Entnazifizierung II: Für Nazi-Bonzen wurden „Persilscheine“ massenhaft ausgestellt

Von Wolf Stegemann

Die drei Entnazifizierungsfälle sind als Beispiele dokumentiert. Sie zeigen die unterschiedlich ausgestalteten Verstrickungen und Identifizierungsgrade der Betroffenen mit dem Nationalsozialismus. Ob nun wahrhaft innerlich überzeugt oder nur formell, sie alle haben eines gemeinsam: das Leugnen, das Nichtwissen-Wollen, das Nichteinstehen-Wollen und das Lügen. Oft genug ein Hohn für die, die unter den Nationalsozialisten und jenen, die jetzt keine mehr gewesen sein wollten, gelitten haben, hier in Holsterhausen und anderswo. Und jene, die damals im braunen Hemd der Partei mitgemacht haben, festigten mit ihrer Tätigkeit jenes Unrechtsregime, das 12 Jahre lang so viel Unheil über die Menschen bringen konnte.

Fall 1 – Stadtverordneter Paul Schürholz

Als der Kaufmann und frühere Bürgermeister Paul Schürholz 1971 im Alter von 78 Jahren starb, trauerte die ganze Stadt. Paul Schürholz starb als ein bekannter von vielen Menschen geachteter Mann. Das Verdienst erwarb er sich als langjähriger Bürgermeister der Stadt in einer Zeit, die tatkräftige, besonnene und einsatzbereite Bürger forderte.

"Persilschein" für Paul Schürholz vom frühereren NS-Bürgermeister Gronover

Paul Schürholz war so ein Mann, auch wenn er mit etlichen Bürgern Auseinandersetzungen hatte, wie beispielsweise gleich nach dem Krieg mit dem Stadtbaumeister Ludwig Maduschka. 16 Jahre lang leitete der spätere Ehrenbürger von 1948 bis 1964 als CDU-Bürgermeister die politischen Geschicke der Stadt und maßgeblich den Wiederaufbau. 1963 verlieh ihm der Bundespräsident das Große Bundesverdienstkreuz. Schürholz war in vielen Vereinen, im Schützenverein der Altstadt war er Oberst und auch mal König. An seinem 70. Geburtstag beschrieb der damals amtierende Schützenkönig, Rektor Johannes Pasterkamp, die Bedeutung des Jubilars: „Die Gnade des Himmels war es, die Ihre Talente wirksam machte für die große Gemeinschaft.“

Bleibt man bei dieser Aussage, dann mag es auch die Gnade des Himmels gewesen sein, die dem Kommunalpolitiker Paul Schürholz nach Kriegsende beistand. Denn Schlimmes musste er sich im August 1946 anhören. Der örtliche Unterausschuss der Entnazifizierungsbehörden beurteilte ihn offiziell als „Militaristen“. Der Ausschuss empfahl dem übergeordneten und in Recklinghausen tätigen Hauptausschuss, Schürholz nicht als gerichtlich vereidigten Sachverständigen in Vermögensangelegenheiten beim Amtsgericht Dorsten zuzulassen, „weil er für die Demokratie untragbar ist“. Der Hauptausschuss schloss sich diesem Urteil an, auch die britische Militärregierung nach abschließender Prüfung am 8. August 1946: „May not be employed, known as militant, member of 9 ns-organisations.” Sie ging sogar noch weiter und schrieb, dass Schürholz nie mehr ein politisches Amt übernehmen dürfe.

Paul Schürholz war also Mitglied in neun NS-Organisationen. Im harmlosen Ferienverein „Kraft durch Freude“ genauso wie im gleichgeschalteten Roten Kreuz. Er gehörte der Deutschen Arbeitsfront an, den Deutschen Jägern, dem NS-Reichsbund für Leibesübungen, dem NS-Reichskriegerbund und dem NSV. In die SA trat er bereits 1934 ein, der NSDAP gehörte er bis zum Ende 1945 an. Das Ende erlebte er als Hauptmann der Wehrmacht. Schürholz geriet 1945 in Münster in Gefangenschaft und kam in das Kriegsgefangenenlager Rheinberg. Weder die Entnazifizierungsausschüsse noch die Militärregierung haben sich in der Entnazifizierungspraxis an formale Mitgliedschaften in der Partei oder ihren Gliederungen gestört. Bei Paul Schürholz war dies anders. Ihm glaubte man die nominelle Mitgliedschaft nicht. Man warf ihm vor, mit Herz und Seele dabei gewesen zu sein. Er, ein Schwager des NS-Bürgermeisters Dr. Gronover, war stets als Ratsherr der Kommunalpolitik verbunden, zuerst als katholischer Zentrumsmann, ab 1933 „im braunen Ehrenkleid der Partei“.

