Einübung in Demokratie – Im September 1946 gab es die ersten freien Wahlen

Von Wolf Stegemann

Schon im September lockerte die britische Militärregierung ihre restriktive Haltung gegenüber den Parteien und leitete durch ver­schiedene Direktiven den Aufbau des politischen Lebens zunächst auf der lokalen Ebene ein. Denn den Briten war klar, dass sie die Kommunalbürokratie, die Parteien, Aktionskomitees und sonstige gesellschaftli­che Gruppen nicht länger von demokrati­scher Mitsprache und Mitbestimmung aus­schließen konnten. Ihre bislang praktizierte Form der exekutiven Herrschaft konnte des­halb nur eine Übergangslösung sein und musste von einer gründlichen Reform der Kommunalverfassung abgelöst werden. Das bereits vorbereitete Konzept wurde mit ei­ner Politik der kleinen Schritte in vier Pha­sen durchgeführt:

Bildung von kommunalen Beiräten, Ernennung von Stadtverordnetenver­tretungen, Einführung der revidierten deutschen Gemeindeordnung am 1. April 1946, Durchführung der Kommunalwahlen im Herbst 1946.

In zahlreichen Städten wurden schon im Mai/Juni 1945 Verwaltungsgremien einge­richtet, die zum Teil unterschiedliche Be­zeichnungen trugen. In der Stadt Dorsten hießen sie Verwaltungsbeiräte. Dieses Sy­stem kann mit Recht als eine Vorstufe zur Parlamentarisierung der kommunalen Ar­beit betrachtet werden, aber die Beiräte wa­ren doch nur ein Notbehelf und nicht demo­kratisch gewählt. Das Vorschlagsrecht lag al­lein beim Bürgermeister, dem der für Dor­sten zuständige Kommandant der britischen Militärregierung in Recklinghausen in der Regel folgte. Die Bürgermeister waren ge­halten, bei der Zusammensetzung der Bei­räte sich auf die Ergebnisse der letzten freien Wahl in der Weimarer Republik zu stützen.

Die Beiräte hatten nur eine beratende Funk­tion, so dass es im Ermessen des leitenden Verwaltungsbeamten, das war der Bürger­meister, lag, ob er die Beiräte tatsächlich be­teiligte. Die Kooperationsbereitschaft war auf beiden Seiten groß. Eine Reihe der in diesen frühen Beiräten tätigen Personen ge­stalteten später das kommunale Leben in dieser Stadt oder den Landgemeinden maß­geblich mit.

Bürgermeister und Beirat wurden vorerst ernannt

Die Verwaltungsbürokratie lag ganz in der Hand der Bürgermeister. Auf Einladung des Amtsbürgermeisters Desoi trafen sich im Jahre 1945 alle Gemeindebürgermeister im 14-tägigen Turnus zu Besprechungen. Schon im Juni befasste sich die Runde mit der von der Militärregierung gewünschten Bildung von Beiräten. Am 26. Juni 1945 legte Desoi fest, dass Dorsten sechs, Lembeck und Wul­fen je vier, Rhade und Altschermbeck je drei Beiratsmitglieder stellen sollten; zusätzlich kamen in den Beirat die Bürgermeister und deren Stellvertreter (Beigeordnete). Am 20. Juli reichten die Bürgermeister beim Amtsbürgermeister die Namensvorschläge für den Verwaltungsbeirat ein. Mitglieder waren die Bürgermeister Weber (Dorsten), Schäfer (Holsterhausen), Schwingenheuer (Wulfen), Sondermann (Lembeck), Markfort (Altschermbeck), Humann (Erle), Hinsken (Rhade) sowie der Invalide Alex Kostulski (Dorsten), Schreinermeister Gerhard Jägering (Hervest), Betriebsführer Ni­kolaus Ludes (Hervest), Materialverwalter Heinrich Sulk (Hervest) und Schreiner An­ton Duwe (Holsterhausen); für die Stadt Dorsten Facharzt Dr. Rudolf Fröhling, Steinbildhauer Anton Krüskemper, Kauf­mann Bernhard Wemhoff, Bergmann Hein­rich Meier, Bergmann Friedrich Klein. Bauer August Keller und Berginvalide Gu­stav Emmrich. In seiner Vollzugsmeldung an den Landrat meldete Desoi am 3. September 1945, dass die Verwaltungsbeiräte hauptsächlich aus den Berufsgruppen entnommen wurden, die vorwiegend in den Bezirken vorhanden wa­ren, dass Beratungen nichtöffentlich stattfin­den, dass es keine Geschäftsordnung gebe und dass für die verschiedenen Fachgebiete noch keine Ausschüsse gebildet worden seien. In den nächsten Monaten wurden Ge­schäftsordnungen sowie Gemeindesatzun­gen nach Maßgabe der britischen Militärre­gierung erlassen.

