Von Wolf Stegemann
Maurice Charton (72), ehemaliger französischer Kriegsgefangener, verbrachte seine gesamte Gefangenschaft in Dorsten. Er erinnerte sich:
„Junge, ausgemergelte russische Frauen und Mädchen, in Lumpen gehüllt, mussten am Dorstener Bahnhof Waggons mit Lebensmitteln, Zement und Kohle unter den Augen jener wohl gekleideten und wohlgenährten Herren entladen, die sich über sie lustig machten. Die Russen lebten in einem Lager zusammengepfercht wie Tiere. Es lag in der Nähe der Arbeitsstelle eines Kameraden: ein kleiner Bauernhof, der die Rückstände aus den Abortgruben verwendete. Abortgruben, in denen Fetusse und Leichen von Neugeborenen lagen, deren russische Mütter nicht in der Lage waren, sie am Leben zu erhalten.“
Eisengießerei-Personal war bekannt für brutale Behandlung und Mord
Auf dem Werksgelände der Eisengießerei (heute Dorstener Maschinenfabrik) standen drei mit etwa 500 sowjetischen Kriegsgefangenen belegte Baracken. Die Sterberate bei den Gefangenen war hoch. Die Bewachung der Kriegsgefangenen oblag dem Militär. Für die Arbeitsaufsicht sorgten betriebseigene Aufseher. Betriebsleiter K. war für den Arbeitseinsatz verantwortlich und der Prokurist Ernst Junker für die Verpflegung der Kriegsgefangenen. Ein Augenzeuge, der nicht genannt werden will, erinnert sich: „1942 brachen drei Russen aus. Einer wurde lebend zurückgebracht. Betriebsleiter K. ließ ihn in sein Büro bringen, holte aus dem Schrank einen Karabiner, lud durch und machte Anstalten, den Russen zu erschießen. Er wollte ein Exempel statuieren. Der vor ihm kniende Sowjetsoldat betete und jammerte in seiner Not, küsste dem vor ihm stehenden K. die Füße. Dieser stieß ihn weg. Da verstummte der Russe, er betete still. K. wurde kreidebleich, stellte den Karabiner weg, holte aus seiner Tasche Zigaretten, zündete sich eine an und gab auch dem Russen eine ab…
Beim Koksverladen arbeitete ein Gefangener dem Aufseher zu langsam. Den anderen Gefangenen zur Warnung ließ er ihn von russischen Vorarbeitern verprügeln. Der Unglückliche starb an seinen Verletzungen. Die Leiche wurde mit Koks zugedeckt und im Heizkessel verbrannt. – Als ein Kriegsgefangener beim Brotdiebstahl ertappt wurde, vernahmen ihn Aufseher im Heizungskeller. Später stellte sich heraus, dass sie ihn dort unten totgeschlagen und die Leiche in die Feuerungsanlage gesteckt hatten.“
Diese drei Fälle sind durch Augenzeugen verbürgt. Zudem waren die Vorkommnisse in der Eisengießerei nach dem Kriege Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gegen den Direktor der Eisengießerei, Junker, dem weder Schuld an den Vorkommnissen noch Mitwissen nachgewiesen werden konnte.
Der 17-jährige russische Junge Nicolaij Efanow, der in der Eisengießerei arbeitete, wurde am Tag von Hitlers Geburtstag, am 20. April 1944, erschlagen, weil er den Hitlergruß mit den Worten tätigte „Heil Hitler-Scheiße!“ (siehe seine Geschichte an anderer Stelle).