Entlastungen erbeten – und bekommen

Nach dem Krieg suchte auch Paul Schürholz „Persilscheine“, die ihn zum Mitläufer entlasten und zum Anti-Nazi stempeln sollten. Er bekam sie zuhauf: von Pfarrern, von den Ursulinen ebenso wie von den Franziskaner-Patres. Etwas befremdend wirkt dabei ein Schreiben seines Schwagers, des früheren NS-Bürgermeisters Gronover. Von ihm ließ er sich am 12. Mai 1946 bescheinigen, dass er, Schürholz, nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beinahe verhaftet worden wäre, weil er bis 1933 dem Zentrum angehört hatte. Gronover behauptete in dieser eidesstattlichen Erklärung, Schürholz sei nur deshalb von Verhaftung verschont geblieben, weil er zu dieser Zeit dem Militär angehörte. Diese Einschätzung war vor allem nach dem 20. Juli 1944 völlig unsinnig. Die Entnazifizierungsbehörden beeindruckte diese Erklärung vorerst nicht. Im Zuge der Entlastungs-Aktionen durch „Persil-Scheine“ und durch Abgabe der Entnazifizierungsverfahren von den Engländern an deutsche Stellen sowie durch eine aufkommende „Schlussstrich-Mentalität“ wurde auch Paul Schürholz im weiteren Verfahren als entlastet eingestuft – und durfte wieder Politik machen.

Der Kommunalpolitiker musste in der Zeit des Umbruchs nach dem Kriege um sein politisches Renommee besorgt gewesen sein, war er doch zwölf Jahre lang ein exponierter Vertreter der braunen Kommune. Etliche Dorstener haben ihm seinen politischen Wechsel 1933 vom katholischen Zentrum zu den Nazis und nach dem Krieg die allzu augenfällige Rückkehr von der antichristlichen Politik des NS-Regimes zur christlichen Politik der CDU nicht vergessen. „Er hat sein Fähnchen nach dem Wind gerichtet“, meinte einer. Erinnert sei auch an die Auseinandersetzung im Stadtrat der späteren Jahre zwischen Paul Schürholz und dem früheren HJ-Stammführer Werner Kirstein (CDU), in der sie sich gegenseitig öffentlich beschuldigten, der größere Nazi gewesen zu sein. Unbestritten ist, dass Paul Schürholz und Werner Kirstein ihren politischen Weg in die Demokratie gefunden haben (siehe Internierungscamp Hillerheide)

Fall 2 – Hilfsarbeiter Friedrich Geißelbrecht

Ein so genannter Blutordensträger der NSDAP und hochrangiger SA-Führer wohnte in der Luisenstraße in Holsterhausen. Er heiratete 1924 die Schwester des Gewerbelehrers Richard Herpers. Seine Beteiligung als Nationalsozialist wurde im Entnazifizierungsverfahren so bewertet, dass er im Einreihungsbescheid vom 9. Juni 1948 in die in Dorsten nicht häufig vergebene, als Bewährungsgruppe verstandene Kategorie III eingestuft wurde und  somit als „minderbelastet“ galt. Da es unter Tausenden Dorstenern nur ganz wenige gab, die so oder stärker belastet waren, – die allermeisten waren Entlastete (Stufe V) oder Mitläufer (Stufe IV) – ist Friedrich Geißelbrecht schon als eine regionale NS-Größe zu bezeichnen, zumal er zu denen gehörte, die sich als Träger des Blutordens mit Adolf Hitler eng um die Blutfahne scharen konnte. Denn der 1895 in Nürnberg geborene Realschulabgänger marschierte mit Hitler, Ludendorff, Göring und anderen 1923, nachdem er in die Partei eingetreten war, in München zur Feldherrnhalle. Daher wurde er wegen Beteiligung am  Hitlerputsch zu Festungshaft in Landsberg verurteilt – wie sein Parteichef Hitler.

