Entnazifizierung III: Waren denn NSDAP-Ortsgruppenleiter keine Nazis? – Fallbeispiele

Von Wolf Stegemann

Die Ortsgruppe war nach dem Block nächst höheres „Hoheitsgebiet“ der NSDAP auf Gemeinde- und Stadtteilebene. Der Ortsgruppenleiter wurde vom Gauleiter auf Vorschlag des Kreisleiters ernannt. Er hatte nach 1933 auch Befugnisse gegenüber den Nichtmitgliedern in seinem Bereich: Er sollte „durch geeignete Veranstaltungen die Bevölkerung nationalsozialistisch ausrichten“ und führte Listen über die „politische Zuverlässigkeit“ der Bewohner. Innerparteilich kontrollierte er die Blockwarte, auch wenn diese dem Kreisleiter unterstanden, und war verantwortlich für die „gesamtpolitische Lage“ in der Ortsgruppe und die Schulung der Politischen Leiter. Ohne die Vielzahl der Ortsgruppen- und Kreisleiter im Reich, die das Regime stützten, hätte der Nationalsozialismus kein Fundament in der Bevölkerung gehabt.

Dorsten: Ernst Heine, Karl-August Schämann, Wilhelm Gahlen

Ernst Heine

Dem Schreinermeister Ernst Heine, Ortsgruppenleiter von Dorsten in den Jahren von 1934 bis 1941, wurde nach dem Krieg u. a. von Kommunisten, den Ursulinen, der CDU und von Geistlichen bescheinigt, dass er „in idealer Weise geholfen und gegen gute Rechtsauffassungen“ nicht verstoßen habe. Seine Tochter beurteilte in den 1980er-Jahren ihren Vater gegenüber dem Verfasser anders: „Mein Vater war sicher nicht einer der bösen Nazis; er hat aber das Böse mitgetragen.“ Ernst Heine war weder interniert noch wurde er bestraft. Die Berufungsinstanz reihte ihn als „entlastet“ ein. (Siehe auch in der Rubrik NSDAP das Personenportät Ernst Heine).

Sein Nachfolger, Kassenrendant Karl-August Schämann, Parteigenosse von 1933 bis 1945, wurde im Entnazifizierungsverfahren (Schämann war Interniert) als „Idealist der NSDAP“, nicht als ihr Propagandist bezeichnet. Zur Last legte man ihm den Führerposten in der SA. Schließlich wuschen ihn die Dorstener rein: Franziskaner, Pädagogen, Sozialdemokraten, Unternehmer, Nachkriegsbürgermeister, Caféhaus-Besitzer, Christdemokraten, Geistliche. Allerdings kamen die Entnazifizierungsausschüsse zu dem Schluss, dass Schämann nicht der war, als den ihn die Gut-Schriften hinzustellen versuchten. Er wurde als Nazi-Anhänger mit Bewegungsbeschränkung (Internierung) in IV b eingestuft.

Ein weiterer Ortsgruppenleiter von Dorsten, Malermeister Wilhelm Gahlen, welcher der NSDAP bereits 1929 beitrat, wurde zuerst vom Hauptausschuss in die Stufe III eingereiht, bei der Berufungsverhandlung aufgrund der „Persilscheine“ von Dorstener Paohlbürgern vom Sonderbeauftragten des Landes in die Kategorie IV (mit Berufssperre) eingestuft. Die Dorstener über Gahlen: „War nie ein überzeugter Nazi“ und: „Er scheute sich nicht, an einer Wallfahrt teilzunehmen!“ und: „Ein Einstufen in die Gruppe III wäre ein Unrecht gewesen.“

Lembeck: Franz Schenuit

Für die Freilassung und eine gute Beurteilung des im Augsburger Internierungslager einsitzenden Ortsgruppenleiters und NS-Bürgermeisters von Lembeck, Lehrer Franz Schenuit, machten sich die Lembecker stark, allen voran der Ortsgeistliche, der dem NSDAP-Leiter „ein tief gläubiges Gemüt“ bescheinigte.

