriegsgefangenen (z. B. nach Fluchtversuchen), das Verbot von Repressalien, die Schaffung einer internationalen zentralen Auskunftsstelle. Besonders wichtig war der Verzicht auf die Allbeteiligungsklausel. Das Abkommen galt für alle Krieg führenden Unterzeichnerstaaten. Im Verhältnis zu den Nicht-Unterzeichnern galt die Haager Landkriegsordnung.

 

Völkerrechtliche Situation vor dem Zweiten Weltkrieg:

Zwischen dem Deutschen Reich und den Westalliierten war die völkerrechtliche Situation eindeutig. Es galten die Haager Landkriegsordnung und ihre Ergänzung durch die beiden erwähnten Konventionen von 1929. Die Sowjetunion war nicht der Genfer Kriegsgefangenenkonvention, sondern nur der Verwundeten-Konvention beigetreten (sowjetische Militärdoktrin). Die Haager Landkriegsordnung, noch von der zaristischen Regierung unterschrieben, wurde zuerst als nicht verbindlich betrachtet, später jedoch anerkannt. Deutschland hatte bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion die Entscheidung getroffen, keine völkerrechtlichen Bindungen im Umgang mit den zu erwartenden Gefangenen zu akzeptieren. Im deutsch-sowjetischen Krieg waren Gefangene also weitgehend rechtlos und der Willkür der jeweiligen Gegner ausgeliefert.

Überblick über Anzahl und Sterblichkeitsraten der Gefangenen

Nach Kriegsende befanden sich rund 11 Millionen deutscher Kriegsgefangener in alliierten Lagern. Von den rund 450.000 Frauen im Bereich des Ersatzheeres, der Luftwaffe und Marine (Nachrichten-Stabs- und Flakhelferinnen) und den 350.000 Frauen im Rot-Kreuz-Dienst kam ein relativ geringer Anteil von etwa 30.000 in die Gefangenschaft. Der überwiegende Teil von ihnen befand sich in Lagern im Osten. Sie waren entweder abgesondert in Männerlagern oder in eigenen Frauenlagern untergebracht.

Denkmal am Westgraben, das an Dorstener Kriegsgefangene erinnert; Foto: Wolf Stegemann

Alliierte Gefangene in deutschem Gewahrsam

Die Sterblichkeitsrate bei den in Deutschland kriegsgefangenen Rotarmisten lag bei 30 Prozent, bei US-Soldaten, Briten und Franzosen bei jeweils 5 Prozent, andere (Tschechen, Niederländer, Norweger, Neuseeländer, Australier) lagen zusammen bei 3 Prozent. Das macht deutlich, dass die sowjetischen Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft schlechtere Überlebenschancen hatten, als deutsche Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft. – Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren neben den Juden die Opfergruppe, die unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Deutschland das schlimmste Schicksal erleiden musste. 3,3 Millionen Rotarmisten sind dabei ums Leben gekommen (ermordet, verhungert oder wegen unzureichender Unterbringung oder fehlender medizinischer Betreuung gestorben).

Behandlung der Kriegsgefangenen bestimmte das Überleben

Als wichtigste Indikatoren für die Beurteilung der Behandlung von Gefangenen kann man nach der Reihenfolge ihrer Bedeutung für das Überleben anführen:  a) Verpflegung, Unterbringung, medizinische Versorgung; b) Arbeitseinsatz, Bewachung, Schikanen; c) Kontrolle durch internationale Institutionen (z. B. Rotes Kreuz), Kontakte mit der Heimat.

