Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: November-Pogrom 1938 – Aus dem Bett geholt und blutend ins Gefängnis gebracht

Erich Jacobs konnte 1941 mit seiner Familie gerade noch rechtzeitig Deutschland verlassen und in Kuba bzw. den USA eine neue Heimat finden. Dort schrieb er seine Erlebnisse auf mit dem Hinweis an seine Familie, diese erst nach seinem Tod zu lesen. Er starb 1973. Die Tochter Fredel, in den USA geboren, stellte freundlicherweise das Manuskript zur Verfügung, aus dem seine Erinnerungen an Recklinghausen in der Zeit von 1937 bis 1941 in mehreren Artikeln veröffentlicht sind. Es sind erschreckende Erinnerungen.

Sicherlich wurde die Situation für Juden immer schlimmer, aber meine Gedanken waren so sehr mit meiner Arbeit beschäftigt, dass ich die Verschlechterung gar nicht bemerkte. Ich schloss meine Augen und wollte die reale Situation nicht sehen. Ich wollte sogar eine Familie haben. Wir waren schon seit vier Jahren verheiratet – aber hatten noch kein Baby. Ich hatte jetzt eine gute Parnossoh – und wollte ein Baby. Und Gott gewährte uns den Wunsch. Meine liebe Hetti wurde schwanger.

Die in der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 zerstörte Synagoge in Recklinghausen

Im November 1938 hörten wir, dass in Paris der Nazi Rath durch einen Juden ermordet wurde. Wir machten uns aber keine Sorgen. Sicherlich würde die „Rischus“ (jidd. Bosheit, Antisemitismus) wachsen, aber was machte das schon? Ein wenig mehr Rischus?
Am Abend vor dem 10. November gingen wir zur Familie Aaron, wo die beiden Aarons und ich Skat spielten. Um 11 Uhr gingen wir nach Hause. Auf den Straßen war es ruhig, wir gingen zu Bett. Wir waren gerade eingeschlafen, als wir durch einen schrecklichen Lärm in den Straßen geweckt wurden. Es geht immer noch gegen meine Natur, über die Ereignisse dieser schrecklichen Nacht zu reden. Ich habe bis heute meiner lieben Hetti nicht erzählt, was mit mir in dieser Nacht wirklich passiert ist, nachdem wir getrennt wurden. Auch sie fragte mich nie danach.

Unser Schlafzimmer war hell erleuchtet durch die Reflexion der brennenden Häuser. Die Synagoge brannte. Das Gemeindehaus, in dem Rabbi Selig Auerbach lebte, brannte auch! Wir konnten beide Häuser aus unserem Schlafzimmer sehen. Ich schrie: „Hetti, Feuer! Die Synagoge brennt, und drüben, das Auerbach-Haus auch!“ Aber selbst in dieser Situation habe ich nicht verstanden, was wirklich passierte. Ich dachte, das Feuer war von selbst ausgebrochen. Ich war so weit entfernt von der Politik!