Franz Schenuit, Lembeck

Ein früherer jugoslawischer Kriegsgefangener meinte, Schenuit hatte als Soldat (1939-45) „eine gute demokratische Gesinnung“ bewiesen; drei Lembecker, die nicht in der Partei waren, schrieben, dass der Parteiführer weder Aktivist noch Propagandist gewesen sei. Ein früherer KZ-Häftling bestätigte Schenuit, nicht an seiner Verhaftung beteiligt gewesen zu sein. Schenuits ehemaliger Fahrer (Sch. war im Krieg Offizier) bewunderte immer dessen „beispielhafte Sorge“ für das religiöse Leben. Damit diese Aussage auch die gewollte Wirkung hatte, legte der Ex-Fahrer gleich eine Bescheinigung seines Ortsgeistlichen in Siddinghausen dazu, dass er, der Fahrer, ein gläubiger Katholik sei. Der stellvertretende Nachkriegsbürgermeister von Lembeck, Gladen, schrieb, dass Schenuit „kein Judenfeind“ sei und zitierte einen amerikanischen Major, der mit seinen Truppen in Lembeck einrückte und gesagt haben soll, „Lembeck sei kein Nazinest“. Dass Schenuit kein schlechter Mensch gewesen sein konnte, belegten Lembecker auch mit der Feststellung, dass der Ortsgruppenleiter anlässlich einer Firmung am Empfang des Bischofs und am Festessen teilgenommen habe.

Die Lembecker bekundeten ihre Meinung am 16. Juni 1947 in einem Schreiben an den Kreisprüfungsausschuss, in dem sie um Entlassung ihres ehemaligen NSDAP-Kreisleiters baten: „Es widerspricht dem Gerechtigkeitsgefühl der Lembecker, dass Herr Schenuit seinen Idealismus in so harter Weise büßen muss. Sie haben den Wunsch, dass nach den vielen Jahren der Ungerechtigkeit endlich mal die Gerechtigkeit in der Welt herrschen möge.“ Schenuit wurde am 18. September 1947 als „entlastet“ (Gruppe V) entlassen:

NSDAP-OG-Leiter Wilhelm Schulte-Hemming, Altendorf-Ulfkotte

Altendorf-Ulfkotte: Wilhelm Schulte-Hemming

Auch der Landwirt Wilhelm Schulte-Hemming, Ortsgruppenleiter und NS-Bürgermeister von Altendorf-Ulfkotte, war zwei Jahre lang interniert. Er wurde in IV b (Bewegungsbeschränkung) eingestuft und zudem von der Spruchkammer wegen Mitgliedschaft in einer in Nürnberg als verbrecherisch verurteilten Organisation mit einer Geldstrafe in Höhe von 1.500  Mark belegt, die er aber nicht zahlen musste, weil sie mit der Internierung verrechnet wurde. Für seine Freilassung setzen sich auch die Bürger von Altendorf-Ulfkotte ein. Eine erhalten gebliebene NSDAP-Mitgliederliste von Altendorf-Ulfkotte zeigt, dass fast alle Bauern Mitglied der Partei waren.

Wulfen: Paul Lippik

Mehrere Wulfener Bürger baten in einem Schreiben an den Unterausschuss, sich dafür einzusetzen, dass der Lehrer und frühere Wulfener Ortsgruppenleiter der NSDAP, Oberamtsleiter der NSV und Propagandaleiter Paul Lippik, aus dem Internierungslager entlassen werde, da er nach deren Meinung seinen Posten „loyal verwaltet“ habe „und in keiner Weise gehässig hervorgetreten“ sei. Ein Unterausschussmitglied bezeugte, dass Lippik von Schulrat Brock unter Druck gesetzt worden sei, um die ihm angetragenen Parteiämter anzunehmen. Lippik selbst gab an, dass er aus Angst, wieder in den Osten abgeschoben zu werden, wo er herkam, 1933 in die Partei eingetreten sei. Lippik wurde 1948 in die Stufe IV (ohne Vermögenssperre) eingereiht. Der Unterausschuss empfahl eine Wiedereinstellung als Lehrer, aber nicht mehr in Wulfen.

