Von Wolf Stegemann
Ein bis heute heikles Kapitel der alliierten Nachkriegsgeschichte in Deutschland ist die Einrichtung der Internierungslager für Deutsche, die den Siegern als gefährliche und unverbesserliche Nazis erschienen waren. Für den Bereich Dorsten zuständig war das Camp IV in Recklinghausen, wo über 8.000 Menschen inhaftiert waren. Gesetzliche Grundlage für diesen »fast automatischen Arrest«, der oft jahrelang andauerte, war die »Kontrollrats-Direktive Nr. 38«. Sie zielte auf die Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen sowie die Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen. Vielfach ohne Prüfung des Einzelfalles und nur auf Verdacht hin inhaftierten die Besatzer je nach Temperament mitunter wahllos kleine und große Parteibonzen und Beamte, Mitläufer und Aktive, Schuldige und Unschuldige, aber auch solche, deren Uniform irgendein Offizier zufällig nicht kannte.
Postschaffner neben Ministerialbeamten und Zeitungsboten
So fanden sich in den Internierungslagern neben hohen Parteiführern, parteilosen Fabrikanten, Ministerialbeamten und Kulturschaffenden der NS-Zeit auch harmlose Feuerwehrleute ebenso ein wie Sanitäter, Post- und Bahnbeamte, kleine Ortsbauernführer und Dorfbürgermeister sowie Frauen, die den »Völkischen Beobachter« ausgetragen hatten.
Dazu kamen die mittleren und größeren Nazis, die auf den schwarzen Listen standen, die von den Alliierten schon während des Krieges angefertigt worden waren. Allein bei den Amerikanern waren rund 50.000 mit besonderen Aufgaben betraute Nationalsozialisten, 15.000 Mitglieder der Gestapo, 15.000 Mitglieder der motorisierten Polizei, 40 Regierungsmitglieder und alle Parteibeamten und Bürgermeister für die Internierung und Bestrafung vorgemerkt. Doch abgesehen davon, dass viele der Gesuchten untergetaucht und schwer zu fassen waren, wurden längst nicht alle verhaftet, die man hätte verhaften können. Besonders die Engländer, die schon nach wenigen Wochen die amerikanischen Kampftruppen als Militärverwalter ablösten, handhabten Verhaftungsaktionen lax: Wo einzelne Besatzungsoffiziere der Ansicht waren, auf Fachleute und Spezialisten in Verwaltung und Wirtschaft nicht verzichten zu können, ließen sie die Belasteten in Amt und Position. Den Überlegungen der Briten lagen nicht moralische Erwägungen zugrunde, wie vordergründig bei den Amerikanern, vielmehr pragmatische. Diese Einstellung machte sich auch in der gesamten Entnazifizierungspraxis in der englischen Besatzungszone, zu der Nordrhein-Westfalen gehörte, bemerkbar.
Ehemaliges Lager für russische Kriegsgefangene
Das Internierungslager Camp IV Recklinghausen befand sich im heutigen Wiener Viertel des Stadtteils Hillerheide. Es wurde von den Amerikanern eingerichtet. Kurz darauf übernahmen die Engländer das Camp. Dieses ehemalige Lager für russische Kriegsgefangene war im Süden abgegrenzt von der Autobahn Oberhausen-Hannover, im Westen von der Eisenbahn Wanne-Eickel-Haltern, im Norden durch die beiden Friedhöfe der katholischen Kirchengemeinde Hillerheide, im Osten durch den Vorfluter des Hellbachs. Der Recklinghäuser Stadtarchivar Dr. Burghardt erinnert sich an Ausführungen des ersten Nachkriegsbürgermeisters von Recklinghausen, Wilhelm Bitter:
»Kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner sei ein Kommando ins Rathaus gekommen und habe Stacheldraht, Pfähle und Absperrmaterial verlangt. Es sei geheimnisvoll zugegangen. Arbeiter wurden requiriert, und bald habe die Stadtverwaltung herausbekommen, dass die Amerikaner in der Hillerheide ein Aufnahmelager einrichteten. Selbst die amerikanische Stadtkommandantur sei von Einzelheiten dieser Maßnahme des US-CIC (Counter Intelligence Corps) nicht unterrichtet gewesen.«
Die ersten Inhaftierten kamen im April 1945 in das Camp, über dessen Führung und Belegung es kein Aktenmaterial gibt. Die englischen Militärbehörden haben es nach der Freigabe des Camps im Jahre 1948 mitgenommen.
