Von Wolf Stegemann
Auf Einladung der Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ besuchte 1984 der frühere holländische Zwangsarbeiter Gerard Weijers, geboren 1924 in Nijmwegen, erstmals wieder Dorsten, wo der Holländer in den Jahren des Krieges leben musste. Er arbeitete von 1942 bis 1945 im Stahlwerk Mark im sauerländischen Wengern. Von dort konnte er im Februar 1945 fliehen. Er versuchte, sich nach Holland durchzuschlagen, blieb in Lembeck hängen und versteckte sich dort im damaligen Töns-Bauernhof in Lembeck-Endeln, wo er das Kriegsende erlebte. Seine Geschichte als Zwangsarbeiter fing im Februar 1942 in seinem Wohnort in Nijmwegen an.
Auf den Straßen der von Deutschen besetzten holländischen Stadt spielten sich täglich Krawalle zwischen den holländischen Nazis, den Schwarzhemden, ähnlich der SA, und den anderen Bürgern der Stadt ab, die sich nicht von der deutschen Besatzung und den eigenen Nazis einschüchtern lassen wollten. Als eines abends wieder einmal solche Krawalle stattfanden, ertönten Polizeipfiffe und Kommandos. Weijers, damals gerade 18 Jahre alt, wurde mit anderen Bürgern festgenommen und zur nächsten Polizeiwache gebracht. Dort teilte ihm die deutsche Polizei mit, dass er sich anderntags um 9 Uhr mit Gepäck am Bahnhof von Nijmwegen einzufinden habe. Sollte er nicht erscheinen, drohten Sippenhaft, Geiselaktionen und Konzentrationslager.
Mit dem Sonderzug zur Zwangsarbeit deportiert
Mit einem Sonderzug fuhren er und zwanzig andere Zwangsdeportierte ins Deutsche Reich direkt nach Wengern im Sauerland. Ausgestattet mit Pass und Zivilkleidung ging es ihnen dort besser als den gefangenen Russen, Franzosen und Italienern sowie den Ostarbeitern und Ostarbeiterinnen, die hinter Stacheldraht untergebracht waren. Weijers konnte sich im Umkreis von 25 Kilometern frei bewegen und wurde Vertrauensmann der Zwangsarbeiter. Bei Fliegerangriffen mussten Gefangene und Zwangsarbeiter zusammen mit den deutschen Vorarbeitern an den Siemens-Martin-Öfen bleiben.
Insgeheim sabotierten er und einige seiner Leidensgenossen die Stahlproduktion für Panzertürme und Panzerräder, sie schnitten Kabel durch und verhinderten den Stahlguss, ließen Schläuche, Öfen und Rohre platzen. Das ging nicht lange gut. Vier Russen wurden von dem Ingenieur K. eigenhändig erschossen und die Leichen zur Abschreckung tagelang liegen gelassen. Als Weijers den Hinweis bekam, dass er anderntags verhaftet werden sollte, flohen er und drei andere Holländer noch in der Nacht.
Sie schliefen tagsüber verborgen im Wald und marschierten nachts Richtung Norden. Ein LKW brachte die vier in die Nähe von Gelsenkirchen. Irgendwie kamen sie zu Fuß nach Lembeck, wo sich Weijers von den anderen trennte, weil er sich verstecken und auf die Befreiung warten wollte. Seine Kameraden schlugen sich bis Berlin durch, wurden dort festgenommen und überlebten.
Gerard Weijers hackte Holz auf den Töns-Hof
In der Lembecker Gaststätte „Altes Brauhaus“ gab sich Weijers als freiwilliger holländischer Arbeiter aus, der in Duisburg ausgebombt war und für Deutschlands Endsieg arbeiten wollte. Er fragte den Ortsbauernführer B., wo er arbeiten könne. Der Ortsbauernführer verwies ihn an den gräflichen Pachthof, der von einer Frau Töns bewirtschaftet wurde und der männliche Hilfskräfte fehlten. Gerard Weijers hackte Holz, arbeitete im Wald und ging sonntags in den Gottesdienst in die Michaeliskapelle. Ansonsten ließ er sich im Dorf nicht sehen, weil er Angst vor Polizeikontrollen hatte. Dann wäre er unweigerlich verloren gewesen. Nur einmal fragte ihn der Polizist Bügers, was er hier mache. Weijers erzählte ihm seine Legende von wegen Arbeit für den Endsieg. Ob Bügers ihm glaubte oder nicht – der Polizist verriet ihn jedenfalls nicht.
Als die Amerikaner in die Nähe von Lembeck kamen, hisste Weijers am Hof Töns ein weißes Betttuch und stellte sich in den Türrahmen, um die Befreier zu empfangen und die Familie, bei der er wochenlang Unterschlupf fand, zu schützen. Zwei Kanadier standen plötzlich vor ihm und riefen „Hands up!“. Er hob die Hände und sah, wie Frau Töns aus dem Stall kam und in jeder Hand einen Eimer frisch gemolkener Milch hatte. Sie rettete die Situation und somit ihren Schützling. Gerard Weijers konnte sich nicht ausweisen. Nach vielen Überprüfungen in Auffanglagern kehrte er in die Heimat zurück. Als er nach fast 40 Jahren seiner ehemaligen Lebensretterin Frau Töns gegenüberstand, die mittlerweile in Reken lebte, rannen beiden Tränen über das Gesicht.
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Quelle: Wolf Stegemann in RN vom 30. Juni 1984