Im selben Zellenbau untergebracht, vergaß der spätere Reichskanzler und Führer seine Kampf- und Haftgenossen nicht. Geißelbrecht war von 1938 bis 1943 Mitglied des Reichstages, bekam auch das goldene Parteiabzeichen, Dienstauszeichnungen in Silber und Bronze und wurde 1939 Hauptdienststellenleiter der NSDAP und zuletzt SA-Brigadeführer, in die er bereits 1931 eingetreten war. Ein echter „Goldfasan“ also, wie solche Leute in ihren braunen und goldbetressten Uniformen damals im Volk spöttisch genannt wurden.

Mehrere Gefangenen- und Internierungslager durchlaufen

Wann Friedrich Geißelbrecht nach Dorsten zog, ist nicht bekannt. Unvollständigen Unterlagen zufolge wohnte er nach Kriegsende als Hilfsarbeiter in der Luisenstraße. Das Kriegsende selbst erlebte er in amerikanischer Gefangenschaft (ab 25. März 1945) und durchlief danach die politischen Abteilungen mehrerer Gefangenen- und Internierungslager: Zuffenhausen, Dachau, Ludwigsburg und Fallingbostel. Während dieser Internierungszeit musste er sich der Entnazifizierung unterziehen. In Fallingbostel wurde Geißelbrecht in die Kategorie III eingestuft, mit der er nach zweieinhalb Jahren am 25. September 1947 nach Holsterhausen entlassen wurde, wo er sich – wie erwähnt – als Hilfsarbeiter verdingte.

Wie alle es damals taten, die ungünstiger eingestuft wurden als in die Entlastetenstufe V, so tat es auch Geisselbrecht Er legte gegen den Einreihungsbeschluss des Internierungslagers Beschwerde ein. Auf diesem Wege schafften es fast alle kommunalen und regionalen Nazigrößen, weiß gewaschen und zu werden von der braunen Farbe, in der sie ihre Karrieren machten und sich offensichtlich wohl fühlten. Doch Friedrich G. konnte noch so viele gute Leumundszeugnisse (so genannte Persilscheine) aufweisen, um sein Verhalten in der NS-Zeit in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Der Unterausschuss beließ ihn in der Kategorie III, verbot ihn, öffentliche oder private Stellungen mit leitendem oder aufsichtsführendem Charakter anzunehmen und jegliche andere Tätigkeiten, in denen er über Personal verfügen konnte. Der Ausschuss begründete diese Verbote mit seiner Parteizugehörigkeit von 1923 bis 1945 und seiner Mitgliedschaft in der SA von 1931 bis 1945. „Geißelbrecht ist durch den frühen Eintritt in die NSDAP und die SA als Nutznießer und Förderer des Nationalsozialismus anzusprechen.“

Mit „vornehmen Charakter“ dem Verbrecher-Regime gedient

Der frühere NSDAP-Hauptdienstleiter und SA-Brigadeführer (gleichzusetzen dem militärischen Rang eines Generalmajors der Wehrmacht) wollte eine solche Bewertung nicht auf sich sitzen lassen und ging in die nächste Instanz. Der Hauptausschuss befasste sich am 28. Februar 1948 mit den Entlastungszeugnissen, die Geißelbrecht vorlegen konnte. Darunter das seines Holsterhausener Schwagers, des Gewerbelehrers  Richard Herpers.

Dieser beurteilte Geißelbrecht als „politischen Idealisten“, der in der Partei seinem „schwergeprüften Volke dienen“ wollte. Daher hätte er in der Partei hohe Ämter angenommen und habe den Ideen mit ganzer Hingabe gedient. „Seine ihm angeborenen vornehmen Charaktereigenschaften wollte er auf seine Umgebung übertragen und traute dem Führer und seinen Mitarbeitern die gleiche edle Gesinnung zu“, schrieb der Berufsschuldirektor. Er bescheinigte seinem Schwager noch,  dass dieser mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln versucht habe, Unrecht zu verhüten und politisch Verfolgte zu unterstützen. „Er war ein politisch irregeleiteter Idealist, der die politischen Absichten der Führung nicht rechtzeitig erkannt hat, und es gelang ihm nicht, sich mit seiner vornehmen Gesinnung durchzusetzen.“