Dorstener Volkszeitung vom 11./13. November 1938

Nazis stürmten grölend in unser Schlafzimmer

Doch dann bin ich aufgewacht. Mir wurde gezeigt, dass ich ein Jude war, dass keine Staats-Position mich schützte. Ich werde die nächsten Momente, die nächsten Stunden dieser Nacht nie, nie, nie vergessen. Als wir hörten, das die Fenster unseres Hauses zertrümmert wurden, die wilden Tiere von Nazis die Eingangstür mit ihren schweren Stiefeln aufbrachen, die Treppe herauf in unser Zimmer stürmten, dachte ich: Dies ist ein Pogrom – wir sind verloren, jetzt werden sie uns töten, unsere letzten Momente sind gekommen! Ich konnte nicht aufstehen, ich fühlte mich wie gelähmt, ich konnte nur Hetti in meine Arme nehmen und sagen „Sch’ma Jisrael“. Jetzt wurde die Tür zu unserem Zimmer zerschlagen. Die Tiere stürmten in den Raum! Sie sahen uns in unserem Bett: „Steh auf, du verdammter Sau-Jud!“ Wir sprangen aus dem Bett. Einige Nazis brachen in Stücke, was sie zerbrechen konnten. Sie schlugen mit ihren Knüppel auf mich. Ich erinnere mich nicht, ob sie mich wirklich getroffen haben, ich erinnere mich nur daran, dass ich schrie: „Bitte nicht berühren, meine Frau. Sehen Sie nicht, sie ist schwanger!“ Ich glaubte, dass sie ihr nichts tun, denn auch die wildesten [menschlichen] Tiere haben Respekt vor einer schwangeren Frau. Aber ich kann dazu weiter nichts sagen. Der ganze Boden war voller Glasscherben, überall Glasscherben. Ich war barfuß, bekleidet nur in meinem Nachthemd. In der Aufregung habe ich sogar vergessen, meine Brille zu nehmen – ich wurde aus dem Zimmer getrieben, lief über das Glas, die Treppe hinunter, aus dem Haus. Draußen standen andere Nazis. Als sie mich in meinem Nachthemd kommen sahen, begannen sie zu lachen. Ich rannte um mein Leben und dachte, die Polizisten auf dem Polizeipräsidium nur wenige Meter weit weg, würden mich schützen. Und ich lief und lief. Das Blut meiner verletzten Füße lief auf die Straße. Ich erreichte das Polizeigebäude. Doch im Gebäude waren keine Polizisten, sondern Nazis. „Hier kommt der Erste“, hörte ich einen rufen. Sie brachten mich hinunter in den Keller und sperrten mich in eine Zelle.

Ich schaute mich um. Ich setzte mich auf das Bett aus Holz und weinte. Ich dankte G-tt, dass er mich gerettet hatte. Ich schaute auf meine Füße. Sie bluteten. Ich wischte das Blut mit meinem Nachthemd ab. Die Schnitte waren nicht allzu tief. Was war mit Hetti passiert? War sie noch am Leben? Ich wusste es nicht. Ich hatte auch nicht viel Zeit, an sie zu denken, denn die Zellentür ging auf. Herr Aaron wurde herein gestoßen. Die Tür öffnete sich mehrmals. Mehr und mehr Männer der jüdischen Gemeinde wurden in die Zelle geschubst, bis wir uns kaum noch bewegen konnten. Die Männer erkannten mich nicht auf den ersten Blick. Im Nachthemd und ohne Brille hatten sie mich vorher noch nicht gesehen.

Postkarte 1935 mit dem Polizeipräsidium (rechts oben ) in Sichtweite der jüdischen Schulets oben

Der Nazi sagte, ich hätte die Synagoge angezündet
Die Tür öffnete sich wieder. Aber dieses Mal wurde niemand herein geschoben. Ein Nazi rief: „Der Mann ohne Anzug herauskommen!“ Ich wurde in ein Zimmer gebracht, wo ein anderer Nazi saß. „Hier, Herr Sturmtruppen-Führer (Leiter der Erstürmungstruppe) ist der Verbrecher!“ Der Nazi sagte: „Also Sie sind der Mann, der die Synagoge in Brand gesetzt hat! Sie taten es, und dann werden die Juden uns die Schuld geben, wir hätten es getan.“ Er sah mich an und sagte: „Sie werden sofort erschossen!“

Ich fing an zu weinen: „Ich habe es nicht getan! Ich bin der Lehrer in der Stadtschule! Wie konnte ich so etwas tun und unsere heilige Synagoge in Brand setzen?“ Der Nazi antwortete: „Du warst es und wirst jetzt erschossen!“ Zu einem anderen sagte er: „Nehmt ihn nach unten und erschießt ihn!“ Der andere Nazi brachte mich aus dem Zimmer. Ich dachte: Nun, dies ist das Ende, er wird mich erschießen! Solche Momente kann man nie vergessen. Er brachte mich zurück zu den anderen Juden und schloss die Tür hinter mir. Weinend sagte ich zu den anderen: „Sie werden mich erschießen!“ Dann erzählte ich ihnen, was geschehen war. Sie versuchten mich zu beruhigen: „Sie werden dich nicht erschießen.“ Aber viele von ihnen hatten wirklich geglaubt, dass es passieren würde. Doch es ist nicht passiert! Der Sturmtruppen-Führer wollte nur etwas Spaß zu haben. Er wusste ja,  dass die Nazis die Synagoge in Brand gesetzt hatten.