Leichen wurden zum Russen-Friedhof gebracht
Wanda Hensel, geborene Kramm, wohnte auf der Borkener Straße. Als junges Mädchen sah sie vom Fenster aus mehrmals in der Woche den Fuhrunternehmer Fischer mit einem offenen Pferdewagen in Richtung Friedhof fahren:
„Er transportierte eine große Kiste, auf der Russen und Russinnen saßen, die auf dem Friedhof wohl die Gräber ausheben mussten. Wegen der Kälte hatten die Frauen ihre Beine mit allen Zementsäcken umwickelt, die mit Draht festgehalten wurden.“
Gustav Sobiech trat 1919 dem Spartakusbund bei und ein Jahr später der KPD. 1933 wurde er verhaftet und kam erst 1934 wieder frei. Als er von seiner Mutter hörte, dass zwei- bis dreimal in der Woche ein Pferdewagen mit Leichen russischer Ostarbeiter oder Kriegsgefangener zum Friedhof fuhr, wollte er es genau wissen. Er versteckte sich in der Nähe des Friedhofs:
„Es ist ein zwei Meter tiefes und etwa 15 Meter langes Massengrab zu sehen gewesen. Als der Wagen angekommen war, stiegen zwei Russen auf den Wagen hinauf und einer hinunter ins Grab. Die beiden auf dem Wagen packten die mit schwarzem Packpapier und Draht umwickelten Bündel und warfen sie in das Loch. Ich hatte den Eindruck, dass keines der Bündel mehr als 50 Kilogramm wog. Über die Leichen wurden dann eine Schicht Chlorkalk und Sand geschaufelt.“
Landwirt Föcker-Holtkamp, Altendorf-Ulfkotte, hatte neben französischen Kriegsgefangenen auch einen russischen Ostarbeiter beschäftigt:
»Wir nannten ihn Iwan. Als der Krieg zu Ende war, schloss er sich einer Gruppe Russen an, die bis zur Befreiung in den Drahtwerken Brune arbeiteten. Unser Iwan war dort beschäftigt, ehe er zu mir kam. Offensichtlich hatte er keine guten Erinnerungen an diesen Betrieb. Die Russen plünderten die Villa des Firmeninhabers. Unser Iwan fand in den Schränken ein Hemd und den schwarzen Frack des Chefs. Beides zog er sich an, obwohl es ihm nicht passte. So kam er zu uns zurück, warf sich aufs Bett und sagte fröhlich: ,Ich jetzt Brune, ich Chef und großes Nazi!’“
Schlechtes Essen im Arbeitslager der Zeche Fürst Leopold
Auf der Schachtanlage Fürst Leopold arbeiteten etwa 700 sowjetische Ostarbeiter und Kriegsgefangene vieler Nationen. Ein „Lager Fürst Leopold“ befand sich an der Eisenbahnbrücke in der Nähe der Ellerbruchstraße. Lagerführer war der ehemaliger österreichische SA-Mann Schw. Bei Kriegsende haben ihn die russischen Arbeiter festgenommen, verprügelt und den Alliierten übergeben mit der Bemerkung: „Hat viel russisches Blut getrunken!“
Ein ehemaliger Schichtführer erinnert sich an eine Episode mit dem NSDAP-Ortsgruppenleiter Berke: Wegen des schlechten Essens hatten die russischen Arbeiter gestreikt. Das war verboten. Sie konnten wegen Arbeitsverweigerung erschossen werden. Die Zechenleitung holte den NSDAP-Ortsgruppenleiter Berke, der selbst Reviersteiger war. Er hielt vor den murrenden Russen eine Rede. Sinngemäß sagte er: Wer arbeitet, muss auch essen! Ihr arbeitet, also müsst ihr auch essen! Danach ging Berke in die Küche, in der von Deutschen das Essen für die Russen gekocht wurde. Berke kostete die Suppe und kippte sie als ungenießbar um. Es war allgemein bekannt, dass das deutsche Küchenpersonal die für russische Arbeiter bestimmten Lebensmittel verschoben hat. Auf Anfrage nach dem Einsatz und Verbleib der russischen Kriegsgefangenen teilte die Bergbau AG Lippe (Herne) am 29. Juni 1984 mit:
