70 Jahre nach Hitlers Todesjahr, am 31. Dezember 2015, sind die Urheberrechte an dessen Buch „Mein Kampf“ erloschen. Das Institut für Zeitgeschichte hat es sich zum Ziel gesetzt, unmittelbar nach Ablauf dieser Frist eine wissenschaftlich kommentierte Gesamtausgabe vorzulegen. Unter der Leitung von Dr. Christian Hartmann hat ein Historikerteam „Mein Kampf“ in mehrjähriger Arbeit umfassend aufbereitet: Im Zentrum der kritischen Kommentierung stehen die Dekonstruktion und die Kontextualisierung von Hitlers Schrift: Wie entstanden seine Thesen? Welche Absichten verfolgte er damit? Welchen gesellschaftlichen Rückhalt besaßen Hitlers Behauptungen unter seinen Zeitgenossen? Welche Folgen hatten seine Ankündigungen nach 1933? Und vor allem: Was lässt sich mit dem Stand unseres heutigen Wissens Hitlers unzähligen Behauptungen, Lügen und Absichtserklärungen entgegensetzen? Dies ist nicht nur eine historiografische Aufgabe. Angesichts des hohen Symbolwerts, den Hitlers Buch noch immer hat, ist die Entmystifizierung von „Mein Kampf“ auch ein Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung.
Was ist „Mein Kampf“? Adolf Hitlers wichtigste Schrift!
„Mein Kampf“ ist Hitlers wichtigste politische Schrift. Sie entstand in den Jahren 1924 bis 1926 in zwei Bänden. Während Band 1 in erster Linie stark stilisiert Hitlers Biografie sowie die Frühgeschichte der NSDAP und ihrer Vorläuferorganisation, der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), nachzeichnet, steht die Programmatik der Nationalsozialisten im Mittelpunkt des zweiten Bands. Große Teile des ersten Bands entstanden während Hitlers Haftzeit in Landsberg am Lech, nach seinem gescheiterten Putschversuch vom November 1923. Dessen Scheitern, die Zeit der Haft und das Verbot der NSDAP unterbrachen Hitlers politische Karriere. Er nutzte diese Zeit, um all das, was er bislang erlebt, gelesen und erdacht hatte, zu einer schriftlich fixierten Ideologie zusammenzuführen und um für seine verbotene Partei eine neue Perspektive und eine neue Strategie zu entwickeln. Den zweiten Band schrieb Hitler dann nach seiner Haftentlassung, zum größten Teil auf dem Obersalzberg. Mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 schnellten die Verkaufszahlen stark in die Höhe; das Buch wurde zum Bestseller: Bis 1945 wurde „Mein Kampf“ in 18 Sprachen übersetzt und über 12 Millionen Mal verkauft.
Nach dem Selbstmord Hitlers und dem totalen Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 übertrugen die alliierten Siegermächte die Rechte an Hitlers Buch dem Freistaat Bayern. Die Bayerische Staatsregierung nutzte seither das Urheberrecht, um jegliche Neuauflage zu verhindern. Mit dem Erlöschen des Urheberrechts 70 Jahre nach Hitlers Tod steht dieses juristische Instrument aber ab 2016 nicht mehr zur Verfügung.
Warum eine kritische wissenschaftliche Edition?
