Von Wolf Stegemann
Ludwig Heming hatte eine bei der Bevölkerung hoch angesehene Position inne. Als die Nationalsozialisten im Jahre 1933 in Dorsten die Ämter im Rathaus und im gesamten öffentlichen Leben besetzten, war Ludwig Heming bereits 20 Jahre lang Pfarrer in Dorsten. Mit Sicherheit verdankt er diesem Umstand sein letztlich ungefährdetes Wirken in der Pfarrgemeinde, wenn seine Arbeit auch im hohen Maße durch die staatlich verordnete und parteigelenkte Kirchenfeindlichkeit mehr und mehr an Boden verlor. Aus dem einst so »hemdsärmeligen« Pastor, der kein Blatt vor den Mund nahm, aus dem polternden, manchmal recht unwirschen Gottesstreiter wurde durch Enttäuschung, politischen Druck und Drohung bald ein immer stillerer Mann, der sogar ab 1935 seine Agatha-Chronik nicht mehr weiterführte, die er über 20 Jahre lang mit nahezu verbissener Vehemenz und Detailfreude geschrieben hatte. Heming konnte sich auf Dauer gegenüber den NS-Behörden, von denen er nach anfänglichem Hoffen enttäuscht war, nicht behaupten. Er gab immer öfter nach, um zu bewahren, was noch zu bewahren war: seine Fürsorge für die Kirche und seine immer kleiner werdende Gemeinde.
Offener Druck der Dorstener Nationalsozialisten auf die Kirche
Die NSDAP-Ortsgruppe Dorsten übte nach der Machtübernahme offenen Druck auf die Kirche aus. Dabei gingen die neuen lokalen Machthaber, ihnen voran der neue Beigeordnete Fritz Köster, vordem Ortsgruppenleiter in Dorsten, mit einer brutalen und unmissverständlich drohenden Haltung gegen ihre Widersacher vor, die bezeichnend ist für die Arroganz der Braunhemden in Rathäusern und Parteibüros.
So machte auch Pfarrer Ludwig Heming wenige Wochen nach der Machtergreifung seine eigenen und ersten Erfahrungen mit der rücksichtslosen Machtanwendung der neuen Herren.
Haus sollte der NS-FRauenschaft als Heim dienen
Im Besitz der Agatha-Pfarrgemeinde war (und ist heute noch) das Haus Kirchhellener Allee Nr. 10 (heute Alleestraße 10). Fräulein Henriette Riese vermachte am 29. Juli 1923 das Gebäude testamentarisch der Kirche. Daher heißt das Haus auch heute noch »Riese-Haus«. Auf dieses eingeschossige Gebäude hatte es 1933 die Leiterin der NS-Frauenschaft, Köster, abgesehen. Sie wollte es als ein Heim für ihren Verband. Da ihr Mann Fritz Köster Beigeordneter und stellvertretender Kreisleiter der NSDAP war, machte sie ihn auf das Haus aufmerksam. Köster, damals mächtigster Mann in Dorsten, besuchte daraufhin am Samstag, dem 11. Juni, um 13.30 Uhr Pfarrer Heming und kündigte an, dass er das Haus Kirchhellener Straße Nr. 10 für die NS-Frauenschaft anmieten wolle. Heming versprach, am folgenden Dienstag deshalb einen Ausschuss zu bilden und am darauf folgenden Freitag den Kirchenvorstand einzuberufen. Denn der Pfarrer allein, so erklärte er es dem ungeduldigen Köster, könne darüber nicht entscheiden. Zugleich erbat Heming von Köster ein schriftliches Ersuchen um Überlassung des Hauses unter Angabe des Zwecks.