Da die Schule Staatseigentum war, wurde sie nicht abgebrannt

Rabbiner Selig Auerbach war in dieser Nacht in Berlin. Er kam sofort zurück. Ich erinnere mich nicht, wie ich einen Anzug bekam. Entweder sie brachten mir einen am nächsten Tag oder ich war in unserem Haus, um einen Anzug und meine Brille zu bekommen. Ich erinnere mich, dass ich in unserem Haus meine liebe Hetti traf. Ich war froh, sie zu sehen, denn obwohl ich gesagt hatte, dass sie noch am Leben war, hatte ich es nicht geglaubt, aber jetzt sah ich sie!

Unser Haus sah „nice“ aus! Viele Möbelstücke waren defekt. Unsere Anzüge, Kleider etc. waren entweder gestohlen oder auf dem Boden verstreut. Auch unser Geld war weg. Aber die Aktien, die auf dem Boden verstreut herumlagen, waren noch da. Der ganze Vorgang zeigt, dass diese Nazis Kriminelle waren. Die NS-Führung hatte gesagt: Der Zorn des deutschen Volkes brachte die Menschen dazu, Synagogen in Brand zu setzen.

Die Synagoge vor der Zerstörung

Viele der Nazis, welche die Recklinghäuser Synagoge in Brand setzten und das Schulhaus zerstörten, waren betrunken gewesen. Sie wussten nicht, dass das Gebäude, das sie zerstörten, dem Staat gehörte! Denn Jahre zuvor machte der Staat mit der jüdischen Gemeinde einen Deal: Der Staat übernahm die jüdische Schule und bezahlte die Lehrer, und die jüdische Gemeinde gab das Schulgebäude an den Staat. Erst im letzten Moment kam ein Beamter und sagte den randalierenden Nazis, dass sie dabei wären, Staatseigentum abzubrennen. Auf diese Weise wurde das Gebäude gerettet und mit ihm einige unserer nicht zerstörten Habseligkeiten. Die Haftorah Spirale (Dekade nach Barmitzwa) war nicht mehr da. Die Nazis müssen gedacht haben, dass sie Geheimnisse enthalte, die in einer geheimen Sprache abgefasst waren.  Außerdem war die wunderbare Pessach-Tischdecke weg, die Hetti für mich gestickt hatte. Ich frage mich, was die Nazis mit ihr gemacht haben? Da die Nazis das Haus für ihren eigenen Gebrauch haben wollten, wurde der Rest unserer Sachen im Keller eines Gebäudes gelagert. Später durften wir dorthin gehen und aus unseren Sachen nehmen, was wir wollten und benötigten.
Ich war glücklich, als ich Hetti wieder sah. Ich habe nie gefragt, und sie hat mir nie gesagt, wie sie aus dem Haus kam in dieser schrecklichen Nacht. Ich glaube, dass die Nazis ihr erlaubten, sich anzuziehen und sie das Haus verlassen durfte. Sie ging zur Familie Aaron.

Unsere Frauen durften uns Essen ins Gefängnis bringen

DDR-Briefmarke zum Jahrestag des Pogroms

Ich selbst wurde zurück ins Gefängnis gebracht, nachdem ich meinen Anzug und meine Brille bekommen hatte. Wir waren alle in einen größeren Raum. Dr. Selig Auerbach war auch da. Ihm wurde eine Zeitung gegeben und ihm befohlen, uns daraus vorzulesen: Alle Synagogen in Deutschland zerstört, die Juden verhaftet, sie haben eine enorme Summe Geld zu bezahlen.  Das machte einen verheerenden Eindruck auf uns. Wir haben etwas zu essen bekommen, aber Selig und ich konnte nicht essen. Erst nach ein paar Tagen aßen wir ein wenig Suppe. Einmal am Tag durften wir im Gefängnishof einen Spaziergang machen. Diese Wanderung war sehr demütigend für uns, denn es gab Nazis an allen Fenstern, die uns auslachten. Selig versuchte, uns Englisch zu lehren. Doch es konnte sich keiner darauf konzentrieren. Es gab nichts für uns zu tun. Wir hörten, wie die nahe Synagoge abgerissen wurde – es war schrecklich. Nachts schliefen wir auf großen Säcken mit Stroh. Am nächsten Morgen mussten wir den Raum reinigen. Bald bekamen die Frauen die Erlaubnis, uns Essen zu bringen. Eines Tages brachte mir Hetti das Essen und flüsterte mir zu: „Erich, was dir auch immer passieren wird, nicht den Mut verlieren!“ Ich verstand nicht, was sie meinte, aber meine liebe Hetti wusste schon, dass am nächsten Tag wir alle in ein Konzentrationslager kommen sollten. Die Frauen wussten das, aber keine von ihnen, außer Hetti, sagte es ihrem Mann! Doch G-tt hat uns geholfen! Wie?