„Mein Kampf“ ist eine der zentralen Quellen des Nationalsozialismus. Zu ihrer Bedeutung und Wirkung hat Eberhard Jäckel bereits 1981 geschrieben: „Selten oder vielleicht tatsächlich nie in der Geschichte hat ein Herrscher, ehe er an die Macht kam, so genau wie Adolf Hitler schriftlich entworfen, was er danach tat. Nur deswegen verdient der Entwurf Beachtung. Anderenfalls wären die frühen Aufzeichnungen, die Reden und die Bücher, die Hitler verfasste, höchstens von biographischem Interesse. Erst die Verwirklichung erhebt sie in den Rang einer historischen Quelle.“
Hitlers Politik und die von ihm initiierten Kriege und Verbrechen haben die Welt vollkommen verändert. Schon deshalb wurden alle Texte, die sich von ihm erhalten haben − seine Reden, seine frühen Aufzeichnungen, seine Gespräche mit Diplomaten, seine „Monologe“ im „Führerhauptquartier“, seine Weisungen für die Kriegführung und schließlich auch sein Testament − längst veröffentlicht. Dagegen liegt von dem umfangreichsten und in gewisser Weise auch persönlichsten Zeugnis Hitlers keine wissenschaftlich erschlossene Fassung vor. Nur in Auszügen wurde „Mein Kampf“ bislang publiziert – eine Lücke, die innerhalb der NS-Forschung seit langem als Desiderat gilt. Ziel der Edition ist es daher, „Mein Kampf“ als bedeutende zeithistorische Quelle zu erschließen, den Entstehungskontext von Hitlers Weltanschauung nachzuzeichnen, seine gedanklichen Vorläufer offenzulegen und seine Ideen und Behauptungen mit den Ergebnissen der modernen Forschung zu kontrastieren.
Das Institut für Zeitgeschichte verfügt in der wissenschaftlichen Edition von NS-Schriften bereits über vielfältige Expertise: Zwölf Teilbände umfasst beispielsweise die in den Jahren 1991 bis 1998/2003 erschienene Sammlung von „Hitlers Reden, Schriften, Anordnungen 1925-1933“. Ebenfalls vom IfZ herausgegeben wurden 1961 Hitlers „Zweites Buch“, in den 1990er-Jahren die Tagebücher von Joseph Goebbels sowie unlängst die Tagebücher des NSDAP-„Chefideologen“ Alfred Rosenberg. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn sich das Institut nun auch dieser Herausforderung stellt und mit „Mein Kampf“ eine Quelle ediert, die sich sicher nicht so präsentieren lässt wie andere historische Dokumente. Gefragt ist vielmehr neben nüchterner, handwerklich präziser Wissenschaft eine kritische und selbstbewusste Auseinandersetzung mit Hitlers Text, mit einem Wort: eine Edition mit Standpunkt.
Ein Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung
Die Kommentierung von „Mein Kampf“ ist nicht nur eine wissenschaftliche Aufgabe. Es gibt kaum ein Buch, das mit so vielen Mythen überfrachtet ist, das so viel Abscheu und Ängste weckt, Neugier und Spekulation hervorruft und nicht zuletzt mit der Aura des Geheimnisvollen, des Verbotenen wirbt. Ein Tabu, an dem sich auch gut verdienen lässt.
Daher versteht sich diese kritische Edition von „Mein Kampf“ auch als Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung. Es gilt, Hitler und seine Propaganda nachhaltig zu dekonstruieren und damit der nach wie vor wirksamen Symbolkraft dieses Buchs den Boden zu entziehen. Auch auf diese Weise lässt sich einem ideologisch-propagandistischen wie kommerziellen Missbrauch von „Mein Kampf“ entgegenwirken.
Denn allen Debatten um eine Neuauflage zum Trotz – Hitlers Text ist schon längst auf vielfältigen Wegen zugänglich: Ob in antiquarischen Buchläden, über legal gedruckte englischsprachige Ausgaben oder über wenige Mausklicks im Internet – „Mein Kampf“ ist in der Welt und findet jedes Jahr neue Leser, Agitatoren und Geschäftemacher.
Aufgabe einer wissenschaftlich kommentierten Fassung ist es daher auch, die Debatte zu versachlichen und ein seriöses Gegenangebot zur ungefilterten Verbreitung von Hitlers Propaganda, seinen Lügen, Halbwahrheiten und Hasstiraden zu machen. Die Edition des Instituts für Zeitgeschichte setzt auf politische Aufklärung und wendet sich in Form und Stil deshalb bewusst an einen breiten Leserkreis. Durch eine Art „Einrahmung“ des Originaltexts in Form einer Einleitung und einer ausführlichen wissenschaftlichen Kommentierung entsteht ein Subtext zu „Mein Kampf“, durch den rasch klar wird, wie Hitlers Ideologie entstand, wie selektiv und verzerrt er die Wirklichkeit wahrnahm und auch, welche schrecklichen Folgen sich aus ihr ergaben.
