Von Wolf Stegemann
Wenn der bösartige Antisemit Julius Streicher in seinem Hetzblatt „Der Stürmer“ über die „Judenfrage“ schrieb, griff er als Nationalsozialist eine Metapher auf, die seit dem 19. Jahrhundert im Schrifttum und später in antisemitischen Schriften herumgeisterte. Vorläufer der „Judenfrage“ war schon nach der Französischen Revolution 1790 und in deutschen Ländern danach das Wort „Judensachen“. Die Nationalsozialisten übernahmen den philosophisch, literarisch, politisch-theoretisch diskutierten Begriff und benutzten ihn in ihren antisemitischen Reden, in Schriften und Vorgaben für Zeitungen stets in Verbindung mit der „Lösung der Judenfrage“ – nicht auf theoretischer Basis sondern mit Taten. Sie ließen auch keinen Zweifel daran entstehen, wie sie das meinten: Ausmerzung des Judentums. 1942 schritten sie mit der Ermordung der europäischen Juden in den Todeslagern im Osten, hinter den Fronten mit Erschießungskommandos der Wehrmacht, SS- und SD-Einsatzgruppen sowie von Polizei-Regimentern zur Tat. Wenn der eingangs erwähnte Julius Streicher die Lösung der Judenfrage als eine „heilige Aufgabe“ hinstellte, so meinten die Nationalsozialisten damit den von ihnen als von Gott vorgegebenen Weg zur Ermordung der Juden als einen „heiligen“ Weg. Allerdings war in der Mythologie des Nationalsozialismus’ fast alles heilig: die Fahnen, die Schwüre, der Kampf, der Krieg und nicht zuletzt Adolf Hitler selbst. Auch legten die Nationalsozialisten stets großen Wert darauf, allerdings mehr vor 1933, dass ihre SA-Fahnen in groß angelegten feierlichen und propagandistisch aufgemotzten Weiheakten in Kirchen von Pfarrern gesegnet wurden. – Doch was steckt tatsächlich hinter dem Begriff „Judenfrage?“
Die „Judenfrage“ – eine Auseinandersetzung um die Emanzipation
Prof. Dr. Manfred Hettling von der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg gibt Auskunft. Unter dem Begriff wurden die Auseinandersetzungen um die rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der jüdischen Minderheit in den verschiedenen europäischen Gesellschaften erörtert. Mit der Judenfrage wurde grundlegend die fundamentale Herausforderung ausgesprochen, die das neue Leitbild der Zivilgesellschaft für Juden und Nichtjuden darstellte, die Emanzipationsprozesse, die mit der Beseitigung tradierter rechtlicher Unterschiede auf eine staatsbürgerliche Gleichstellung der in der ständisch verfassten Gesellschaft verbunden waren.
Karl Marx beteiligte sich an der Diskussion
Der Religionsphilosoph Bruno Bauer veröffentlichte 1842 einen Aufsatz in den „Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst“ mit dem Titel „Die Juden-Frage“, den er 1843 – nun ohne Bindestrich – als selbstständige Broschüre zu diesem Thema veröffentlichte. Darin versuchte er zu beweisen, dass die Juden als Gruppe weder „verbessert“ noch durch rechtliche Gleichstellung zur Integration erzogen werden können, da auch aufgeklärte Juden an ihrem traditionellen religiösen Anspruch des exklusiven Auserwähltseins festhielten. Einzelne Juden könnten sich nur durch Aufgabe ihres Judentums in die bürgerliche Gesellschaft integrieren. Auf diese Schrift antwortete der 26-jährige Karl Marx 1844 mit seinem Aufsatz „Zur Judenfrage“. Er sah die „Lösung“ der Frage in der Aufhebung der weltlichen Schranken der bürgerlichen Gesellschaft, mit der auch begrenzte religiöse Standpunkte verschwinden würden. Anstelle der politischen Emanzipation verlangte Marx eine „menschliche Emanzipation“.
Judengegner nahmen den Begriff in Verbindung mit Nationalismus auf
Ab 1860 eigneten sich Judengegner den Begriff im Kontext des Nationalismus immer mehr an, um die jüdische Minderheit und das Judentum auf verschiedene Weisen als Hindernis der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zu beschreiben. Seit 1873 wurde der Begriff im Kaiserreich zu einem feststehenden Ausdruck des modernen Antisemitismus, der Juden jede Fähigkeit zur Integration und Assimilation absprach und ihnen ein „Weltherrschaftsstreben“ unterstellte.