Der frühere Richter am Landgericht Landshut und nach dem Krieg Landgerichtsdirektor in Freising, Dr. Ignaz Tischler, bescheinigte Friedrich Geißelbrecht, ihn 1938 vor Nachstellungen der NSDAP gerettet zu haben, weil er, der Richter, die „Judenaktion 1938“ kritisierte, was auf Missfallen bei der Kreisleitung der NSDAP stieß. Der Richter wurde seines Amtes enthoben, aus der NSDAP ausgeschlossen und vor das oberste Parteigericht gebracht. Da wandte er sich an den einzigen ihm verbliebenen Freund Friedrich Geißelbrecht, den er vom Ersten Weltkrieg her kannte. In der Verhandlung vor dem Parteigericht sei er auf die guten Worte des Freundes hin freigesprochen worden und durfte sein Richteramt wieder ausführen. „Ich bin mir wohl bewusst“, so der Landgerichtsdirektor mit NSDAP-Vergangenheit an den Entnazifizierungs-Hauptausschuss in Sachen Geißelbrecht, „und erkenne mit tiefer Dankbarkeit an, dass ich meine Rechtfertigung und damit die Rettung meiner Existenz zum guten Teil dem mannhaften Eintreten von Geißelbrecht zu verdanken haben… Zeitlebens werde ich Geißelbrecht für sein selbstloses Eintreten dankbar sein.“

In der Partei, weil er das deutsche Volk retten wollte

Geißelbrecht, der damals in München wohnte, war 1940 in einen Arisierungsfall verwickelt. Die Jüdin Martha Horwitz aus Ennigerloh wanderte nach Argentinien aus und wollte ihren Grundbesitz an eine Freundin verkaufen. Da die NSDAP die Erwerberin als politisch nicht zuverlässig einschätzte, stimmten die Behörden dieser Transaktion nicht zu. G., der in seiner Parteifunktion davon wusste, trat nun selbst als Käufer auf und erwarb Haus und Grundbesitz der Jüdin. Dies wurde Geißelbrecht im Entnazifizierungsverfahren zur Last gelegt („Nutznießer“). Der Rechtsanwalt und Notar Hermann Nalop aus Bünde versuchte nun, als früherer Notar des Kaufgeschäfts, Friedrich Geißelbrecht zu entlasten. Er versicherte dem Hauptausschuss, dass der NSDAP-Funktionär lediglich das Grundstück für die Freundin erhalten wollte und somit „nur dem Namen nach beteiligt war“, um der Jüdin zu helfen, der es mit „Hilfe des Kaufpreises“ möglich wurde, „die Auswanderung durchzuführen“. Friedrich Geißelbrecht kam auch selbst zu Wort. Er hob hervor, dass er in die Partei nur deswegen eingetreten sei, „weil unser Volk in der damaligen Nachkriegszeit gerettet werden“ musste. Er glaubte fest an die Ideale und versuchte nach besten Kräften „den schlechten Elementen, die sich in der Partei breit machten, entgegenzuwirken“. Doch der Hauptausschuss, der solche Argumente von allen Nazis hörte, die sich verantworten mussten, ließ sich davon nicht beeindrucken. Es blieb bei der Kategorie III – geringer Übeltäter.

Fall 3 – Amtsgerichtsrat Heinrich Hullmann

In der Idastraße 19 in Holsterhausen wohnte seit Mitte 1939 ein Mann, der zuerst als Gerichtsassessor, dann als Richter den Nationalsozialismus pflichtbewusst durchgestanden hat, ohne sich zu beugen, sich politisch und weltanschaulich zu verbiegen. So sah er sich selbst und so beurteilten ihn seine Justizkollegen, sein Lehrer und seine Nachbarn gegenüber der Militärregierung, die den 45-jährigen Juristen entnazifizieren sollte.

Die Rede ist von Amtsgerichtsrat Heinrich Hullmann, Jahrgang 1901, der nach eigenen Angaben als Richter so viel Gutes für die Menschen und den NS-Funktionären so viel Steine in den Weg gelegt haben will, dass er eigentlich, liest man seine Einlassungen, als ein Widerstandskämpfer einzuordnen sei. Unterstellt man ihm seine Aussagen als richtig, verwundert es einen doch, dass der Amtsgerichtsrat dies so offen und ungehindert bis zum Ende tun konnte, wo doch überall sonst systemkritische Richter abgesetzt, versetzt oder gar in den Ruhestand oder in die Konzentrationslager geschickt worden waren, auch dann, wenn sie Parteimitglied der NSDAP von 1933 an waren wie Hullmann. Als Richter wusste er natürlich, wann  Aussagen Beweiskraft haben und übertrug dieses Wissen auch auf seine Darlegungen. Am Ende ging er als „entlastet“ aus dem Verfahren. Übrigens wurde in der Nachkriegszeit kaum ein Richter wegen Rechtsbeugung oder dergleichen von anderen Richtern angetastet, wie der Autor Jörg Friedrich in seinen Büchern „Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter“ (1983) und „Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik“ (1984) nachweist.

