Von Wolf Stegemann
Als 1938 der Recklinghäuser Bezirksrabbiner Dr. Selig Auerbach in die USA emigrierte, übernahm der Recklinghäuser Lehrer an der jüdischen Schule in Recklinghausen, Erich Jacobs, Auerbachs Funktion, obwohl er kein Rabbiner war. Schließlich gelang auch ihm 1941 die Emigration nach Kuba.
Erich Jacobs wurde 1906 in Nuttlar (nördlicher Hochsauerlandkreis) als achtes von neun Kindern geboren. Seine Eltern, die 1891 geheiratet hatten, waren Meyer Jacobs (geb. 1861) aus Börger und Emma Weinberg aus Siedlinghausen (geb. 1866). Die Jacobs waren die einzigen Juden in Nuttlar. Erichs Eltern handelten mit Fabrikwaren, Lumpen, Alteisen, Wolle und gelegentlich mit Obst und Gemüse, das sie ins Ruhrgebiet schickten. Im Jahr 1918 starb sein Vater an der Grippe, die ganz Europa heimsuchte und viele Todesopfer forderte. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bigge bestattet. Seine Mutter Emma starb 1941. Die jüdischen Friedhöfe in der Umgebung von Nuttlar waren bereits „geschlossen“. Daher brachte Erich Jacobs den Sarg mit der toten Mutter mit dem Zug nach Recklinghausen, wo er sie auf dem jüdischen Friedhof begrub. Erichs ältester Bruder David ging 1915 freiwillig zum Militär und fiel ein Jahr später in Verdun.
Bruder Alfred wurde Lehrer, war Kriegsfreiwilliger, zweimal verwundet, promovierte in Würzburg und war später als Rabbi und Lehrer in Bad Kreuznach tätig. Er war mehrmals im jüdischen Jugendheim „Haus Bertha“ (zwischen Schermbeck und Holsterhausen). Alfred wanderte mit seiner Familie nach der Reichskristallnacht in die USA aus (gest. 1972 in New York). Schwester Frieda arbeitete nach ihrem Studium als Hebräisch-Lehrerin in Halberstadt, Bad Kreuznach und Berlin. Sie heiratete Salli Neumann. Als bekannte Zionisten wanderten beide 1936 nach Israel aus. Schwester Bertha emigrierte mit Ehemann Sigmund wenig später nach Argentinien. Hilde arbeitete in Nuttlar und heiratete später den Rabbiner Nandi Bayer. Er verbrachte die Kriegsjahre in einem Versteck in Holland. Hilde wanderte mit ihren beiden Söhnen nach England aus. Die Familie wurde wieder vereint, lebten zuerst in Belgien und verzog dann nach Kanada aus. Schwester Adele übernahm zusammen mit ihrem Ehemann Louis Herzstein aus dem Raum Beverungen das Handelsgeschäft in Nuttlar. Beide und ihre drei Kinder (Herbert, Mirjam, und Julius) wurden deportiert und ermordet, bis auf Herbert in Auschwitz. Herbert traf ein besonderes Schicksal. Als 1941 in den von den Deutschen besetzten Amsterdam ein holländischer Nazi getötet wurde, nahmen die Deutschen zur „Strafe“ 200 junge jüdische Männer fest. Herbert befand sich bei dieser Aktion gerade in Amsterdam. Er wurde von der Straße weg in das KZ Mauthausen gebracht und dort kurze Zeit später ermordet. Erich Jacobs Schwester Rosa heiratete den Viehhändler und Schlächter Isaac Weinberg in Sögel. Rosa starb in Riga, die Kinder Alfred, Resi, Martin und Adda und auch Isaac Weinberg wurden in Auschwitz getötet. Erika, Erichs jüngste Schwester, heiratete Hermann Cohen. Er war aus Holland. Nach der Hochzeit lebten sie in Amsterdam. Sie hatten einen Sohn namens Daniel. Alle drei wurden 1943 deportiert und in Sobibor ermordet.
Erich wollte schon immer Lehrer werden
Erich Jacobs hatte keine spezielle grundlegende jüdische Erziehung erhalten, wollte aber immer Lehrer werden. Letztlich studierte er am Lehrerseminar in Köln. In der jüdischen Gemeinde war er in vielen Bereichen tätig. Bereits als 16-Jähriger begannen seine Tätigkeiten, darunter die eines Kantors, Torah-Lesers, Predigers und Lehrers, später auch eines Schochets (Schächter). Er arbeitete im Jüdischen Waisenhaus in Frankfurt am Main und studierte an der dortige Universität. Einen Abschluss erreichte Erich Jacobs nicht, weil die Nationalsozialisten bereits diverse antijüdische Verbote erlassen hatten. Sein eigentlich „erster großen Job“, so seine Tochter Fredel Fruhman (New York) heute, war in Unna, als ihn die dortige jüdische Gemeinde 1933 als Lehrer einstellte. Damit begann eine große Reisetätigkeit, denn er musste in die umliegenden Gemeinden fahren, um die jüdischen Kinder in ihrer Religion zu unterrichten.
