Von Wolf Stegemann
Über die Geschichte der Dorstener Neuapostolischen Kirche zwischen 1933 und 1945 gibt es bislang keine Erkenntnisse (Stand 2013). Die Haltung dieser Glaubensgemeinschaft im Nationalsozialismus ist von der Kirchenleitung nie kritisch reflektiert, sondern stets geschönt worden. 1911 erhielt Karl Lindner vom Stammapostel den Auftrag, in Dorsten eine Gemeinde zu gründen. Die 43 Mitglieder trafen sich in ihrem Gottesdienstraum an der damaligen Grenzstraße (heute Clemens-August-Straße), der einmal ein Stall gewesen war. 1927 zog die Gemeinde nach Hervest. Im Oktober 2011 feierte sie unter Leitung des Gemeindevorstehers in Dorsten ihr 100-jähriges Bestehen.
Heute ist zentraler Ort der in Dorsten zusammengefassten Gemeinden seit 2011 die Kirche und das 1968 an der Zeppelinstraße in Holsterhausen errichtete Gemeindehaus, das zu diesem Zweck für 500.000 Euro umgebaut und erweitert wurde. Geleitet wird die Dorstener Gemeinde ausschließlich von Ehrenamtlichen. 14 Diakone, acht Priester, ein Evangelist und ein Hirte. Dorsten ist nun die größte Neuapostolische Gemeinde im Dinslakener Bezirk. In Dorsten gibt es auch einen Gemeindechor, der aus 60 bis 70 Sängerinnen und Sängern besteht.
Warten auf die Wiederkehr Jesus
Keimzelle der Neuapostolischen Kirche war die „Allgemeine christliche apostolische Mission“, eine 1863 von den katholisch-apostolischen Gemeinden abgespaltene Gemeinschaft, aus der sich ab 1878 die Neuapostolische Kirche entwickelte. Sie sieht das in der urchristlichen Kirche noch vorhandene Apostelamt in ihrer Kirche wiederaufgerichtet. Zu ihren wichtigen Glaubensanschauungen gehört die Erwartung der Wiederkunft Christi in naher Zukunft.
Der Stammapostel diente sich dem Nationalsozialismus an
Wie viele andere kleine Organisationen und Vereine ging auch die Neuapostolische Kirche mit dem nationalsozialistischen Regime Kompromisse ein, auch wenn die christlichen Grundsätze der neuapostolischen Kirche dem Weltbild des Nationalsozialismus grundlegend widersprachen. Während den Zeugen Jehovas mit ihrer Glaubensstärke dem menschenverachtenden Regime widerstanden haben und für ihr Seelenheil Verfolgung, Gefängnis, Konzentrationslager und Tod in Kauf nehmen mussten, passten sich die Neuapostolischen dem NS-Regime nicht nur an, sondern vertraten öffentlich auch deren Positionen. In welchem Umfang nationalsozialistische Ansichten verbreitet und die Einstellung angepasst wurde, und ob dies aus Angst vor Repressalien oder aus eigenem Antrieb geschah, ist bis heute Streitpunkt zwischen Mitgliedern und Kritikern der Neuapostolischen Kirche.