Alle ernannten Bürgermeister und Verwal­tungsräte wurden gesondert auf eine eventu­elle nationalsozialistische Vergangenheit überprüft. Dies ließ sich beispielsweise der Bürgermeister von Holsterhausen, Schäfer, nicht gefallen. Er schrieb am 22. Februar an den Amtsbürgermeister:

„Wenn der Herr Landrat eine Ausfertigung des politischen Fragebogens (…) wünscht, so bin ich wohl nicht einbegriffen. Der Titel ,Bürgermei­ster’, der vielleicht in den ersten Monaten des Durcheinanders etwas Berechtigung hatte, ist heute irreführend, da Holsterhau­sen keine selbstständige Gemeinde ist und ich daher auch keine Verwaltungstätigkeit aus­übe. Ich sehe mich nicht (mehr) als Bürger­meister an und will und kann als Beamter keiner bleiben. Darum habe ich auch den mir ,angehängten’ Beiratsposten für die Stadt Dorsten und das Amt Hervest-Dor­sten niedergelegt.“

Nicht überall stieß die „Doppelspitze“ im Rathaus auf Beifall

Die grundsätzliche Neuorientierung der bri­tischen Besatzungspolitik schlug sich in der zweiteiligen „Military Government Direk­tive on Administration. Local and Regional Government, and the public Services“ nie­der, deren erster Teil am 8. September 1945 über dem Verordnungswege zügig umgesetzt wurde. Das Konzept enthielt „Demokrati­sierung“ und „Dezentralisierung“. Nach englischem Muster sollte die politische Füh­rung allein beim Rat und dem ehrenamtli­chen Bürgermeister liegen, der damit zu ei­ner Figur der politischen Repräsentanz wurde. Dagegen sollte an die Spitze der Ver­waltung ein leitender Kommunalbeamter treten. Das Motiv der Militärregierung war, Exekutive und Legislative im kommunalen Bereich voneinander zu trennen. Also wur­den Stadt- und Gemeinderäte ernannt. Die Bürgermeister erhielten wiederum das Vor­schlagsrecht mit der Auflage, alle lokalen Strömungen angemessen zu berücksichtigen und sich mit den politischen Parteien, Be­rufsständen und Gewerkschaften abzustim­men. Die politischen Parteien sollten mit 75 Prozent, die Berufsstände mit 20 und son­stige Bürger mit fünf Prozent vertreten sein. Es mussten die Ergebnisse der Wahl von 1929 zugrunde gelegt werden.