Deutsche Kriegsgefangene mit russischem Bewacher

Deutsche Gefangene in der Sowjetunion

Über das Gebiet der Sowjetunion verteilt gab es etwa 5.000 Lager für Gefangene (das so genannte Archipel GUPWI), die dem sowjetischen Volkskommissariat des Inneren (NKWD bis 1946, dann MWD genannt) unterstanden. Die gefangenen Soldaten wurden ins Hinterland abtransportiert und erst nach Kriegsende in den ehemaligen Frontgebieten zum Wiederaufbau eingesetzt. Für die meisten Bewohner der Sowjetunion waren sie verbrecherische Eindringlinge, die im Namen Hitlers Tod und Vernichtung in ihr Land getragen hatten und nun als Gefangene dafür büßen und Wiedergutmachung leisten sollten. Am Anfang des Krieges gab es besonders viele Übergriffe und auf direkte Weisung Stalins auch Gefangenenerschießungen.

Deutsche Kriegsgefangene warten auf den Abtransport, 17. April 1945; Foto: Keystone

Offiziell wurde Wert darauf gelegt, die Gefangenen in einer befriedigenden körperlichen Verfassung zu halten, um die Effizienz ihres Arbeitseinsatzes sicherzustellen. Deshalb gab es in manchen Lagern so genannte „Nebenwirtschaften“, wie z. B. Schweinemastanstalten oder Sammelstellen für wild wachsende essbare Grünpflanzen und Gemüse. Bekleidungs- und Wäschenormen wurden erlassen, die sich aber häufig änderten. 1944 erhielt jeder Gefangene einen Uniformmantel, 3 Paar Fußlappen, Unterwäsche, 2 Paar Schuhe (repariert), eine Steppweste, eine Pelzmütze, eine Feldmütze und 2 Handtücher. In kalten Gegenden zusätzlich ein Paar Filzstiefel und Fäustlinge (Beutebestände oder gebrauchte Sachen der Roten Armee). Die Versorgung war jedoch oftmals nicht sichergestellt. Eine der Ursachen waren Amtsmissbrauch und nachlässiges Verhalten der Lagerverwaltungen. Deren gravierende Verstöße, wie z. B. Unterschlagung von Geldern, Lebensmittel, Bekleidung etc. wurden seitens der zuständigen Behörden (NKWB / MWD) mit Strafen geahndet.

Briefmarke von 1953, die dazu anregt, die Kriegsgefangenen nicht zu vergessen

Hunger stellte alle anderen Bedürfnisse hinten an

Aus den durchgesehenen Berichten geht immer wieder hervor, dass der Hunger alle anderen menschlichen Bedürfnisse in den Schatten gestellt und jeden Tag und jede Stunde der Gefangenschaft dominiert hat. Durch die mangelhafte Ernährung stiegen Krankheiten, wie TBC, schwere Ödeme und Durchfall sowie die damit verbundene Sterblichkeit drastisch an. Durch die Rückführung von rund 200.000 arbeitsunfähigen Kriegsgefangenen in den Jahren 1946 und 1947 in ihre Heimat ergab sich eine Lebensmitteleinsparung, die im Jahre 1947 zu einer kleinen Verbesserung für die verbliebenen Gefangenen führte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die sowjetische Bevölkerung selber an Hunger litt. Die Unterbringung erfolgte zum Großteil in Holzbaracken, jedoch auch in Erdbunkern und gemauerten Gebäuden wie z. B. alten Fabrikhallen. In den Baracken der Lagergruppe Stalingrad war die Hitze im Sommer oft unerträglich, während es im Winter zahlreiche Erfrierungen gab, weil viele Fenster nicht verglast und außerdem in den Baracken nicht überall Öfen vorhanden waren.

Für die medizinische Betreuung wurden Genesungslager mit insgesamt rund 120.000 Plätzen geschaffen. Die Betreuung in den Lagern erfolgte durch russische Ärzte (hauptsächlich Frauen) und gegebenenfalls durch gefangene deutsche Militärärzte. Der Mangel an Medikamenten und die dürftigen sanitären Einrichtungen waren ein Dauerproblem. In der Nähe der Lager wurden Friedhöfe angelegt, die zum Schutz vor Grabschändung mit Stacheldraht eingezäunt wurden. Ein Erlass des Innenministeriums aus dem Jahre 1943 schrieb in Anlehnung an den internationalen Usus die Erfassung aller Todesfälle in den Lagern und Spitälern vor.