Mit vielen Hintergrundinformationen zu den Ereignissen und Personen
Die Historikerinnen und Historiker des Instituts für Zeitgeschichte haben den Originaltext Stück für Stück auseinandergenommen und ihn mit mehr als 3.500 Anmerkungen versehen. Diese wissenschaftlichen Kommentare erfüllen eine Vielzahl verschiedenster Aufgaben:
1) Hintergrundinformationen zu den dargestellten Personen und Ereignissen
2) Erläuterung zentraler ideologischer Begriffe
3) Offenlegung von Hitlers Quellen
4) Erklärung der ideengeschichtlichen Wurzeln
5) Zeitgenössische Kontextualisierung
6) Korrektur von Fehlern und einseitigen Darstellungen
7) Ausblick auf die Folgen von Hitlers Schrift
8) Neue Beiträge zur Grundlagenforschung
9) Ungewöhnlich ist dabei für eine Edition, dass das Editionsteam auch die Zeit nach 1933 in den Blick nimmt und damit Hitlers Programmatik mit seinem politischen Handeln während der Jahre 1933 bis 1945 vergleicht.
Mehrere wissenschaftliche Disziplinen arbeiteten zusammen
Unterstützt wurde das Kernteam, das in der Hochphase der Kommentierung aus bis zu sechs Historikerinnen und Historikern bestand, durch Expertinnen und Experten anderer wissenschaftlicher Disziplinen, um Hitlers Fülle an Behauptungen an den Ergebnissen der modernen Forschung zu messen. Als externe interdisziplinäre Berater waren deshalb auch Vertreterinnen und Vertreter aus der Germanistik, Biologie, Japanologie, Judaistik, Kunstgeschichte, Pädagogik und Wirtschaftsgeschichte angeschlossen.
Zum IfZ-Team gehören weiterhin Fachkräfte für das Lektorat, die Registererstellung, den Textabgleich von insgesamt sieben ausgewählten Auflagen sowie studentische Hilfskräfte. Nicht zuletzt konnte das Team darüber hinaus auf die professionelle Infrastruktur des gesamten Instituts für Zeitgeschichte mit seinen vielen auf die Zeit des Nationalsozialismus spezialisierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und seinen einschlägigen Ressourcen in Bibliothek und Archiv zählen.
Um alle Rechte zu behalten, aber auch, um möglichen kommerziellen Interessen mit dem sensiblen Thema entgegenzuarbeiten, wird „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ vom Institut für Zeitgeschichte im Eigenverlag veröffentlicht. Erschienen ist das Buch am 8. Januar 2016.
Am Rand und Schluss kurz notiert:
Im Kreis Recklinghausen gibt es nur wenig Interesse an der Neuauflage von Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Bestellt oder gekauft wurde es nur selten, erklärten Buchhändler bei einer telefonischen Umfrage übereinstimmend.
Siehe auch:
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Forschungseinrichtung mit Geschichte
Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung, die die gesamte deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in ihren europäischen Bezügen erforscht. Gegründet wurde das IfZ 1949, um als erstes Institut überhaupt die nationalsozialistische Diktatur wissenschaftlich zu erschließen. Auf diesem Gebiet hat das IfZ seither weltweit anerkannte Grundlagenforschung geleistet. Das Arbeitsspektrum hat sich heute bedeutend erweitert und gliedert sich in drei Schwerpunkte:
Erforschung der Diktaturen im 20. Jahrhundert
Historische Demokratieforschung
Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte
Organisatorisch ist das IfZ eine öffentliche Stiftung des Bürgerlichen Rechts. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und wird vom Bund und den Ländern finanziert.
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