Von Wolf Stegemann
Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich ist eine Geschichte fortschreitender Pervertierung des Rechts: Ob bei den Morden der Röhm-Aktion oder bei der Verfolgung und Ermordung von politischen Gegnern und rassischen Minderheiten: Richter, Staatsanwälte und Angehörige des Reichsjustizministeriums waren willige Helfer des NS-Regimes. Statt Recht und Gesetz im Sinne objektiver Gerechtigkeit zu verteidigen, ließ die Justiz die Demontage des Rechtsstaates zu und stellte sich in den Dienst eines mörderischen Systems. Reichskommissar und Jurist Hans Frank schaltete 1933 die Justiz gleich und erklärte:
„Wir bekennen uns offen dazu“, erklärte er im September 1933, „dass wir nationalsozialistischen Juristen in jedem Recht nur das Mittel zu dem Zweck sehen, einer Nation die heldische Kraft zum Wettstreit auf dieser Erde sicherzustellen.“
Dafür bekam er von den anwesenden Richtern und Staatsanwälten Beifall. Hans Frank wurde 1946 im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Unter den NS-Juristen hinterließ Roland Freisler eine noch größere Spur des Schreckens, als Staatssekretär im Reichsjustizministerium, vor allem aber als Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes. Roland Freisler kam Anfang 1945 bei einem alliierten Bombenangriff ums Leben. Die Bilanz des Volksgerichtshofes, den Freisler zu den „Panzertruppen der Rechtspflege“ zählte: über 5.200 Todesurteile. Noch gnadenloser waren die nationalsozialistischen Wehrmachtrichter. Sie verhängten im Zweiten Weltkrieg 30.000 Todesurteile, 20.000 wurden vollstreckt. Zum Vergleich: Die westlichen Alliierten ließen im selben Zeitraum 200 Militärangehörige hinrichten. Und im Ersten Weltkrieg verhängte die deutsche Militärjustiz lediglich 150 Todesurteile, von denen nur ein Drittel vollstreckt wurde. Der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette:
„Kein einziger Wehrmachtrichter ist bestraft worden für seine Todesstrafen-Praxis. Es gab einzelne Fälle, in denen Vorermittlungen und Ermittlungen angestellt worden sind, aber das alles ist niedergeschlagen worden. Zu einer Verurteilung kam es in keinem einzigen Fall.“
Der Fall Filbinger zeigte die Brutalität „furchtbarer“ Juristen auf
Großes Aufsehen erregten in den 1970er-Jahren die Rechtfertigungsversuche des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger. Als NS-Marinerichter hatte er noch kurz vor Kriegsende die Todesstrafe für einen jungen Wehrmachtsdeserteur gefordert und später seine verhängnisvolle Tätigkeit mit dem Satz verteidigt: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!“ Filbinger ging als „furchtbarer Jurist“ in die Geschichte ein.
Ebenso die „Nürnberger Prozesse“, mit denen die Alliierten unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutsche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgten und Täter bestraften. Als Erste mussten sich Hauptschuldige wie Hermann Göring, Rudolf Hess, Albert Speer und Hans Frank vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Es folgten zwölf weitere Verfahren vor amerikanischen Militärgerichtshöfen, darunter als Fall 3, der Prozess gegen Juristen.
Basis der Anklage bildete das Kontrollratsgesetz Nr. 10 welches die Rechtszuständigkeit für diesen Prozess dem Militärgerichtshof Nr. 1 in Nürnberg zuwies (Anordnung Nr. 7 der Militärregierung) und aus dem vier Klagepunkte abgeleitet wurden:
- Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Kriegverbrechen
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Mitgliedschaft bei verbrecherischen Organisationen
Im Nürnberger Juristenprozess fiel kein einziges Todesurteil
Die Anklagepunkte 1 bis 3 richteten sich gegen alle Angeklagten, der Anklagepunkt 4 nur gegen einzelne Beschuldigte. Kern der Anklage war, dass die zu bestrafen waren, welche durch Tun, Dulden oder Unterlassen der Einrichtung von Sondergerichten Vorschub geleistet hätten und dadurch den Angeklagten ein faires Verfahren verwehrten. Ankläger war Telford Taylor, der auch die Anklageschrift vom 4. Januar 1947 verfasst hatte. Auf Antrag der Verteidigung und nach Prüfung der Rechtsgrundlage erfolgte ein Gerichtsbeschluss, den Anklagepunkt der Verschwörung nicht eigenständig zu verhandeln.