Nach der Niederlage in Stalingrad ziehen deutsche Kriegsgefangene durch Moskau.

Arbeitseinsatz, Bewachung, Schikanen, Dauer der Gefangenschaft

Die Kriegsgefangenen wurden bis Jahresende 1949 vor allem beim Bau und Wiederaufbau der größten Industrieobjekte und Kohlereviere, am Eisenbahn-, Straßen- und Brückenbau, bei der Errichtung von Dampf- und Gasleitungen, für Baumfällarbeiten sowie beim Wohnungsbau in Städten eingesetzt. Die fachliche Qualifikation vieler deutscher Gefangener wurde dabei sehr geschätzt. Wichtig war die Erfüllung der „ Arbeitsnorm“. Bei Übererfüllung gab es Zugaben an Lebensmitteln, bei Nichterreichen der Norm Strafen wie etwa körperliche Misshandlungen. Päckchen aus dem Ausland durften erst ab 1948 an die Gefangenen ausgehändigt werden. Gefangene, die sich der antifaschistischen Organisation anschlossen (Antifa), konnten sich manche Privilegien verschaffen. In vielen Lagern bildete sich eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“: Auf der einen Seite Leute mit besonderen Fachkenntnissen und Fähigkeiten und solche, die häufige Paketsendungen aus der Heimat bekamen, die sich der Lagerleitung gegenüber durch Denunziation von Kameraden oder als „Brigadeleiter“ bei den Arbeitseinsätzen zur Übererfüllung der Normen als besonders „kooperativ“ erwiesen („Kameradenschinder“). Andererseits die Gefangene, die kaum Pakete erhielten, die keine ausgeprägten Kenntnisse und keine Möglichkeit hatten, z. B. durch Bestechung begehrte Arbeitsstellen wie im Küchendienst oder als Sanitäter zu erlangen.

Entgegen offiziellen Anordnungen waren die Gefangenen oft genug der Willkür ihrer Bewacher ausgeliefert, die Lohngelder oder Lebensmittel unterschlugen oder aus einer schlechten Laune heraus Disziplinarstrafen verhängten. Erwähnt sei außerdem, dass etwa 60.000 Kriegsgefangene unter Erpressung von Geständnissen (häufig nach grausamen Folterungen) als Kriegsverbrecher verurteilt wurden (meistens zu 25 Jahren Zwangsarbeit), um sie auch nach 1949 als Arbeitskräfte behalten zu können. Positive oder negative Einzelfälle (von Einzelpersonen oder einzelnen Lagern) oder das besonders grausame Schicksal der 90.000 Gefangenen von Stalingrad mit einer Sterbequote von 93 Prozent darf man allerdings auch nicht übersehen, andererseits auch nicht zu Pauschalurteilen verdichten. Die Unsicherheit der Dauer der Gefangenschaft war eine der größten psychischen Belastungen. Im ungünstigsten Falle währte sie von 1941 bis 1956.

Was erzählen ehemalige deutsche Soldaten über ihre Kriegsgefangenschaft?

Die Berichte sind zwangsläufig von manchen subjektiven Faktoren beeinflusst, die bei der kritischen Betrachtung nicht unbeachtet bleiben dürfen.  Sie erzählen vom Leiden in der Gefangenschaft, vergessen aber zu erwähnen, wer dieses Leid letztlich verursacht hat.  Sie setzen sprachlich (manchmal vielleicht unbewusst) ihre Leiden in den sowjetischen Gefangenenlagern gleich mit den Leiden von Opfern des Nationalsozialismus (z. B. „Deportationen“) und rechnen ihr Schicksal gegen die Opfer der anderen Seite auf. Manche verfolgen revisionistische Interessen, wollen eigene Schuldanteile ausblenden und von Tätern zu Opfern werden. Selten betrachten ehemalige Kriegsgefangene die Zeit ihrer Gefangenschaft als Folge eines verbrecherischen Angriffskrieges und als eine Art von „Wiedergutmachung“.