Etliche Dorstener Nazis in Recklinghausen interniert
In dieses Lager, in dessen Mitte sich das Sägewerk Voßwinkel befand, wurden etliche Dorstener eingewiesen. Auch hier eine breite Palette: Dabei waren beispielsweise der Parteikassierer der Altendorfer NSDAP, Felix Breil, der Verwaltungsoberinspektor beim Amt Hervest-Dorsten, Dr. Hermann Jobst (entlassen im Februar 1947), SS-Unterscharführer Hermann Mergen aus Wulfen, SS-Mann Friedrich Meißner aus Dorsten (interniert von 1945 bis 1947), der NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Schämann und sein Wulfener Amtskollege Wolthaus. Der Lembecker Ortsgruppenleiter Schenuit war in Augsburg interniert. Über zwei Jahre war auch der damals 48-jährige und 1974 verstorbene Altendorf-Ulfkotter NS-Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Wilhelm Schulte-Hemming im Lager Hillerheide. Nach Auskunft seines Bruders und seiner Söhne hatte Schulte-Hemming schon vor dem Einmarsch der Amerikaner seine Partei-Uniform ausgezogen und sich in zivil Richtung Oldenburg abgesetzt, wo seine Schwester wohnte.
Über 8.000 Menschen interniert – Anführer und Mitläufer
Nachdem in Dorsten die Kämpfe vorbei waren, kam der von den Engländern bereits gesuchte Schulte-Hemming zurück, wurde verhaftet und in das Internierungslager Recklinghausen verbracht. Dort saß auch Marls oberster Hitlerjugendführer ein, HJ-Standortführer Norbert Custodis, ein Schwager von Schulte-Hemming, damals gerade 24 Jahre alt. Er erinnert sich: »Die 8.000 Menschen lebten dort in verschiedenen, mit Stacheldraht unterteilten Bereichen des Lagers.« Jugendliche und Frauen (etwa 200) hatten ihren eigenen Bereich. Wenige Baracken standen auf Betonfundamenten, meist waren es einfache Wellblechbehausungen, so genannte Nissenhütten, in denen jeweils 30 Personen untergebracht waren. Der frühere HJ-Standortführer: »Wir nannten diese Personen „Nissen-Einheiten“; Schränke und Tische fehlten gänzlich.« Einige dieser Nissenhütten stehen noch heute dort. Die Einrichtung war spartanisch. Teilweise schlief man auf Stroh. Die Gefangenen waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen: Untergebracht waren aktive Nationalsozialisten wie der Ministerpräsident von Braunschweig, Klagges, Görings Adjutant Gritzbach, der Landrat von Recklinghausen, Dr. Hans Reschke, der Kriegsrüster Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, Hitlers Duz-Freund Putzi von Hanfstaengel ebenso wie führende Mitglieder der NSDAP, NS-Frauenschaft, des BDM und der Hitler-Jugend, der SS und SA, der Polizei, Gestapo und des Sicherheitsdienstes, führende Personen aus Industrie und Handel.
»Unter den Gefangenen waren auch der damals 60-jährige Recklinghäuser Polizeioberst Weiberg ebenso wie eine 17-jährige Schülerin, Pfarrer beider Konfessionen sowie die Direktoren der Salzgitterwerke und der Werke Marl-Hüls«, erinnert sich Norbert Custodis. »Fast automatisch kamen auch viele in das Camp, die einen Titel hatten, der mit -rat endete.« So waren im Internierungslager auch Pädagogen, Studienräte, die in der NS-Zeit ihre Anstellung erhalten hatten. Auch völlig Unschuldige, die aufgrund von Namensgleichheit verwechselt oder denunziert wurden, waren nicht selten anzutreffen. Beschwerdemöglichkeiten gab es nicht. Es gab ja auch keine Prozesse. Ex-HJ-Führer Norbert Custodis:
»Die Behandlung war fair. Wir wurden weder geschlagen noch schikaniert. Angst hatten wir allerdings vor deutschen Bewachern, die einem Gerücht zufolge eingesetzt werden sollten. Es blieb nur ein Gerücht.«
Es wurde „gehanfstaengelt“, wer Glück hatte, konnte arbeiten
Die Gefangenen verbrachten die Zeit mit selbstgebastelten Spielen, mit Spazierengehen innerhalb der Teillager oder mit Gesprächsrunden. Hier war der Schriftsteller Hanfstaengel geistig führend. »Es wird gehanfstaengelt« war bald ein fester Begriff im Lager. Wer Glück hatte, konnte in der Schlosserei, Schmiede, Schreinerei, im Sägewerk oder in der Küche arbeiten. Später gab es auch Außenkommandos, die in Recklinghausen Schutt räumen mussten. Die hygienischen Verhältnisse im Lager waren katastrophal. Es gab eine Lazarettbaracke, aber keine Medikamente. Krätze und Darmkrankheiten herrschten vor. Es gab wenig zu essen. Rund 2.000 Menschen teilten sich einen Duschraum, in dem schichtweise jeweils 50 Personen duschen konnten. Am 7. Juli 1945 wurden der größte Teil der Frauen und Kinder sowie einige der Männer in das Internierungslager nach Staumühle gebracht; am 10. Dezember transportierte man den Rest der in Recklinghausen verbliebenen Frauen nach Staumühle, weil das feuchte Recklinghäuser Camp die Krankheitsrate zu sehr erhöht hatte.
