Das Deutsche Reich. Über die Frage, ob das Deutsche Reich de facto und formell nach der Verhaftung der letzten Reichsregierung (Regierung Dönitz) am 23. Mai 1945 und der „Junideklaration“ der Alliierten vom 5. Juni 1945 untergegangen ist, streiten sich die Historiker. Gemeinhin werden nur Monarchien als Reiche (König- oder Kaiserreich) bezeichnet. Nach dem Untergang des deutschen Kaisertums behielt jedoch die Weimarer Republik die Bezeichnung Deutsches Reich bei. Auch nach der Machtübernahme, als das bundesstaatliche Element durch Gleichschaltung der Länder entfiel, hieß Deutschland weiterhin so. In der Propaganda wurde allerdings nach den Anschluss Österreichs als Eigenbezeichnung der Begriff „Großdeutsches Reich“ verwendet.
Das Dritte Reich. Die Bezeichnung „Drittes Reich“ ist in der Geschichte des Deutschen Reiches eine irrtümlicherweise oft gebrauchte Bezeichnung für die Zeitspanne zwischen der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Das Wort „Drittes Reich“ soll den nationalsozialistischen deutschen Staat als Nachfolger des Heiligen Römischen Reichs (1. Reich) und des Bismarck-Reichs (2. Reich) kennzeichnen. Jedoch bedarf ein „Reich“ seiner Ausrufung und seiner eigenen, neuen Verfassung. Beides war beim „Dritten Reich“ jedoch nicht der Fall gewesen. Es wurde weder proklamiert, noch wurde eine neue Verfassung angenommen. Die „Neue Weimarer Reichsverfassung“ von 1919/20 blieb nämlich bis über das Kriegsende hinaus gültig, war jedoch durch die Notstandsgesetzgebung nur noch teilweise in Kraft, und in einigen Teilen abgeändert worden. Der Begriff „Drittes Reich“ selbst wurde 1939 offiziell verboten. Er hat eigentlich einen christlich-philosophischen Hintergrund, und tauchte 1923 das erste Mal auf.
Das Tausendjährige Reich. In der mittelalterlich-christlichen Heilserwartung spielte das tausendjährige Reich Christi auf Erden am Ende der Geschichte (nach der Offenbarung des Johannes) eine große Rolle. Als angeblicher Vollender der deutschen Geschichte usurpierte der Nationalsozialismus den Begriff zur Bezeichnung und Überhöhung seiner Herrschaft. Gerade wegen der religiösen Assoziation lehnte Hitler ihn ab, verkündete aber in seiner Vorliebe für Visionäres selber auf den Reichsparteitag 2934, es werde „in den nächsten tausend Jahren keine Revolution mehr in Deutschland“ geben, und sagte bei Beginn des deutschen Angriffs im Westen (10. Mai 1940), dieser werde das deutsche Schicksal „für die nächsten tausend Jahre“ bestimmen.
Fortbestand des Reiches – Ansicht der Bundesrepublik
Die Bundesrepublik geht von Anfang an vom Fortbestand des Deutschen Reiches aus und vertrat zunächst die Auffassung, mit diesem sowohl als Rechtssubjekt als auch in staatsrechtlicher Hinsicht identisch zu sein. Hieraus leitete sie ebenfalls einen Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland ab, den sie auch mittels der Hallstein-Doktrin durchzusetzen versuchte. Auch das Bundesverfassungsgericht war in zahlreichen Entscheidungen vom Fortbestand des Deutschen Reiches ausgegangen. – BVerfGE 2, 1 (56, Zit. Abs. 254) von 1952 – SRP-Verbot:
„In wissenschaftlichen Erörterungen ist die Tatsache, dass nur die Wehrmacht und nicht die Regierung bedingungslos kapituliert hat, lediglich als Beweis für die Kontinuität eines einheitlichen Deutschland gewertet worden. Die Alliierten haben danach die Staatsgewalt in Deutschland kraft eigenem Okkupationsrecht, nicht kraft Übertragung durch eine deutsche Regierung ausgeübt; die Staatsgewalt der später neu gebildeten deutschen Regierungsorgane beruht nicht auf einer Rückübertragung durch die Alliierten, sondern stellt ursprüngliche deutsche Staatsgewalt dar, die mit dem Zurücktreten der Okkupationsgewalt wieder frei geworden ist.“