„Wir […] bestätigen Ihnen, dass während der Kriegszeit auf unserer Schachtanlage Kriegsgefangene beschäftigt waren. Trotz intensiver Nachforschungen müssen wir Ihnen jedoch mitteilen, dass wir keinerlei schriftliche Unterlagen über diese Einsätze besitzen.“
Walter Rentmeister, Lünsingskuhle, berichtet:
„Russische Frauen stellten im Betrieb Nachbarschulte an der Gladbecker Straße Barackenteile und Dachpappe her. Firmenchef Heinrich Nachbarschulte bemühte sich stets, das Los der Frauen und Mädchen nach seinen Möglichkeiten zu bessern. Zum Beispiel bekamen die Russinnen bei einem Betriebsfest neue und warme Unterwäsche. Nachbarschulte fuhr bis in die Büdericher Gegend, um für die Arbeiterinnen zusätzliche Lebensmittel (Kohl) zu besorgen.“
Das Industriewerk Stewing beschäftigte während des Krieges ebenfalls russische Arbeiterinnen. Albert Stewing erinnert sich:
„Als Soldat hatte ich Ende 1944 Urlaub und konnte den Betrieb meines Vaters besichtigen. Es waren hier an der Barbarastraße Baracken errichtet, in denen von russischen Frauen Tarnmatten hergestellt wurden. Die neuen Unterkunftsbaracken waren damals vorbildlich mit Schlaf- und Sanitärräumen ausgestattet. Es war meinem Vater ein großes Anliegen, den Frauen zusätzliche Lebensmittel zukommen zu lassen. Ich habe niemals Klagen meines Vaters über die Ostarbeiterinnen gehört. Sie haben hier wohl ordentlich gearbeitet.“
Große Arbeitslager in Wulfen
In Wulfen gab es mehrere Ostarbeiterlager (Gemeinschaftslager, Amann-Lager, Lager Deuten), über die bislang nicht viel in Erfahrung zu bringen war. Auf dem Gelände der Heeresmunitionsanstalt (Muna) waren in einem so genannten Gemeinschaftslager mehr als 600 russische und polnische Ostarbeiter/innen untergebracht. Lagerführer (für „Aufsicht und Kontrolle“) war der Hervest-Dorstener SA-Mann Ferdinand Aßmann, der im März 1945 drei englische Kriegsgefangene tötete und nach dem Krieg in einem Gefängnis der Engländer Suizid begangen haben soll.
Alle bei der Muna beschäftigten Ostarbeiter stehen namentlich genannt mit Geburts-, Einstellungs-, Entlass- und Lohngruppendaten in den erhalten gebliebenen Personallisten. Der Stundenlohn betrug zwischen 36 und 52 Pfennigen. Interessant ist die Spalte „Entlassen“. In ihr ist vermerkt, wer geflohen und wieder eingefangen oder wer in das Straflager der CWH nach Marl-Hüls überstellt worden war.
Kasimierz Tokarski erhängte sich am 26. August 1942 auf dem Bauernhof in Wulfen, auf dem er arbeitete. Der 34-jährige Michel Oleynikow (Pole) starb am 15. Juni 1942 durch Bauchschuss. Am 31. August 1942 wurde der aus dem Lager der Eisengießerei entflohene Russe Anton Egorow in Wulfen „auf der Flucht erschossen“. Iwan Cimbal, geboren am 20. September 1922, wurde am 6. Juli 1944 wegen „Gehorsamsverweigerung“ erschossen. Die Beerdigung fand einen Tag später auf dem Wulfener Friedhof statt. Am 29. Dezember 1944 kamen um 11.45 Uhr bei einem Explosionsunglück 13 russische Männer und Frauen zu Tode. An Spiritusvergiftung starb am 30. März 1945 der Pole Alphons Karezewski (34) auf einem Bauernhof in Wulfen. Er wurde im Garten begraben. Die Liste ließe sich fortsetzen.