Editorische Vorbemerkung: Dies ist eine authentische Schilderung über die letzten Kriegswochen und ersten Nachkriegstage, aufgeschrieben am 15. Juni 1945 von dem Landwirt Heinrich Ostrop auf dem Gut Hohenkamp in Holsterhausen. Der Text wurde nur unwesentlich korrigiert. Ostrop beschreibt, was er von dort gesehen und erlebt hat. Seine Sichtweise ist noch geprägt von den zurückliegenden Jahren, wenn er auch die örtlichen Parteifunktionäre und sinnlosen Durchhalteparolen der Wehrmacht als idiotisch und sinnlos bezeichnet. Ostrop schreibt dies auch aus einer Situation heraus, die vor allem ihn unmittelbar betrifft. Banalitäten des Alltags, beispielsweise die mangelnde Postzustellung in den letzten Kriegswochen, werden für ihn u. a. zu Sorgen des Alltags. Eine Information ist neu. Sie kommt in wenigen Zeilen am Ende des Artikel vor: Dorstener plünderten die Wohnungen von ausgebombten Mitbürgern.
Nachdem in der letzten Zeit nur vereinzelte Bombenabwürfe erfolgt waren, kam es am Freitag, den 9. März, zu großen Angriffen auf Hervest-Dorsten. Besonders die Zeche Fürst Leopold wurde schwer mitgenommen. Auch das Bahnhofsviertel wurde schwer getroffen, sowie die Fabrik von Duesberg und die Eisengießerei. Unter vielen anderen kam auch der Markscheider Schulte, unser Nachbar in seinem Büro in der Zeche zu Tode. Am selben Tag bekam das Paterskloster in Dorsten mehrere Treffer ab; es gab viele Tote unter den Menschen, die sich vor dem Luftschutzkeller unter dem Paterskloster stauten, unter anderen die Schwiegertochter von Spengler und der Buchhändler Hoffrogge. Am 12. März, dem Begräbnistage von Schulte, wurde Hohenkamp in der Nähe der Villa Schulte schwer getroffen, keine halbe Stunde nach Beendigung des Leichenkaffees in der Villa wurde diese stark beschädigt. Bei uns wurden die Dächer und Fensterscheiben sehr stark mitgenommen.
Zur gleichen Zeit wurde an dem Güterbahnhof Dorsten ein Militärzug bombardiert. 81 Soldaten wurden sofort getötet. 40 starben noch im Lazarett in der Bonifatiusschule, so dass 121 Soldaten ums Leben kamen. [Der Autor meint hier die Bombardierung des Soldatenzuges an der Holtstegge am 12. März 1945, siehe Artikel Holsterhausen, am Montag, den 12. März 1945, um 11.30 Uhr: Über 70 Tote bei der Bombardierung eines Soldatenzugs an der Holtstegge].
Ebenfalls am 12. März hatte Dorsten zwei schwere Angriffe, wobei das Haus der Spar- und Darlehenskasse vollständig vernichtet wurde. Das Nebenhaus, die Druckerei Weber, wurde auch so beschädigt, dass es unbewohnbar wurde. Herr Weber und Frau kamen abends 7 Uhr mit einem Handwagen mit wenigen Habseligkeiten beladen, zu uns nach Hohenkamp, wo sie gerne aufgenommen wurden. In den nächsten Tagen haben wir noch in der Morgenfrühe verschiedene Möbelstücke, Haushaltsgeräte und Kleider aus dem Hause herausgeholt. Wegen der Jabotätigkeit [Beschießen der Menschen mit Bordkanonen durch Jagdbomber] wurde das Rettungswerk bald unmöglich gemacht, da man bei Tage kaum die Straßen betreten konnte.
Jeden Tag mehrere Bombenangriffe – Alarmsirenen waren ausgefallen
Am 15. März war der große Angriff auf die Gartenstraße, welche restlos zerstört wurde. Auch die Häuser an der Neuborkener Straße und an der Altborkener Straße sowie der Güterbahnhof wurden restlos zerstört. Die Molkerei hatte zum zweiten Mal was abbekommen. Es gab viele Tote. Darunter auch viele Soldaten, die in der Gartenstraße einquartiert waren. Der Angriff kam so überraschend, dass viele Leute keine Zeit mehr hatten, in den Luftschutzkeller zu gehen. Auch gingen die Sirenen nicht mehr, weil auf „Leopold“ alle Lichterzeugungsanlagen zerstört waren. Wochenlang haben wir uns mit Kerzen behelfen müssen. Es war ein Glück, dass Webers einen Vorrat an Kerzen mitgebracht hatten und auch eine Kanne Petroleum, sonst hätten wir ganz im Dunkeln gesessen, da es keine Kerzen und auch kein Petroleum zu kaufen gab. Bei dem Angriff auf die Gartenstraße kam Frau Honigmann zu Tode, auch der jüngste Sohn von Lahrmann [siehe Artikel: Anni Lahrmann holte ihren aufgebahrten Bruder heimlich unter der Hakenkreuzfahne hervor und begrub ihn] sowie Frau Moos, die Witwe des Gendarmeriewachtmeisters Moos.