Sowjetische Soldaten in  deutscher Gefangenschaft

Kriegsgefangene Rotarmisten im KZ Mauthausen

Die Quellenlage ist sehr lückenhaft, weil die vielen Bestände an Kriegstagebüchern und Akten über die Kriegsgefangenen des Heeresarchivs Potsdam bei Luftangriffen weitgehend zerstört und zahlreiche andere Akten beim Bahn-Transport von Potsdam nach Berchtesgaden von deutschen Stellen selbst verbrannt wurden. Von den Lagern im Reichsgebiet sind kaum Unterlagen erhalten geblieben. Trotzdem gelang es einer Reihe von Forschern, detaillierte Kenntnisse über die Lebensverhältnisse und Schicksale der etwa 5,7 Millionen in deutsche Hände gefallenen sowjetischen Soldaten zu vermitteln.

Verpflegung, Unterbringung, medizinische Versorgung

Soldaten der Roten Armee wurden als Untermenschen betrachtet, die keinerlei Rücksichtnahme verdienten. Gefangene Kommissare und Juden wurden in der Regel sofort exekutiert. Die Gefangenen wurden vorwiegend zu Arbeiten in den Operationsgebieten eingesetzt (Stellungs-, Straßen und Eisenbahnbau). Dort entbehrliche Gefangene wurden nach Deutschland transportiert. Die Gefangenen mussten zuerst im Freien ohne ausreichende Verpflegung und ohne ärztliche Versorgung lagern, bis sie sich selber ein primitives Barackenlager bauen konnten. Manche wurden auch Opfer von Bombenangriffen der Alliierten (sowjetische Kriegsgefangene durften die Luftschutzbunker nicht benutzen) und viele auch auf Veranlassung des Reichssicherheitshauptamtes in Konzentrationslager eingeliefert und ermordet. Als Beispiel eines so genannten „normalen Lagers“ sei das Stalag Nr. 304, Zeithain bei Riesa an der Elbe angeführt. Dort waren maximal 30.000 Gefangene untergebracht. Die Verpflegung richtete sich nach der Arbeitsleistung. Der Generalquartiermeister des Heeres Eduard Wagner: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern!“ Morgens gab es Tee oder Kaffee-Ersatz; mittags ½ l Balanda (dünne Suppe aus ungereinigten Rüben) und 2-3 Kartoffeln; abends „Russenbrot“, fünf bis zehn Gefangene mussten sich einen Brotwecken von etwa 1,5 kg teilen. Das Russenbrot bestand zu 50 Prozent aus Roggenschrot, zu 40 Prozent aus Zuckerrübenschnitzel, Maismehl und Zellmehl sowie zu 10 Prozent aus Strohmehl (zerriebenes Stroh, Sägemehl oder zerriebenes Laub). Dazu gab es ein Stück Margarine oder Rübenmarmelade oder kleine Stücke roter Rüben. Essgeschirr und Besteck wurde nicht beigestellt. Dieses musste von den Gefangenen improvisiert hergestellt werden. Es gab zu wenige Latrinen und Entlausungsbäder. Ruhr und Flecktyphus dezimierten die ausgehungerten Gefangenen täglich um bis zu 500 Mann. Für die Gefangenen des Lagers Zeithain wurde ein Lazarett für 500 Kranke eingerichtet, deren Betreuung von serbischen und polnischen Ärzten vorgenommen wurde. Den gefangenen sowjetischen Ärztinnen erlaubte man keine ärztliche Tätigkeit. Ab 1943 verbesserte sich die Situation, es gab Strohsäcke und alte Decken, auch regelmäßiger Wäschewechsel wurde eingeführt.