1932 – nach bestandenem Examen zum Gerichtsassessor – habe er das Ansinnen, der NSDAP beizutreten, zurückgewiesen, „weil ich als Richter parteipolitisch unabhängig bleiben wollte,“ argumentiert er zuerst vor dem Unterausschuss, dann vor dem Hauptausschuss der Militärregierung 1946.

Alle Richter als „geschlossener Block“ in die NSDAP eingetreten

Diese hehre Gesinnung der politischen Neutralität legte er aber spätestens ein Jahr darauf ab, nachdem die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hatten. Heinrich H. trat am 1. Mai 1933 mit seinem gesamten Richterkollegium des Amtsgerichts Recklinghausen, an dem er damals beschäftigt war, in die NSDAP ein. Diesen geschlossenen Block-Beitritt erklärte er später so, wie Hunderttausende im Land auch: „Keiner hat zu dieser Zeit die spätere Entwicklung der Dinge ahnen können. Trotz der Parteimitgliedschaft bin ich keinen Augenblick lang Anhänger und Verfechter des Nationalsozialismus gewesen und habe mich nie aktiv betätigt.“ Mag sein, mag aber auch nicht sein: Obwohl er noch ein Jahr vorher die Unvereinbarkeit zwischen Richteramt und nationalsozialistische Gesinnungsdemonstration durch Parteieintritt konstatierte, bestätigten ihm seine Gerichtskollegen seine politische Abstinenz. In der Tat hatte Hullmann kein Parteiamt ausgeübt. Neben der NSDAP-Zugehörigkeit war er Mitglied im Reichsbund der Deutschen Beamten (RDB) und Zellenwart der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV).

Den entscheidenden Hinweis auf seine Ablehnung nationalsozialistischer Gesinnung und den Willen, rechtsunbeugsam zu sein, sieht er in der Zeit der Machtübernahme der Nazis darin, in Recklinghausen den jüdischen Rechtsanwalt Dr. Walter Stern vertreten zu haben, der selbst nicht mehr auftreten durfte. „Das hätte ein überzeugter Nationalsozialist niemals getan.“ Der Oberlandesgerichtspräsident von Hamm bestellte Hullmann vom 26. Januar 1933 bis 4. Februar 1933 zum Vertreter in Rechtsgeschäften des Dr. Walter Stern. 1938 kam er als Richter zum Dorstener Amtsgericht. Am 14. März 1938 schrieb ihm seine vorgesetzte Dienststelle, der Landgerichtspräsident in Essen unter Buch-Nr. Ia 143: „Im Auftrage des Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten in Hamm eröffne ich Ihnen, dass der Herr Reichsminister der Justiz anlässlich Ihrer Übernahme als Anwärter für die Laufbahn für das Amt des Richters und Staatsanwalts die Erwartung ausgesprochen hat, dass Sie sich künftig in der Partei oder ihren Gliederungen und Verbänden aktiv beteiligen. Gez. Heermann.“

Diesem höchsten Ansinnen mochte sich der frisch gebackene Amtsgerichtsrat nicht entziehen: „Ich nahm darauf den Posten eines Blockwalters in der NSV, Ortsgruppe Gladbeck, an und kassierte fortan die Mitgliedsbeiträge.“ Wenige Wochen später ist der Richter Heinrich Hullmann von Gladbeck nach Holsterhausen umgezogen.

Gegen Ortsgruppenleiter Haftbefehl erlassen

„Als Richter habe ich stets ohne Rücksicht auf Person, Rasse und Religion Recht gesprochen“, führt Hullmann zu seiner Entlastung an. Anderes hätte er kaum sagen können, denn diesen Satz hatte er gelernt, er findet sich in jedem Jura-Lehrbuch und die Weimarer Verfassung, nach der ohne Ansehen der Person Recht gesprochen werden sollte, galt ja immer noch eingeschränkt bis 1945. So habe er nach eigenen Angaben den NSDAP-Ortsgruppenleiter von Marl, P. Becker, 1939 dreimal wegen Zahlungsschwierigkeiten verurteilt und gegen ihn, als er den Offenbarungseid verweigerte, einen Haftbefehl erlassen. Auch sei der jüdische Kaufmann aus Dorsten, Sigmund Reifeisen, in zahlreichen Gerichtsverfahren gegen säumige Schuldner bei ihm zu seinem Recht gekommen (Akten Reiffeisen & Co, AG Dorsten 1938/39).