Deuten: Johann Wolthaus

Zimmermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter von Deuten, Johann Wolthaus, Parteimitglied von 1933 bis 1945, Ortsgruppenleiter von 1936 bis 1939 und von 1941 bis 1942, Mitglied in fünf Parteigliederungen, wurde von zahlreichen Zeugen bescheinigt, dass der zuerst im Recklinghäuser Camp 4, später in Iserlohn internierte Wolthaus „kein Nationalsozialist“, sondern lediglich ein „Idealist“ gewesen sei. Nachkriegsbürgermeister Schonebeck und andere Gemeinderatsmitglieder sagten aus, dass Wolthaus nationalsozialistische Propaganda vom Dorf ferngehalten und er das Amt des NSDAP-Ortsgruppenleiters zum Wohle der Gemeinde übernommen und geführt habe. „Es wäre bitteres Unrecht“, so die kommunalen Nachkriegspolitiker weiter, „wenn ihm aus dieser Tätigkeit irgendwelcher Schaden erwachsen sollte“. Pfarrrektor Simons setzte sich am 11. August 1945 ebenfalls für den Ortsgruppenleiter „wärmstens“ ein. Er begründete dies auch damit, dass Wolthaus aus einer religiösen Familie komme und eine Schwester Nonne sei. Der damalige Dorstener Berufs- und Handelschuldirektor Richard Herpers, ein Vielschreiber in Sachen „Persilscheine“, schrieb am 25. Februar 1948 über den ehemaligen Ortsgruppenleiter: „Herr Wolthaus war und ist ein Ehrenmann (….). Soweit mir bekannt, wünscht die Bevölkerung restlos die Rehabilitierung seiner Ehre…“

Auch setzten sich für Wolthaus die Ursulinen sowie Nonnen aus anderen Klöstern ein. Als dann noch etliche Bestätigungen aussagten, dass Wolthaus früher Mitglied des „Friedensbundes deutscher Katholiken“ und Vorsitzender des Kirchenchors gewesen war, stand seiner Entlassung durch Einreihung in IVb (Bewegungsbeschränkung) nichts mehr im Wege, wobei der Ausschuss die Schwierigkeit des Falles durch eine zweimalige Ortsgruppenleitertätigkeit nicht verkannte.

Rhade: Johann Wensing

Volksschullehrer Johann Wensing übernahm das Amt des Ortsgruppenleiters in Rhade 1934 (bis 1945) auf Drängen des Ortsgeistlichen Tillmann und der Gemeinde. Deshalb setzten sich nach der Verhaftung des Ortsgruppenleiters am 12. Mai 1945 Kirche und Gemeinde für seine Freilassung ein. Wensing (Internierungs-Nr. 545.064) wurde aber erst am 4. November 1947 aus dem Internierungslager Staumühle entlassen und als „Entlastet“ in die Entnazifizierungskategorie V eingestuft. Im Verfahren vor der 12. Spruchkammer des Spruchgerichts Hiddisen wurde Wensing freigesprochen, weil ein Beweis, dass er „Kenntnis vom verbrecherischen Treiben des NSDAP-Führungskorps“ gehabt habe, nicht zu führen war, obwohl aber wegen der langen Amtszeit als Ortsgruppenleiter ein Verdacht der Mitwisserschaft gerechtfertigt erschien.

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  • Die Entnazifizierungsakten der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Holsterhausen, Hauptschullehrer Heinrich Schwarz, und von Hervest-Dorsten, Steiger Otto Berke, sind noch nicht aufgefunden worden. Daher gibt es keine Erkenntnisse. Lehrer Schwarz durfte bis 1951 nicht mehr im Schuldienst beschäftigt werden. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1958 war er Hilfslehrer in Herten.
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