Angriff auf das Militärverpflegungslager in Hervest-Dorsten am 18. März
Die nächsten Tage brachten ständige Angriffe der Jabos. Es war nur ein Rennen zum Luftschutzkeller, an Arbeiten war kaum noch zu denken. In diesen Tagen fielen noch fünf Bombenteppiche rund um unseren Hof, in einem Umkreis von 200 Metern. Die Dächer wurden wieder schwer beschädigt, die Fensterscheiben waren fast restlos kaputt. Am 18. März fand wieder ein Angriff auf Dorsten statt, und zwar wurde das Bahnhofsviertel bis zum Gymnasium zerstört. Die Genossenschaft brannte ab, große Vorräte wurden zerstört, da sich dort ein Militärverpflegungslager befand. Am 20. März wurde die Außenstadt nach der Hardt zu angegriffen. Hierbei ging der Frankenhaushof vollständig zugrunde. An diesen Tagen verließ die ganze Bevölkerung tagsüber die Stadt, soweit sie hierzu imstande war, so dass schon da die Stadt den Eindruck einer toten Stadt machte, aber es sollte noch viel, viel schlimmer kommen.
Großangriff auf die Altstadt am 22. März
Am 22. März kam der Großangriff auf Dorsten, welcher etwa 20 Minuten dauerte, und wobei 1.500 Bomben, darunter schwerste Kaliber, auf die Stadt geworfen wurden. Man sagt, es sei ein Racheangriff für die schwere Misshandlung eines abgeschossenen englischen Fliegers in der Flakkommandantur im Paterskloster gewesen.
Die Detonationen bei dem Angriff waren so furchtbar, dass man hier im Luftschutzkeller noch glaubte, der nächste Teppich gelte Hohenkamp. Nach dem Angriff war der Himmel über Dorsten schwarz von Rauch und Asche. Viele Brände brachen aus, welche noch tagelang anhielten. Dieser Angriff war für die Altstadt das Ende. Die Bevölkerungszahl fiel auf die Hälfte [Diese Behauptung ist unverständlich]. Kein unbeschädigtes Haus stand mehr. Was noch durch Dachreparatur zu bewohnen gewesen wäre, wurde bei dem folgenden Kampf um Dorsten durch Artillerievolltreffer zerstört, wie z. B. Herberts Wohnung am Hochstadenwall.
Am 24. März wurde die Anstalt Landesaufnahmeheim [Maria Lindenhof], in der ein Lazarett untergebracht war, das aber schon geräumt war, schwer bombardiert, so dass der landwirtschaftliche Teil fast ganz zerstört wurde. Die Anzahl der Bombentrichter erhöhte sich auf über 50. Der Kuhstall stürzte ein und begrub 12 Kühe unter einem schweren Eisenträger. Nur zwei Kühe konnten noch geschlachtet werden, zehn liegen heute, am 15. Juni, noch unter den Trümmern. Die Schweine konnten noch gerettet werden, mussten aber alle abgeschlachtet werden, da der Betrieb ganz verlassen war. Eine Sau von vier Zentnern konnte noch nach 12 Tagen lebend von den Nachbarn gefunden werden. Im Wert, zwischen Lippe und Kanal, wurden viele Bomben geworfen. Hierbei waren etliche mit Zeitzündung, welche im Laufe des Nachmittags restlos hoch gingen.
Am selben Tag haben wir auch unsere Betten im Keller aufgestellt, und alle wertvollen Sachen in den Pflanzkartoffelkeller gebracht. Leider waren sie auch hier nicht sicher. Nach einigen Tagen waren die Türen erbrochen und viele Sachen, unter anderem sieben Anzüge, die Weber gehörten, gestohlen. Der Verdacht fiel auf unsere eigene Einquartierung. Leider wurde der Verlust zu spät bemerkt, als die Diebe schon über alle Berge waren. Über eine Woche haben wir im Keller geschlafen, einige Tage sogar im Keller gekocht. Die Jabo-Angriffe wurden immer schlimmer, so dass an Feldbestellung gar nicht mehr gedacht werden konnte, ein Umstand, der sich sehr ungünstig auf die Ernte auswirken wird.
Deutsche Soldaten verschanzten sich noch im Judenbusch
Am 26. März wurden die Lippe- und die Kanalbrücke auf Befehl irrsinniger Strategen gesprengt, denn erreicht oder gar aufgehalten wurde dadurch gar nichts. Die Truppen diesseits der Lippe gingen ganz unabhängig von den Truppen jenseits der Lippe vor. Die diesseitigen [alliierten] Truppen waren schon bis Paderborn vorgedrungen, da kämpften die jenseitigen noch in Dorsten, wo einige noch unbelehrbare [deutsche] Idioten sich im Judenbusch festgesetzt hatten und dafür sorgten, dass Dorsten noch durch sehr starken Artilleriebeschuss der Rest gegeben wurde. Der Artilleriebeschuss war durch die amerikanischen Panzer so stark, dass auf einem kleinen Gehöft auf der Hardt, wo [bei Rommswinkel] fünf Panzer standen, allein 15 Kartuschen weggefahren werden mussten.