Die Gestapo habe es nicht einfach gehabt mit ihm als Richter, schrieb Hullmann im Juli 1946 zu seiner Entlastung. Immer wenn Gestapo-Beamte ihm politische Beschuldigte zwecks Ausstellung eines Haftbefehls vorführten, kam er dem Ansinnen der Gestapo nach und stellte die Haftbefehle aus. Das sei im Sinne der Beschuldigten gewesen, denn: „Wir Richter stellten bald fest, dass solche Beschuldigte von der Gestapo festgehalten wurden, wenn wir keinen Haftbefehl erließen, sondern die Beschuldigten frei ließen. Nur so konnten sie [die Beschuldigten] der Macht der Gestapo entzogen werden. Uns war dann die Möglichkeit gegeben, ihnen zu helfen. Sie waren zwar in Haft, wurden aber menschlich behandelt und erhielten bei Arbeitseinsatz sogar Schwerarbeiterzulagen, eine Tatsache, die kaum bekannt ist… Den Beschuldigten blieben natürlich alle die Beweggründe unseres Handelns unbekannt und wir nahmen es in Kauf, manches Mal verkannt zu werden.“

Dass dies dennoch Rechtsbeugung war, wusste auch Hullmann, denn er schreibt: „Diese unser Rechtsempfinden verletzende Tatsache war oft Gegenstand ernster Erörterung und wir kamen zu der Überzeugung, dass es im Interesse des Vorgeführten liege, gegen sie einen Haftbefehl zu erlassen.“

Gegnerschaft zur NSDAP bescheinigt

1946 war das Dorstener Amtsgericht mit Justizangestellten besetzt, die von der Militärregierung überprüft und für politisch tauglich erachtet worden waren. Acht von ihnen entlasteten den einstigen Amtsgerichtsrat in einem Schreiben vom 25. Februar 1946, versehen mit Siegel und beglaubigten Unterschriften: „Wir können mit gutem Gewissen bezeugen, dass Amtsgerichtsrat Hullmann trotz seiner Parteimitgliedschaft sich niemals [niemals unterstrichen] politisch betätigt hat. Aus privaten Unterhaltungen ging im Gegenteil deutlich hervor, dass er ein Gegner der Partei und ihrer Bestrebungen war.“

Die beiden Dorstener Bürgermeister Theodor Artmann und Bernhard Weber schrieben am 8. März 1946: „Wir waren sehr erstaunt, dass Amtsgerichtsrat Hullmann seines Amtes enthoben wurde, denn gerade er war einer von denen, die sich so wenig wie möglich um die Partei kümmerten. Er wurde sogar häufig von Dorstenern als Gegner des nationalsozialistischen Systems bezeichnet…“

Gustav Emmrich aus Holsterhausen, Vorsitzender des SPD-Stadtbezirks Dorsten, sowie der Holsterhausener Fr. Kremer, Funktionär der SPD-Ortsgruppe Holsterhausen, bescheinigten dem Juristen, „dass er politisch im Sinne der NSDAP keine Rolle gespielt hat. [Unseres] Erachtens liegt seiner Entlassung aus dem Dienst ein bedauerlicher Irrtum zu Grunde.“ Auch die Kirche meldete sich zu Wort und bereicherte die „Persilscheine“ um ein Exemplar. Pfarrrektor und Bürgermeister-Assistent Bernhard van Heyden schrieb am 4. März 1946:

„Bald erkannte ich, wie Amtsgerichtsrat Hullmann innerlich den nationalsozialistischen Ideen entgegen stand. Ich bin ihm heute noch dankbar dafür, dass er mich gelegentlich einer Besprechung einer Auslandsrundfunksendung dringend warnte, vorsichtig zu sein, da er wusste, wie der Klerus und besonders ich überwacht wurde. Er bekannte sich stets zur Kirche und bahnte mir jeden möglichen Weg zur seelsorgerlichen Betreuung der Häftlinge…“

Auch erwähnt Heinrich Hullmann, dass er als Vorstand des Gerichtsgefängnisses Dorsten seit März 1943 stets die Gefangenenseelsorge gefördert habe.  Schließlich stufte die Militärregierung Amtsgerichtsrat Heinrich Hullmann aus Holsterhausen als „entlastet“ in die Kategorie 5 der britischen Zonenanweisung Nr. 38 vom 12. August 1946 ein. Hullmann konnte wieder Recht sprechen.

 

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