Von Wolf Stegemann
Die Entnazifizierung war eine schwierige, wenn auch unvermeidliche Hürde auf dem von den Alliierten verordneten Weg zum Rechtsstaat. Da sie als bürokratische Großaktion betrieben werden musste, konnten Schuld und Sühne nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Folglich musste sie scheitern. Die Bilanz der Entnazifizierung: 1.667 Hauptbeschuldigte, 23.600 Belastete, 150.425 Minderbelastete, 1.005.854 Mitläufer (Dreiviertel mit Sühnemaßnahmen), 1.213.873 Entlastete. Beinahe vier Millionen wurden amnestiert oder wegen Einstellung des Verfahrens nicht belangt. Die Fragwürdigkeit der Entnazifizierung war auch den Siegern klar geworden. Doch was hätten sie tun sollen? Sie konnten auf Dauer das besetzte Land ohne die Deutschen weder verwalten noch regieren.
Wenn Deutschland auch seine Vergangenheit mit der Entnazifizierung juristisch weitgehend bewältigt haben mochte, so verpassten es die Menschen dieser Generation, eine geistige Auseinandersetzung, unbeeinflusst von den Zwängen der Alliierten, folgen zu lassen, um sich ihr moralisches Versagen bewusst zu machen und um sich einzugestehen, dass sie so unwissend nicht gewesen waren.
In dieser geistigen Auseinandersetzung würde es gar nicht darum gegangen sein, sich selbst vorzuwerfen oder vorwerfen zu lassen, kein Held gewesen zu sein und keinen Widerstand geleistet zu haben. Es wäre allein auf der Erkenntnis des eigenen Versagens angekommen. Eine Erkenntnis allerdings, die wichtige Konsequenzen hätte haben können: in Zukunft sensibler zu sein für das kleine Unrecht am Anfang, das sich zum großen Unrecht am Ende auswachsen kann. Aufmerksamer zu sein, wenn die Rechte von Minderheiten oder von Einzelnen verletzt werden; die Rechte von politische Andersdenkenden oder Andersgläubigen.
Aber die Vergangenheit war 1952 für die Deutschen abgeschlossen. Bis sie in den 1980er-Jahren wieder auferstand: Holocaust, Verjährungsdebatte, Neonazis, Majdanek-Freisprüche und verschleppte Kriegsverbrecherprozesse und immer wieder ein offener zu Tage tretender Antisemitismus.
Die Auseinandersetzung mit der bis heute nicht geistig bewältigten Vergangenheit in der Öffentlichkeit – wie an Stammtischen – zeigt, wie wenig Menschen fähig sind, aus der Geschichte zu lernen. Das betrifft heute, wo kaum noch Verantwortliche aus der Nazi-Zeit leben, auch die Nachgeborenen, die sich durch die zweifelhafte »Gnade der Spätgeborenen« nicht aus der Verantwortung ihrer Eltern und Großeltern stehlen dürfen.