Beschlagnahme des Hauses für die Partei angekündigt und exekutiert
Am Dienstag, dem 14. Juni 1933, konnte aber der vorbereitende Ausschuss nicht zusammenkommen, weil verschiedene Vorarbeiten zur Sitzung noch nicht fertig gestellt waren. Am gleichen Tage schrieb Fritz Köster an Pfarrer Heming einen Brief:
»Nachdem Sie letzthin die Zusicherung gemacht hatten, die zu bildende Kommission am Dienstag, den Kirchenvorstand am Freitag zwecks Genehmigung des Ihnen von mir überreichten Vertrages einzuberufen, und nachdem mir neuerdings von glaubwürdiger Stelle zu Ohren gekommen ist, dass diese Einberufung auf drei Tage hinausgeschoben ist, sehe ich in Ihrem Verhalten ein unnötiges Hinausschieben der ganzen Sache. Aus diesem Grunde spreche ich hiermit die Beschlagnahme des in Frage stehenden Grundstückes aus. Freitagmorgen wird die NS-Frauenschaft Dorsten von dem Gebäude Besitz ergreifen. Gez. Köster, stellvertretender Kreisleiter«
Der Pfarrer reagierte umgehend am 15. Juni 1933:
»Auf Ihr Schreiben vom 14. ds. Mts. erwidere ich folgendes: Die Sache ist nicht von mir unnötig hinausgeschoben worden. Ich habe von vornherein darauf aufmerksam gemacht, dass der gesamte Kirchenvorstand darüber entscheiden müsse und dass die Kommission nur eine vorbereitende Arbeit leisten könne. Die Beratungen konnten nun bislang nicht aufgenommen werden, weil der Haushaltungsplan, der den Hauptgegenstand der Sitzung bildet, trotz meines Drängens noch nicht fertig gestellt werden konnte. Die endgültige Sitzung ist für Montag vorgesehen. Ich bitte Sie, mir die gesetzliche Bestimmung angeben zu wollen, worauf Sie Ihre Beschlagnahme stützen. Ein Grund zu einer Beschlagnahme liegt nicht vor. Ich erhebe deswegen dagegen Einspruch. Gez. Pfarrer Heming«
Die Antwort des Kreisleiters ließ nicht auf sich warten. Er schrieb am 16. Juni 1933:
»Nach eingehender Prüfung der von Ihnen geltend gemachten Gegengründe habe ich die Überzeugung erlangt, dass Ihr Verhalten ausgesprochen wirtschafts- und staatsfeindlich ist. Der von Ihnen geplante anderweitige Verwendungszweck des oben bezeichneten Grundstückes dient nicht dem allgemeinen Wohl. Mit Rücksicht darauf sehe ich mich angesichts Ihres hartnäckigen Verhaltens gezwungen, von meinen polizeilichen Befugnissen im Interesse des Staates und gestützt auf § 74 der Anleitung zum Allgemeinen Landrecht Gebrauch zu machen und hiermit die Beschlagnahme des oben bezeichneten Grundstückes anzuordnen. Soweit eine Beschlagnahme bisher durch mich in meiner Eigenschaft als Kreisleiter erfolgt ist, wird diese hiermit aufgehoben. Gez. Köster Beigeordneter«
Köster merkte also selbst, dass er als Parteiführer keine Beschlagnahme rechtswirksam durchführen konnte. Deshalb stellte er jetzt seine Funktion als Beigeordneter heraus. Pfarrer Heming schrieb am darauf folgenden Tag in seine Chronik:
»Am 17. Juni ging ich morgens zum Annastift und dann zur Agathaschule. Überallhin folgten mir Dr. Schmitz, Bürgermeisteranwärter, und ein SS-Mann. Man rief mich aus dem Klassenzimmer heraus und verlangte den Schlüssel vom Hause Riese. Ich weigerte mich entschieden. Nachmittags gegen 13.30 Uhr kam ein Polizeibeamter und forderte nochmals den Schlüssel. Ich besprach nun die Angelegenheit mit einem Kirchenvorstandsmitglied und befolgte dessen Rat, den Schlüssel nur unter der Bedingung abzugeben, dass im Hause Riese keine baulichen Arbeiten in Angriff genommen werden sollten, bevor der Kirchenvorstand entschieden habe. Am Abend dieses Tages tagte dann der vorbereitende Ausschuss, der beschloss, dem Kirchenvorstand vorzuschlagen, die Überlassung des Hauses Riese zu genehmigen. Dieser Beschluss wurde dem Herrn Köster mitgeteilt und zugleich ihm die Erlaubnis erteilt, mit den Reinigungsarbeiten zu beginnen.«
Einweihung als NS-Frauenschaftsheim ohne Pfarrer Heming
Am Montag genehmigte der einberufene Kirchenvorstand den Mietvertrag. Schon am 3. Juli 1933 weihte die NSDAP das neue, von der Kirche gemietete Haus Riese in der Kirchhellener Allee ein. Heming schreibt dazu:
»Das Haus, das sehr verwahrlost war, ist gründlich renoviert und in ein gemütliches Heim umgewandelt worden. Es soll dem weiblichen Arbeitslager der NS-Frauenschaft als Heim dienen.«
Zur festlichen Einweihungsfeier des Riese-Hauses als NS-Frauenschaftsheim kamen hochgestellte NS-Gäste, darunter der Reichsstatthalter und Gauleiter Dr. Meyer, Regierungspräsident Matthaei und die Gauleiterin der NS-Frauenschaft, Polster. Pfarrer Heming sagte ab, aber: »Die Kapläne haben an der Feier teilgenommen.«