Unter Bewachung Schutt räumen
Die meisten Insassen wurden im Frühjahr und im heißen Sommer 1945 verhaftet, hatten also keine Winterkleidung. Kontakte mit der Außenwelt bestanden vorerst nicht. Später durften die Gefangenen beschränkt schreiben und Post empfangen. Der Altendorfer Landwirt Schulte-Hemming meldete sich bald für ein Außenkommando. Von englischen Soldaten, aber auch von polnischen, jugoslawischen oder holländischen Aufsehern bewacht, musste er in der Stadt Recklinghausen Schutt räumen. Hier hatte seine Familie endlich Gelegenheit, mit dem im Camp Verschwundenen heimlich Kontakt aufzunehmen. Die Hilfsaufseher und auch britische Unteroffiziere wurden mit Wurst und Speck bestochen. So konnten in einer Ruine nahe dem Bahnhof Pakete und Briefe hinterlegt werden. Auch Schulte-Hemming unterhielt so Kontakt mit seiner Frau und seinen Kindern aufrecht. Später konnte er sogar mit einem Arbeitskommando stundenweise nach Hause fahren. Die Bewacher waren bestechlich. Wurst, Fleisch, Eier und selbstgebrannter Schnaps waren damals begehrte Waren. Mehrmals hielt sich Schulte-Hemming auf seinem Hof in Altendorf-Ulfkotte auf.
Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ aufgeführt
Gegen Ende 1946 wurde der größte Teil der Zivilinternierten entlassen. Als die »Nürnberger Prozesse« im November 1946 anfingen, wurden die Urteilsverkündungen mit Lautsprechern im Lager übertragen. Die Gefangenen konnten auch Theaterstücke (Norbert Custodis: »Der Widerspenstigen Zähmung«) aufführen; später durften sich die Gefangenen eine kleine Kapelle bauen. Der Pfarrer kam ins Lager. Den Altar spendete der ebenfalls inhaftiert gewesene Möbelhändler Bärtel.
Der Altendorfer Landwirt Schulte-Hemming wurde erst im Laufe des Jahres 1947 entlassen. Über seine Zeit der Inhaftierung hat er nie viel gesprochen, wie über seine zwölfjährige NS-Vergangenheit auch nicht. Sein Sohn Hermann Schulte-Hemming: »Wären es nicht die Nazis gewesen, die von 1933 bis 1945 regiert haben, mein Vater wäre auch bei jeder anderen Partei Bürgermeister und Inhaber vieler Ämter gewesen.« Posten und Pöstchen zu bekleiden, lag den Schulte-Hemmings seit jeher. Auch nach der Entlassung aus der Internierung, nachdem man nach anfänglicher Distanz zwischen Altendorfern und ihrem Ex-Bürgermeister und Ortsgruppenleiter, Ortsbauernführer und Kirchenvorstandsmitglied wieder zusammengerückt war, bekleidete Wilhelm Schulte-Hemming Ehrenämter, für die er auch in bundesrepublikanischer Zeit Medaillen und Urkunden für treue Dienste bekam.
Ich arbeite an einem Projekt über Juden in Rhs.-Süd in der NS-Zeit. Mein Onkel war auch dort interniert. Gibt es noch Listen der Britsh Army über die Internierten?
Ich bin dort in den 1970er Jahren an der heutigen Tiroler Str. Ecke Kärtener Str. groß worden und ich erinnere mich noch an einige Überbleibsel wie z.B. Nissenhütten, die Obdachlosen teilwese als Unterkunft dienten und wo drin wir teilwese spielten. Habe erst viel später erfahren, dass dort Internierungslager waren…meine Elternhaus wurde um 1950 herum gebaut, es war eines der ersten Häuse im „Wiener Viertel“, mein Onkel war städt. Beamter und bekam das Grundstück quasi geschenkt.
Bemerkenswert, welch bekannte Persönlichkeiten dort untergebracht waren…
Hallo Herr Stegmann,
sehr interessant! Haben Sie auf Literatur zurückgreifen können? Mir ist ein Autor namens Adolf Vogt aufgefallen. Haben Sie da Kontakt?
Ja, hatte ich!
Dort, 45 km von seiner Familie entfernt, hat sich mein Opa im Dezember 1945 das Leben genommen.
Wie stand es denn mit den Zwangsarbeitern, die in der Industrie, vor allen Dingen bei Kohle und Stahl unterkamen. Wie stand es denn mit den Zwangsarbeitern, die in der Industrie, vor allen Dingen bei Kohle und Stahl unterkamen.
Lesen Sie bitte dort nach!
Wie stand es denn mit den Zwangsarbeitern, die während und nach dem Krieg in der Industrie, vor allen Dingen bei Kohle und Stahl unterkamen?