Amerikaner betraten den Hof und waren sehr anständig
Als am Mittwoch vor Ostern, den 28. März, morgens 9 Uhr die Amerikaner unseren Hof betraten, wurden sie richtig als Befreier betrachtet. Morgens hatten wir schon die weiße Flagge gehisst, die Amerikaner waren sehr anständig. Acht Amerikanern haben wir abends ein Abendessen gegeben. Der Führer der kleinen Abteilung, ein Feldwebel, konnte ziemlich gut Deutsch sprechen, so dass man sich ganz gut unterhalten konnte. Er erzählte, dass sie bei Wesel aus der Luft gelandet und ohne Verluste bis hier gekommen seien. Unser Heeresbericht hatte am Vortage die vollständige Vernichtung der bei Wesel gelandeten (amerikanischen) Truppen gemeldet. Als die Amerikaner einige Tage hier waren, bauten sie in 24 Stunden Schlauchbootbrücken über die Lippe und den Kanal. Unendliches Kriegsmaterial ging sowohl hin und her über die Brücken. Wenn man diese Massen Kriegsmaterial sah, musste man sich fragen, ist es unserem Oberkommando nicht bekannt, dass der Feind solche Massen Material hat. Wenn Ja, ist es nicht zu begreifen, dass die Soldaten noch zum Weiterkämpfen aufgefordert wurden. Denn, was hat es für einen Zweck von 1.000 Panzern einen mit der Panzerfaust zu erledigen, wenn dafür 5-7 Bauernhäuser oder Scheunen in Brand geschossen werden, wie es sowohl in Holsterhausen als auch in Hervest geschehen ist.
Betrachtungen über Post-Beamtinnen und Partei-Funktionäre
Bemerkt werden muss noch das völlige Versagen der Beamtenschaft besonders der von der Post. Unverständlich ist, dass im Postamt Hervest-Dorsten ganze Haufen Post wochenlang herum lagen, worin jeder herumschummeln konnte, um vielleicht für sich Post heraus zu fischen. Uns ist es noch passiert, dass uns am 5. Mai eine Frau einen Brief brachte, den sie in dem Haufen gefunden hatte, und den unser Hans durch das Rote Kreuz aus einem Gefangenenlager in Texas am 9. November 1944 geschrieben hatte. Wie leicht wäre es gewesen, wenn die Postbeamtinnen zusammengerufen wären, um diesen Haufen Post zu sortieren. So mancher lang ersehnte Brief hätte dann noch sein Ziel erreicht. Aber wenn die ersten Beamten es genauso gemacht haben wie die Führer der Partei, welche einfach das verführte Volk im Stich gelassen, nachdem sie beim Abhauen noch den Befehl zurückgelassen hatten, bis zum letzten Mann zu kämpfen, dann konnte man nicht viel anderes erwarten. Denen war nur die Hauptsache ihr kostbares Leben in Sicherheit zu bringen. Aber es wird nicht für lange Dauer sein. Am letzten Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner sind noch viele Pferde in der Gemeinde verloren gegangen, weil sie von der flüchtenden deutschen Wehrmacht einfach mitgenommen wurden. Auch ein schwerer Schlag für die Feldbestellung.
Hof für Hof wurde von freigelassenen Ostarbeitern geplündert
Hatte man bei dem Einmarsch der Amerikaner aufgeatmet, weil nun endlich für uns das schwere Bombardement aufhörte, kam schon wieder ein neues Elend über uns, die Russenplage. Die befreiten Russen und Ostarbeiter zogen von Hof zu Hof und nahmen mit, was ihnen in die Finger fiel. Auch unser Hof wurde hiervon nicht verschont. Aber es hat bis heute doch noch besser gegangen als bei vielen anderen Höfen, wo alles zerstört und geraubt wurde. Hier wurde für 1.846 Mark gestohlen. Außer Hühner, Gänsebn und Enten wurde wenigstens bis heute kein Stück Großvieh gestohlen. Es muss noch gesagt werden, dass kein Franzose, Belgier, Italiener oder Holländer etwas mit Gewalt genommen hat.
Eine sehr schlimme Plage für die Eigentümer zerstörter oder verlassener Häuser und Wohnungen war unsere eigene Bevölkerung. Sie plündert verschüttete Keller und Wohnungen restlos aus. Wertvolle große Teppiche wurden einfach für kleine passend geschnitten. Auch die Villa Schulte wurde schwer ausgeplündert. Durch das Eingreifen der Amerikaner wurde diesem Unfug endlich Halt geboten.
Ich liebe Dorsten. Was im März geschah, ist unfassbar.