Im Jahre 1933 wurden alle neuapostolischen Gemeinden kurzfristig verboten. Der damalige zum Stammapostel berufene Johann Gottfried Bischoff, der in die NSDAP eingetreten war, versuchte, gute Beziehungen zum nationalsozialistischen Regime aufzubauen, um die Aufhebung der Verbote zu erwirken. Am „Tag von Potsdam“ predigte Bischoff, dass jetzt der von Gott gesandte Führer gekommen sei. Den Text der Ansprache ließ er in die Reichskanzlei schicken. In einem Rundschreiben an die neuapostolischen Amtsträger vom 25. April 1933 erklärte Bischoff, dass es bei Eintrittsgesuchen von Mitgliedern gut sein werde, „die Personalien solcher Personen der zuständigen Ortsgruppe der NSDAP zur Nachprüfung vorzulegen“ und ihre Aufnahme erst nach dem Vorliegen einer Unbedenklichkeitsbescheinigung der NSDAP zu vollziehen. Im Titel der kircheneigenen Zeitschrift „Wächterstimme aus Zion“ wurde Anfang 1934 das hebräische Wort „Zion“ gestrichen. In der kircheneigenen Zeitschrift wurden 1940 anlässlich eines Reiseberichtes von Bischoff Sätze gedruckt wie:
„Schwarze und Juden steigen auf der sozialen Leiter immer höher, sie verdrängen mit ihrer billigen Arbeitskraft den besser bezahlten Weißen auch aus Stellungen, die dem Weißen allein zustehen sollten … Das farbige Element ist zum Angriff übergegangen … Mit Berechtigung haben wir alles das, was dem Volke im Kino, Theater und Literatur als das Produkt einer jüdisch-marxistischen Clique geboten wurde, abgelehnt.“ Und später im selben Jahr hieß es: „Wohl hat sich der Weiße noch eine bestimmte Vorherrschaft erhalten können, sie ist aber stark ins Wanken geraten, und sie wird noch immer mehr ins Wanken kommen, je mehr der Jude Einfluss gewinnt, denn es ist sein Ziel, die Völker zu zersplittern, sie niederzuhalten und sie auszubeuten.“
1941 verkündete „Unsere Familie“:
„Deutschland wird kämpfen bis zum totalen Siege, das heißt, bis zur Befreiung Europas und der Welt von bolschewistischen Mördern, von der britischen Plutokratie und von Juden und Freimaurern.“
Jeder Gottesdienst sollte – laut Amtsauflage – in jener Zeit mit einem „Heil Hitler“ enden. Es haben sich nicht alle Gemeindevorsteher (gerade in ländlichen Gebieten) diesen kircheninternen Vorschriften gebeugt. Im Laufe der Zeit wurden immer wieder einzelne Gemeinden geschlossen. Nach Schilderung der Neuapostolischen Kirche sei es unter größten Schwierigkeiten gelungen, einen Teil der Verbote rückgängig zu machen.
Diese Haltung wurde unter anderem 1996 vom damaligen Stammapostel Fehr erläutert und 2003 vom Sprecher der Öffentlichkeitsarbeit Peter Johanning bei einem Vortrag weiter ausgeführt. Johanning gab einen Artikel aus dem „Jugendfreund“ vom Juli 1933 wieder, worin schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers zur „Untertanentreue“ aufgerufen wurde. „Man mag das heute als naiv empfinden, die Zeit damals brachte andere Schlussfolgerungen zu Tage.“ In jener Zeit seien die neuapostolischen Amtsträger in den „Richtlinien“ von 1933 zur politischen Enthaltung aufgerufen worden. „Dieses Bekenntnis zur unpolitischen Arbeit der Kirche“ habe „unmissverständlich“ signalisiert, „sich jeglicher politischer Stellungnahme zu enthalten, auch wenn die Realität hier und da anders ausgesehen“ habe. Im Weiteren gab der Pressesprecher dann die Ausführungen Stammapostel Richard Fehrs von 1996 zu diesem Thema wieder, wonach die Anpassung der Kirchenleitung zu dem Zweck geschehen sei, um „der Verkündigung des Evangeliums weiter nachkommen zu können.“
Nachkriegszeit war die „Botschaftszeit“
Zu Weihnachten 1951 verkündete Stammapostel Johann Gottfried Bischoff, belastet durch seine Kooperation mit dem Nationalsozialismus, in einem Gottesdienst in Gießen, dass Jesus Christus zu seinen Lebzeiten wiederkommen werde. Diese Verkündigung ist innerkirchlich unter dem Begriff „Botschaft“ bekannt geworden. Der Stammapostel führte sie später auf eine unmittelbare, persönliche Offenbarung zurück. Die Neuapostolische Kirche erlebte dadurch eine tiefe Krise, aus der mehrere neue Gruppierungen hervorgingen. Bischoffs Aussage wurde zum neuapostolischen „status confessionis“. Als der Stammapostel 1960 starb und von ihm angekündigte Wiederkunft Jesu nicht eingetreten war, wurde seitens des Apostelkollegiums geäußert, Gott habe „seinen (durch Stammapostel Bischoff geäußerten) Willen geändert“. Bis heute hat sich die Neuapostolische Kirche von dieser Auffassung nicht distanziert, stellt es aber ihren Mitgliedern frei, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Nur noch 5 Prozent aller weltweiten Mitglieder sind heute noch Europäer. Der weitaus größte Teil der neuapostolischen Christen lebt in Afrika.
Die Neuapostolische Gemeinde in Dorsten ist über 100 Jahr alt. Und welche Welterschütternde Krise hat sie richtig angepackt? NS-zeit, DDR, die Botschaft? Keiner. Mann konnte denken, dass Gott in diese Kirche nicht anwesend ist.