Sowjet-Soldaten als Kriegsgefangene in Deutschland 1941

Einsatz in der Industrie

Da das System von vorne herein auf Vernichtung ausgelegt war, wurden zu Beginn auch keine genauen Registrierungen vorgenommen. Die Bewachung wurde lückenlos gehandhabt. Schriftliche Kontakte in die Heimat waren nicht möglich. Verbesserungen gab es erst, als man die Gefangenen für den Einsatz in der Industrie und in der Landwirtschaft dringend brauchte. Befohlen wurde der „Russeneinsatz“ durch einen Befehl Hitlers vom 31. Oktober 1941, der als Voraussetzung eine angemessene Ernährung vorsah. In den daraufhin durch die zuständige Planungsbehörde, die Reichsmarschall Hermann Göring unterstand, erlassenen Richtlinien vom 7. November 1941 hieß es:

„Der Russe ist genügsam, daher leicht und ohne schwerwiegenden Einbruch in unsere Ernährungsbilanz zu ernähren. Er soll nicht verwöhnt oder an deutsche Kost gewöhnt, muss aber gesättigt und in seiner dem Einsatz entsprechenden Leistungsfähigkeit erhalten werden.“

Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag 1943

Es war geplant, die sowjetischen Gefangenen nur mit möglichst geringwertigen Lebensmitteln zu verpflegen. Seitens der Behörde wurde einmal bedauert, dass beispielsweise keine minderwertigen Fette mehr zur Verfügung standen und daher an die Gefangenen gute Speisefette ausgegeben werden mussten. Im Verlaufe der Jahre 1942 und 1943 kam es zur Anhebung der Rationen. Aber erst 1944 ordnete das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Interesse der Erhaltung und Steigerung der Arbeitsfähigkeit die Gleichstellung der Versorgung sowjetischer Gefangener mit jener der anderen Nationalitäten an. Dies hat sich jedoch aufgrund der allgemein schlechter gewordenen Ernährungslage nicht mehr nennenswert ausgewirkt. Jene Gefangenen, welche die fürchterlichen Leidensjahre überlebt hatten, wurden wohl spätestens 1945 befreit, waren aber damit noch nicht im Besitz der Freiheit. Für viele von ihnen setzte sich die Tragödie fort. Nach der sowjetischen Militärdoktrin durfte sich ein Soldat nicht ergeben. Er musste notfalls bis zum Tod kämpfen. Die befreiten Gefangenen wurden daher als Feiglinge und Verräter am Vaterland betrachtet und in der Heimat in Überprüfungslager eingeliefert und häufig zu Zwangsarbeit (10 bis 25 Jahre) verurteilt.

Abschließend sei noch hinzugefügt, dass die körperliche Konstitution der Soldaten beider Seiten, vor allem aber der deutschen Soldaten, zum Zeitpunkt der Gefangennahme mit zunehmender Kriegsdauer immer schlechter wurde. Andererseits war die Dauer der Kriegsgefangenschaft für die Soldaten der Roten Armee im Durchschnitt kürzer.

Zusammenfassung

Die zum Teil gemeinsamen Forschungen von deutschen, österreichischen und russischen Historikern zeigen: 1) Zu den furchtbaren Leiden der Gefangenen beider Seiten hat einerseits die Rassenideologie der Nationalsozialisten und andererseits der harte Vergeltungswille der überfallenen Sowjetunion in Verbindung mit der Suspendierung völkerrechtlicher Bindungen der Kriegsgegner geführt. 2) Nicht Sklavenarbeit, nicht Stacheldraht, nicht Kälte waren die beherrschenden Qualen in der Gefangenschaft, sondern der Hunger! 3) Die Überlebenschancen (gemessen am Maßstab der Sterblichkeitsquoten) waren für die gefangenen Soldaten der Roten Armee wesentlich schlechter, als für die deutschen Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft. 4) Im Gegensatz zu den Erzählungen über den Krieg, wird bei den Berichten über die Gefangenschaft auch das „ Ich“ des Erzählers stärker involviert. Die Kriegsgefangenschaft erscheint vielen von ihnen weit entfernt oder gar losgelöst vom Nationalsozialismus und einer eventuellen eigenen Schuldverstrickung. Sie bietet die Möglichkeit, die „Opferrolle“ in den Vordergrund zu stellen und fordert daher von ihnen auch keine besondere Rechtfertigung.