Nicht überall stieß diese Praxis auf ungeteil­ten Beifall. Stimmen wurden laut, die gegen das Ernennungsverfahren und für eine Wahl plädierten, andere hatten kein Verständnis für die Reform des Bürgermeisteramtes, dessen Inhaber nicht mehr Vorsitzender des Rates und zugleich Chef der Verwaltung sein konnte. Dies war ein gravierender Bruch mit der deutschen Kommunaltradition. Nicht wenige der damaligen Bürgermeister wech­selten in das Amt des Verwaltungschefs. Die Diskussion über diese Reform hielt auch in den zuständigen Abteilungen der englischen Ministerien bis 1948 an. Zu einer Revision mochte man sich nicht entschließen; man überließ es dann den einzelnen Bundeslän­dern, nach Abzug der Besatzungsmacht aus der Landesverwaltung Korrekturen vorzu­nehmen. Nordrhein-Westfalen hielt im we­sentlichen bis 1994 an dieser „britischen« Kommunal Verfassung“ fest.

Rückgriff auf Wahlergebnisse von 1929 sorgte für Unmut

Auch in Dorsten regte sich Unmut, als bei der politischen Neubildung der Beiräte die Wahlergebnisse von 1929 angewendet wur­den. Demnach bekamen im Verwaltungsbei­rat des Amtes Hervest-Dorsten („Representative Council“) die CDU 23 Sitze, die SPD fünf und die KPD drei Mandate; die Stadt Dorsten war mit 23 Sitzen, Lembeck mit drei, Wulfen mit zwei, Altschermbeck, Erle und Rhade waren mit jeweils einem Sitz vertreten. Gegen diese Zusammensetzung legten die Ortsgruppen der SPD und der KPD am 26. März 1946 beim Landrat zur ge­fälligen Weiterleitung an die Militärregie­rung Einspruch ein. Die KPD-Fraktion bezeichnete die Man­datszuteilung als undemokratisch:

„Die Interessen der beiden Gemeinden Her­vest und Holsterhausen, die sich mit Aus­nahme einzelner freier Berufe aus Bergar­beitern zusammensetzen, werden durch die Landgemeinden sowie durch die Stadt Dor­sten überstimmt.“

Da dies bereits die dritte Umverteilung der Mandatssitze gewesen war, verlangte die KPD aufgrund ursprüngli­cher Absprachen einen Modus der Dreitei­lung, die eine stärkere Gewichtung der Ar­beiterschaft zur Folge gehabt hätte. SPD-Chef Gustav Emmrich argumentierte gegen die Zusammensetzung. Die CDU habe als neue Partei kein Anrecht auf die Sitze des früheren Zentrums. Er erinnerte ebenfalls an nicht eingehaltene Absprachen, denen zufolge nur 18 Beiräte berufen werden sollten (CDU zehn, SPD und KPD jeweils vier Sitze).

Engländer wiesen Einsprüche zurück

Major Gadd von der Militärregierung wies die beiden Einsprüche am 23. Mai 1946 zu­rück. Die Zentrumspartei habe keinen An­trag auf Gründung einer politisch selbstständi­gen Partei gestellt. So sei es rechtens, wenn die Sitze dieser Partei heute der einzigen Rechtspartei zugeteilt würden. Ob dies ein demokratisches Verfahren und wie der Bei­rat letztendlich zusammengesetzt sei, so Gadd, sei kaum von Belang, denn wahrhaft demokratisch könne das Gremium erst nach den Wahlen sein. Im Übrigen gelte die Arbeit des Verwaltungsbeirates in diesem Stadium mehr der praktischen Übung als der tatsächlichen Wirksamkeit.

An der ersten gemeinsamen Sitzung der Bei­räte des Amtes und der Stadt am 22. Mai 1946 in der Wirtschaft Erwig nahmen auch Major Gadd und Oberkreisdirektor Nie­meyer (Recklinghausen) teil. Der englische Major machte Ausführungen über Sinn und Zweck der Deutschen Gemeindeordnung. Es sollte keine Partei-, sondern Kommunal­politik betrieben werden. Dann ernannte er Dr. Banke zum Amtsdirektor für die Amts­verwaltung Hervest-Dorsten. Das Amt hatte bis dahin Amtsbürgermeister Desoi in­negehabt, der nun als politischer Leiter des Amtes erstmals von den Amtsbeiräten ge­wählt werden musste.