Im Kaiserreich über 500 Schriften zum Thema „Judenfrage“
Die Antisemiten im Deutschen Kaiserreich lehnten die 1871 erreichte gesetzliche Gleichstellung der Juden und ihre darauf folgende Integration in die nach wie vor vom Christentum geprägte Gesellschaft strikt ab und beschworen die Gefahr, dass Juden diese von Nichtjuden beförderten Integrationsversuche nur zur Dominanz in Wirtschaft, Politik und Kultur ausnutzen würden und diese teilweise schon erreicht hätten. Damit deuteten sie – entgegen der von Karl Marx vertretenen Denkrichtung – die „soziale Frage“ zur „Judenfrage“ um.
Damit wurde die „Judenfrage“ eng verknüpft mit politischen Handlungsweisen der Emanzipationsgegner im frühen 20. Jahrhundert, insbesondere in der Weimarer Republik. Adolf Hitler erklärte die „Entfernung des Juden überhaupt“ 1919 zum unverrückbaren Ziel des Nationalsozialismus. Die NSDAP legte sich in ihrem Gründungsprogramm auf die Vertreibung, Ausweisung und Entrechtung der deutschen Juden fest. In seiner Autobiographie „Mein Kampf“ erklärte Hitler 1924, die Lösung der Judenfrage sei Vorbedingung für den Wiederaufstieg der Germanen zur Großmacht. Seine hasserfüllte Beschreibung der Juden als parasitäre Rasse, deren Beseitigung zur Gesundung der Völker unumgänglich sei, legte bereits den Gedanken an ihre Ermordung nahe. Hitler forderte diese nicht, machte aber deutlich, dass er eine radikale Vertreibungspolitik gegenüber den Juden durchführen werde. Er übernahm dieses Ziel von den Antisemitenparteien und -verbänden der Kaiserzeit. Den Antisemiten gelang es, den Begriff „Judenfrage“ so zu prägen, dass darunter eine von „den Juden“ bzw. dem „Weltjudentum“ als Kollektiv ausgehende Gefahr für die moderne Gesellschaft verstanden wurde, die auf irgendeine Art gelöst werden müsse. Zwischen 1873 und 1900 erschienen etwa 500 Schriften, die sich in diesem Sinne mit der „Judenfrage“ befassten.
Antisemitin Andrea Ellendt sprach auch in Rothenburg ob der Tauber
Anfang der 1920er-Jahre zog die Deutsch-Mexikanerin Andrea Ellendt durch Main- und Mittelfranken und verbreitete in ihren Reden antisemitische Hasstiraden im Sinne Adolf Hitlers und forderte die Lösung der Judenfrage durch Ausgrenzung und Entfernung der Juden, wie immer sie das gemeint haben mochte. Seit der Machtübernahme 1933 etablierten die radikalen Antisemiten im NS-Regime die „Judenfrage“ auch als pseudowissenschaftliches Projekt. Zur pseudohistorischen Rechtfertigung der Nürnberger Gesetze veröffentlichte Wilhelm Grau 1935 in Hamburg die Schrift „Die Judenfrage als Aufgabe der neuen Geschichtsforschung“. Er leitete seit 1936 auch die Abteilung „Geschichte der Judenfrage“ in der renommierten, nun aber von Nationalsozialisten gelenkten „Historischen Zeitschrift“. Als Judenfrage verstand er „alle jene Probleme […], die in der Begegnung der Völker mit dem jüdischen Volk zu jeder Zeit der Geschichte in Erscheinung getreten sind“.