Schlusswort

Die mehr als 100 Kriege, die seit 1945 auf der ganzen Welt geführt wurden, demonstrieren in erschreckender Weise, dass ernsthafte Lehren aus der Erfahrung des größten aller bisherigen Kriege nicht gezogen wurden. Wenn rechtliche und sittliche Normen missachtet werden, die Gewalt das oft mühsame Geschäft des politischen Verhandelns ablöst, gibt es wieder Krieg und damit auch Kriegsgefangene. Diese müssen dann ebenso, wie jene in den Lagern des Zweiten Weltkrieges, die Sünden der politischen (Ver-)Führer in zweifacher Weise büßen: Als Soldaten und als gepeinigte „Sklaven“ in den Lagern der Gegner. Es fällt nach der Lektüre der genannten Literatur schwer, die Gedanken von den düsteren Schatten dieser grausamen Zeit zu befreien. Die Abhandlung hat mit einer Frage an die Geschichte (Vergangenheit) begonnen. Zwangsläufig drängt sich nun eine Frage an die Zukunft auf, die entweder in Form mehrerer möglicher Szenarien, oder überhaupt nur mit einer Spekulation beantwortet werden kann: Darf man optimistisch sein, dass die Zukunft besser wird, dass es weniger Kriege, weniger Leid und weniger geschundene Kriegsgefangene geben wird?

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Quellen: Overmans, Rüdiger: Kriegsgefangenschaft in der Geschichte in: Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg, Eine vergleichende Perspektive, hrsg. v. Bischof, Günter/ Overmans, Rüdiger, Ternitz 1999. – Benz, Wolfgang: Leben hinter Stacheldraht. In: Deutsche Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. Benz, Wolfgang/ Schardt, Angelika, Frankfurt am Main 1995. – Müller, Rolf-Dieter: Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener durch das Deutsche Reich 1941-1945 in Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive, hrsg. v. Bischof, Günter/ Overmans, Rüdiger, Ternitz 1999. – Streit, Christian: Sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand. Ein Forschungsüberblick in Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941- 1956, hrsg. v. Müller Klaus Dieter u. a., Köln, Weimar 1998. – Poljan, Pavel: Die Repatriierung der Sowjetbürger in die UdSSR in Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive, hrsg. v. Bischof, Günter/Overmans, Rüdiger, Ternitz 1999. – Durand, Yves: Das Schicksal der französischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam ( 1939-1945) in ebd. – Karner, Stefan: Verlorene Jahre. Deutsche Kriegsgefangene und Internierte im Archipel GUPI in Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland. Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, hrsg. v. Haus der Deutschen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1995. – Gorbunow, Igor: Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Unterbringung und medizinische Versorgung. In Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion, hrsg. v. Müller, Klaus Dieter / Nikischkin, Konstantin u. a., Köln, Weimar 1998. – Böhm, Henry/Überschär, Gerd R.: Aktenüberlieferung zu sowjetischen Kriegsgefangenen im Bundesarchiv-Militärarchiv in Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion, hrsg. v. Müller, Klaus-Dieter/ Nikischkin, Konstantin u. a., Köln, Weimar 1998. – Osterloh, Jörg: Sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand. Die Lebensbedingungen in den Lagern am Beispiel Zeithain in Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion, hrsg. v. Müller, Klaus-Dietero/ Nikischkin, Konstantin u. a., Köln, Weimar 1998. – Hornung, Ela: Trümmermänner. Zum Schweigen österreichischer Soldaten der Deutschen Wehrmacht in Inventur 45/55, hrsg. v. Kos, Wolfgang/Rigele, Georg. Wien 1996.

 

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