„Diese Auslegung des Art. 11 GG ergibt sich nicht nur aus der im Grundgesetz verankerten grundsätzlichen Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk, sondern nicht minder aus der ebenfalls grundsätzlichen Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsgebiet, und insbesondere von der gesamtdeutschen Staatsgewalt: Die Bundesrepublik Deutschland als der berufene und allein handlungsfähige Teil Gesamtdeutschlands, der staatlich wieder organisiert werden konnte, hat den Deutschen der sowjetischen Besatzungszone die Freizügigkeit auch wegen dieser grundsätzlichen Auffassung von dieser ihrer Position gewährt. Sie hat damit zugleich den Anspruch auf Wiederherstellung einer umfassenden deutschen Staatsgewalt gerechtfertigt und sich selbst als die Staatsorganisation des Gesamtstaates legitimiert, die bisher allein in Freiheit wieder errichtet werden konnte.“
BVerfGE 3, 288 (319 f., Zit. Abs. 92) von 1954 – Berufssoldatenverhältnisse:
„Die Annahme eines solchen Restbestandes gegenseitiger Rechtsbeziehungen setzt voraus, daß das Deutsche Reich als Partner eines solchen Rechtsverhältnisses über den 8. Mai 1945 hinaus fortbestanden hat, eine Rechtsauffassung, von der das Bundesverfassungsgericht […] ausgegangen ist „Die rechtliche Struktur des staatlichen Partners hat sich freilich grundlegend gewandelt. Die Gewaltherrschaft brach zusammen. Das änderte aber nach herrschender und auch vom Gericht geteilter Auffassung nichts am Fortbestand des Deutschen Reichs und daher auch nichts am Fortbestand der von ihm geschlossenen internationalen Verträge, …“
„Das Deutsche Reich, welches nach dem Zusammenbruch nicht zu existieren aufgehört hatte, bestand auch nach 1945 weiter, wenn auch die durch das Grundgesetz geschaffene Organisation vorläufig in ihrer Geltung auf einen Teil des Reichsgebiets beschränkt ist, so ist doch die Bundesrepublik Deutschland identisch mit dem Deutschen Reich.“
Grundgesetz geht vom Fortbestand des Reiches aus
Das Bundesverfassungsgericht Karlsruhe (Präsidentin Prof. Dr. Jutta Limbach) urteilte am 31. Juli 1973 [BVerfGE Bd. 36, 1-37 (LT1-9) BGBl I 1973, 1058] und am 21. Oktober 1987 [Bd.77, S.137, 150, 154, 160, 167] einstimmig, dass das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen sei, sondern fortbestehe:
„Die Kapitulationsurkunden der Deutschen Wehrmacht vom 8. Mai 1945 beendeten zwar die Kampfhandlungen, nicht jedoch die Existenz des Deutschen Reiches. Die Regierung des Reiches wurde am 23. Mai 1945 verhaftet. Ein Friedensvertrag wurde nicht geschlossen, weder mit der Bundesrepublik noch mit der DDR. Juristisch steht er heute noch aus. … Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. … Das Deutsche Reich (vgl. BVerfG, 1956-08-17, 1 BvB 2/51, BVerfGE 2, 266 (277); 3,288 (319f); 5,85 (126); 6,309, 336, 363) besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig … Verantwortung für Deutschland als Ganzes (d .i. Deutsches Reich) tragen – auch – die vier Mächte. Die BRD ist nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat Deutsches Reich, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings teilidentisch, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht. Die Bundesrepublik umfasst also, was ihr Staatsvolk und ihr Staatsgebiet anbelangt, nicht das ganze Deutschland unbeschadet dessen, dass sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts Deutschland (Deutsches Reich) … und ein einheitliches Staatsgebiet Deutschland (Deutsches Reich) … anerkennt. Sie (die Bundesrepublik) beschränkt staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die BRD stimmt der Erklärung der vier Mächte zu und unterstreicht, dass die in dieser Erklärung erwähnten Ereignisse und Umstände nicht eintreten werden, d. h., dass ein Friedensvertrag oder eine Friedensregelung nicht beabsichtigt ist.“