Scheinwissenschaftliche Erforschung der „Judenfrage“
Adolf Eichmann leitete in Berlin die „Abteilung für das Studium der Judenfrage“ im Reichssicherheitshauptamt. Die dort betriebene „Erforschung der Judenfrage“ hatte unmittelbar mit der Planung des Holocaust zu tun, da sie die großangelegte ethnisch-rassistische Umsiedelungs-, Säuberungs- und Völkermordpolitik der Nationalsozialisten in Osteuropa scheinwissenschaftlich begründen sollte. Ausländische Verbündete folgten dem NS-Vorbild: Mohammed Amin al-Husseini, der Großmufti in Palästina mit Amtssitz in Jerusalem, gründete 1943 ein „Arabisches Institut für die Erforschung der Judenfrage“ in Berlin, das für geheimdienstliche Kontakte, ideologischen Austausch und Zusammenarbeit beim Ausliefern von Juden zur Vernichtung diente. Auch viele akademische Fachbereiche übernahmen und vergaben antisemitische „Forschungsaufträge“, darunter auch evangelische Kirchenorganisationen wie das „Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ unter Walter Grundmann. Der „Volks-Brockhaus“ Leipzig schrieb 1943 im Artikel „Judentum“:
„66 n. Chr. brach ein großer Judenaufstand aus, der mit der Eroberung Jerusalems und Zerstörung seines Tempels durch Titus 70 n. Chr. endete. Inzwischen hatten sich die Juden weithin über die Mittelmeerländer verstreut: Sie vermehrten sich vor allem durch Gewinnung fremdstämmiger Anhänger ihres Glaubens stark und wurden rassisch mit den verschiedenartigsten Elementen durchmischt. Durch das Zusammenleben mit ihren Wirtsvölkern ergab sich die ‚Judenfrage‘.“
Die „Endlösung der Judenfrage“ war der verklausulierte Mord
Der Ausdruck „Endlösung der Judenfrage“ beschrieb seit 1940 im Behördenjargon des NS-Regimes das radikale Ziel einer vollständigen Abschiebung und Deportation aller Juden aus den von Deutschland beherrschten Gebieten. Er wandelte sich von Juli 1941 bis zur „Wannseekonferenz“ im Januar 1942 unter der Hand zu einer Tarnfloskel für die Massenvernichtung der europäischen Juden in den dazu errichteten Vernichtungslagern.
Ein Vortrag Heinrich Himmlers vom Dezember 1940 unter dem Titel „Die Judenfrage“ dokumentiert die Pläne zur „Umsiedlung“ von etwa 5,8 Millionen europäischen Juden „in ein noch zu bestimmendes Territorium“. Seit dem Russlandfeldzug der Wehrmacht im Sommer 1941 wurde der Begriff „Endlösung“ zum offiziellen Behördenausdruck für die begonnene Judenermordung und ihrer weiteren Planung. Der Begriff tarnte den Mord und rechtfertigte ihn zugleich. Doch wurde 1943 der Begriff „Judenfrage“ in Zeitungen und Schriften sowie in Reden von der Martin Bormann, Chef der Parteikanzlei in Berlin, verboten, denn es gab keine Frage mehr, diese war ab 1942 in Auschwitz und anderswo gelöst worden.
Nach 1945 war der Begriff „Judenfrage“ ein mit Mord belasteter
Jean-Paul Sartre beschrieb in seiner Schrift „Réflexions Sur La Question Juive“ („Überlegungen zur Judenfrage“) das Phänomen des schimärischen Antisemitismus ohne Juden: „Die Judenfrage ist durch den Antisemitismus entstanden, und wir müssen den Antisemitismus abschaffen, um sie zu lösen“ (erschienen bei Rowohlt, Hamburg 1994). Abgesehen davon trat nach dem Zweiten Weltkrieg der Begriff in der öffentlichen Debatte zurück, da man sich nach dem Holocaust von nationalsozialistischer (Begriffs-)Ideologie vor allem in Deutschland absetzte. Der Begriff „Judenfrage“ ist seitdem besetzt mit dem Massenmord an den Juden. So konnte man diesen Begriff nicht mehr vorurteilsfrei verwenden, wie beispielsweise auch das Wort „Sonderbehandlung“, „Endlösung“, die ebenfalls Ermordung bedeuteten, und der eigentlich technische Begriff „Vergasung“.
1949 im „Fränkischen Anzeiger“: „Heuß zur Judenfrage“
Allerdings verwendete der „Fränkische Anzeiger“ im mittelfränkischen Rothenburg ob der Tauber am 9. Dezember 1949 das Wort „Judenfrage“ nach alle den schrecklichen und auch medial verlogenen Jahren in nationalsozialistischer Zeit. In fetten Lettern steht auf der ersten Seite quer über das Blatt „Heuß zur Judenfrage“. Im Text wird allerdings weniger über die „Judenfrage“ gesprochen, sondern über das, was Hitler den Deutschen mit dem Holocaust Schreckliches angetan hat: die Scham! Damit zitiert der „Fränkische Anzeiger“ 1949 den ersten deutschen Bundespräsidenten der Nachkriegszeit, dessen Partei (FDP) zu dieser Zeit bereits die Abschaffung der Entnazifizierung forderte.
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