Aus dem Staatsdienst entlassen und verhaftet
1934 heiratete Erich Jacobs Hetti (Jettchen) Neumann aus Kassel. Im November 1937 kam er als Lehrer nach Recklinghausen und wurde Lehrer im Staatsdienst. Er und seine Familie wohnten in der staatlichen Israelitischen Volksschule, Am Steintor 5. In seinen Erinnerungen schrieb Erich Jacobs:
„Meine erste Stelle als Lehrer trat ich in Recklinghausen am 2. November 1937 an. … Als ich sah, dass auf dem Schulhof eine dicke Schneeschicht lag, sagte ich zu den Kindern: ,Ab nach draußen, wir machen eine Schneeballschlacht!’ Schon wieder großes Erstaunen! Die Kinder wagten zunächst nicht, einen Schneeball auf ihren Lehrer zu werfen, und ich musste sie hierzu erst ermuntern. […] An diesem Tag hatten wir alle eine Menge Spaß.“
Während der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 brachen Recklinghäuser Nazis in ihre Wohnung ein. Erich Jacobs flüchtete in das nahe Polizeipräsidium in der Hoffnung, dort Schutz für sich und seine Frau zu finden. Stattdessen wurde er verhaftet. Die Synagoge brannte ab. Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Als die Nazis das bereits stark demolierte Schulgebäude restlos zerstören wollten, sagte ihnen jemand, dass dies ein staatliches Gebäude sei, worauf das Gebäude nicht in Brand gesetzt wurde. Die jüdische Schule Recklinghausen war eine vom Staat anerkannte Schule, das Gebäude gehörte auch dem Staat. Somit war Erich Jacobs deutscher Staatsbeamter. Erst am 1. Oktober 1939 waren die Lehrer jüdischer Abstammung aus dem Staatsdienst entlassen worden. Da wurde die Schule von der jüdischen Gemeinde Recklinghausen übernommen.
„Mein Vater war zusammen mit anderen Männern etwa zwei Wochen lang im Gefängnis“, erinnert sich die Tochter aus Erzählungen ihrer Eltern. „Als sie alle entlassen wurden, emigrierte Rabbiner Dr. Auerbach. Meine Eltern lebten dann mit anderen Familien weiter in Recklinghausen.“ Im Februar 1939 wurde der Sohn Jethro geboren. „Es waren ganz schwierige Zeiten“, so Fredel Fruhman. Obwohl ihr Vater kein Rabbiner war, übernahm er nach der Emigration Auerbachs die Funktion eines Rabbiners für die Gemeinde.
„Er wollte die Gemeinde nicht verlassen, solange es jüdische Kinder gab, die ihn als Lehrer brauchten. Erst wenn es nicht mehr genug Kinder geben sollte, um die Schule offen zu halten, war mein Vater bereit, auszuwandern.“
Zu dieser Zeit war eine Auswanderung kaum noch möglich. „Durch meine entschlossene Mutter und eine Reihe von erstaunlichen ,Wundern’ waren meine Eltern mit meinem Bruder in der Lage, Mitte September 1941 mit einem der letzten Ausreise-Transport Deutschland zu verlassen.“ Die Familie Jacobs wollte nach Ecuador und musste in Berlin die Formalitäten erledigen. Erich Jacobs schrieb in seinen Erinnerungen:
„Schließlich kam der nächste Morgen und Hetti ging erwartungsvoll zum Auswanderungsbüro. Aber was war hier für ein Tumult? Hunderte von Menschen waren dort, Männer über 65 Jahre und Frauen jeden Alters. Alle waren ausreisefertig, alle weinten und schrien vor Verzweiflung. Was war geschehen? An diesem Morgen war ein weiteres Gesetz verkündet worden. Es verhinderte die Auswanderung auch der Frauen, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Zusätzlich waren alle bisher erteilten Genehmigungen für Männer unter 65 annulliert worden. Die Menschen wurden fast verrückt. Alle ihre Hoffnungen, ihre Anstrengungen und Kämpfe waren umsonst gewesen…“
Probleme mit den Visa verhinderte eine Ausreise nach Ecuador. Da waren die Jacobs aber schon mit der „Serpa Pinto“ nach Kuba unterwegs. In Havanna stiegen sie aus und verbrachten dort die weiteren Kriegsjahre. Die „Serpa Pinto“ war ein portugiesisches Fracht- und Passagierschiff, das während des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlingsschiff für Juden berühmt wurde. Danach wanderte die Familie in die USA ein, wo die Tochter Fredel geboren wurde, die heute in New York lebt. Ihr Bruder Jethro studierte in den USA, heiratete und zog Anfang der 1960er-Jahre nach Israel, wo er in einem Kibbuz lebt. Er hat zehn Kinder und viele Enkelkinder. In Israel nennt er sich Yitro.
Auszüge aus Erich Jacobs Memoiren, die Recklinghausen betreffen, sind nachfolgend hier veröffentlicht:
Erinnerungen Erich Jacobs‘, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Ankunft in der jüdischen Gemeinde
Erinnerungen Erich Jacobs‘, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: November-Pogrom 1938 – Aus dem Bett geholt und blutend ins Gefängnis gebracht
Erinnerungen Erich Jacobs‘, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Nach dem Pogrom – jüdische Schule, Jethros Geburt, Judenhäuser – das Leben geht weiter
Erinnerungen Erich Jacobs‘, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Der Tod der Mutter und der Transport des Sarges nach Recklinghausen
Erinnerungen Erich Jacobs‘, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Letztmögliche Emigration über Spanien und Kuba in die USA. „Wir alle könnten ein ברכה sagen, dass wir frei waren!“
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