Das Konzentrationslager war überfüllt

Der Gestapo-Chef in Recklinghausen, ein alter, dicker Mann, schrie uns immer an, wenn er uns sah, um Eindruck auf andere Nazis zu machen, dass er ein eingefleischter Hitler-Anhänger war. In Wirklichkeit hatte er Mitleid mit uns. Viele der alten jüdischen Bürger waren ihm jahrelang bekannt und er wusste, dass wir alle ehrlich und gute Leute waren. Er wollte seinen Job behalten und „spielte“ seine Rolle in der Nazi-Partei. Wer das nicht wusste, betrachtete ihn als den „Teufel“ in Person. Er hatte wie alle Gestapo-Führer in Deutschland den Auftrag erhalten, bereits vor der Kristallnacht einen Ort zu finden, wo man die Juden hinbringen konnte. Der Leiter der Gestapo in Recklinghausen konnte den Abtransport seiner Juden – also von uns – für Tage verzögern. Erst als die Verzögerung von seinen Vorgesetzten bemerkt wurde, konnte er den Transport nicht länger hinausschieben. Er befahl, für den andern Tag Brote für die Transportverpflegung vorzubereiten. Aber dann, im letzten Moment, sagte das als unseren Unterbringungsort vorgesehne KZ wegen Überfüllung ab. Daraufhin wurde die gesamte Aktion abgebrochen! Auf diese Weise bewahrte G-tt uns von vielen, vielen Katastrophen. Wir Juden aus Recklinghausen gehörten zu den wenigen Juden in Deutschland, die in diesen schrecklichen Tagen nicht ins KZ geschickt wurden.

Anzeige im "Westdeutschen Beobachter" vom 1. März 1939, nachdem die Synagoge abgebrochen war

Ich entschied mich jetzt doch zur Auswanderung – irgendwann

Was sollte sie jetzt mit uns im Gefängnis tun? Der Befehl kam, dass die Geschäftsleute nach Hause geschickt werden sollten, um ihre Unternehmen an Arier abzugeben. Einer nach dem anderen wurde freigelassen. Sie ließen auch Dr. Selig Auerbach gehen. Als Rabbi hatte er  sehr bald die Gelegenheit, Deutschland zu verlassen. Und er ging. Ich selbst war auch frei. Ich musste mich nun als Lehrer weiter um die jüdischen Kinder kümmern. Ich hatte etwa zwei Wochen im Gefängnis verbracht. Nun war ich für die Auswanderung „ready“. Aber jetzt war es fast zu spät, denn eine Auswanderung war ziemlich unmöglich geworden. Es sollte noch drei furchtbare Jahre dauern, bis wir Deutschland verlassen konnten, fast im letzten Moment.

Georg Möllers in "Schalom"-Sonderausgabe 9. November 1988 (Dorsten)

 

Weitere thematische Auszüge aus seinen Memoiren …

Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Ankunft in der jüdischen Gemeinde

Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: In der Israelitischen Volksschule wurden alle Kinder in einem Raum unterrichtet

Erinnerungen Erich Jacobs’,  jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Nach dem Pogrom – jüdische Schule, Jethros Geburt, Judenhäuser – das Leben geht weiter

Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen. Nach dem Tod der Mutter holte der Sohn den Sarg nach Recklinghausen

Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Letztmögliche Emigration über Spanien und Kuba in die USA. „Wir alle könnten ein ברכה sagen, dass wir frei waren!“

… und sein Leben:

Erich Jacobs – ein jüdischer Lehrer in Recklinghausen konnte mit seiner Familie noch 1941 nach Kuba emigrieren. „Das war ein Wunder“ sagte er

 

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