Der parteilose Desoi bekam von 30 Stimmen nur vier, während der CDU-Kandidat Paul Kempa 18 Stimmen auf sich vereinigen konnte. Gustav Emmrich (SPD) erhielt sechs, Gustav Ossa (KPD) eine Stimme. Kempa nahm die Wahl an. Einstimmig wurde er dann auch zum Stadtbürgermeister gewählt, sein Vertreter in beiden Ämtern wurde Gustav Emmrich (SPD). Die ersten Ausschüsse wurden gegründet. Drei Tage später traf ein Schreiben der Militärregie­rung (Ref. MG/115/H1/KL) ein, in dem das vorgesehene Lembecker Beiratsmitglied Jo­sef H. wegen früherer NS-Tätigkeit abge­lehnt wurde. Die endgültige Entscheidung für die Zugehörigkeit zum Verwaltungsbei­rat machte die Militärregierung vom Ergeb­nis der Entnazifizierung abhängig. So galten alle Ernennungen noch als vorläufig.

Mitte Juni 1946 war auch die nach der Verordnung Nr. 26 durchgeführte Einteilung der fünf Wahlbezirke (16. Stimmbezirke) abgeschlos­sen. Die Wahl zur Gemeindevertretung, Amtsvertretung und zum Kreistag fand am 15. September statt. Gemäß der Einwohnerzahl der Stadt Dorsten (24.577) konnten 21 Mitglieder für die Stadtvertretung gewählt werden. Der CDU wurden zuerst (nach dem Prinzip von 1929) 12 Kandidaten, der SPD fünf und der KPD vier zugestanden. Das Er­gebnis sah dann anders aus.

Ehemalige NSDAP-Funktionäre durften nicht wählen

Bei dieser ersten demokratischen Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik durften nicht zur Wahlurne gehen: ehemalige politi­sche Leiter der NSDAP, des SD und der Ge­stapo, Angehörige des Generalstabs und des Oberkommandos der Wehrmacht, der SS, NSDAP-Blockleiter, SA-Truppführer, HJ-Führer, BDM-Mädelringführerinnen, haupt­amtliche Leiter von NSDAP-Gliederungen wie NSV, NS-Ärztebund u. a., Betriebsob­männer der DAF und Berufsoffiziere des Ar­beitsdienstes. Außerdem war ausgeschlos­sen, wer von der Militärregierung wegen sei­ner Verbindung zum Nationalsozialismus verhaftet oder bereits aus der Haft entlassen worden war, und ebenso, wer von einer Be­schäftigung oder einer einflussreichen Stel­lung im öffentlichen Dienst oder von pri­vaten Stellen suspendiert oder ausgeschlos­sen war. Bei der Wahl erhielt die CDU 16.969 Stim­men (17 Sitze), die DZP (Deutsche Zen­trumspartei) 718 (keinen Sitz), die KPD 6.286 (2) und die SPD 7.456 Stimmen (2). – Das von den Briten eingeführte System der Wahlbezirke benachteiligte die KPD und SPD, die trotz hoher Stimmenzahlen (CDU 53,8 %, KPD/SPD 44 %) nur 19 % der Man­date erhielten.

Erste gemeinsame Amtsvertretung am 24. September 1946

Die erste gemeinsame Sitzung der gewählten Amtsvertretung des Amtes Hervest-Dor­sten und der Stadtvertretung fand am 24. September 1946 im Beisein des Vertreters der Militärregierung, Major Gadd, in der Wirtschaft »Haus Rose« statt, in der die frei­ gewählten Mandatsträger von Major Gadd vereidigt wurden. Major Gadd beglückwünschte jedes Mitglied mit Handschlag. Danach wurden die Bürgermeister gewählt und Ausschüsse gebildet. – Diese Wahl, eine weitere folgte 1948, war der erste von den Besatzern gesetzte Meilenstein auf dem Wege der verordneten Demokratie.

 

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