Angeklagt waren hohe Beamte des Reichsjustizministeriums sowie mehrere Richter des Volksgerichtshofes und der Sondergerichte, insgesamt 16 Personen. Der Prozess endete im Dezember 1947 mit zehn Verurteilungen und vier Freisprüchen. Zwei Beschuldigte waren während des Verfahrens verstorben, ein Angeklagter, Rudolf Oeschey, wegen Verhandlungsunfähigkeit freigestellt. Mehrere Angeklagte, darunter die Staatssekretäre Franz Schlegelberger und Herbert Klemm, erhielten lebenslange Haftstrafen. Dazu der Rechtswissenschaftler Christoph Safferling:
„Also schon interessant, dass die Juristen offensichtlich hier auch anders behandelt worden sind als andere Berufsgruppen, beispielsweise die Ärzte. Im Ärzteprozess in Nürnberg gab es etliche Todesurteile. Der Nürnberger Juristenprozess hat ja diesen Ausspruch geprägt, dass der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen verborgen war. Und das ist, denke ich, ein ganz gutes Bild dafür, was Juristen tatsächlich tun und wofür sie auch verantwortlich sind.“
Prozesse wurden in der Bevölkerung meist als „Siegerjustiz“ wahrgenommen
Unter deutschen Rechtsexperten stieß der Nürnberger Prozess jedoch auf Ablehnung. Sie werteten das Verfahren als „Siegerjustiz“ und „Rache am politischen Gegner“. Bis heute hat die Bundesrepublik die „Nürnberger Prozesse“ nicht anerkannt. Der nordrhein-westfälische Justizminister Artur Sträter sprach im Juni 1947 über den Juristenprozess in Nürnberg den unglaublichen Satz:
„In den Sondergerichten haben oft Männer gesessen, die unvorstellbares Leid verhindert haben. Der deutsche Richter in seiner Gesamtheit ist im Dritten Reich intakt geblieben, er hat nicht vor Hitler kapituliert.“
Über eine solche den Fakten widersprechende Behauptung, die man getrost als Lüge bezeichnen kann, kann man nur fassungslos den Kopf schütteln. Es ist eine Ansicht, die erst mehr als vier Jahrzehnte später revidiert wurde, mit der Ausstellung „Justiz und Nationalsozialismus“, einer vom Bundesjustizministerium im Jahr 1989 erarbeiteten Materialsammlung von 2.000 Schriftstücken und Fotos. Die Dokumentation ist der erste ernsthafte Versuch aus den Reihen der Justiz, sich mit der NS-Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Das Ausstellungskonzept erarbeitete Gerhard Fieberg, damals Mitarbeiter des Bundesjustizministeriums, zuletzt Präsident des Bonner Bundesamtes für Justiz. Bereits 1950, so Fieberg, wurden die ersten Verurteilten des Nürnberger Juristenprozesses entlassen, der letzte kam 1956 frei. Auf deutschen Druck hin von den Amerikanern begnadigt; und dann in den 50er-Jahren als freie Leute in der Bundesrepublik lebten, dort entweder Pensionäre waren oder aber gut gehende Anwalts- und Notariatspraxen betrieben und von der bundesdeutschen Justiz nicht mehr vor Gericht gestellt werden konnten.
Ohne frühere NSDAP-Mitglieder, so zeigte sich schon bald nach Kriegsende, kam die westdeutsche Justiz nicht aus. Nur ein Drittel der Richter wurde entlassen, in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR waren es dagegen 80 Prozent. Die radikale Entnazifizierung im Osten hatte jedoch fatale Folgen, denn die neuen so genannten Volksrichter fällten im Namen einer sozialistischen Gesetzlichkeit zahllose Unrechtsurteile.
Kaum strafrechtliche Konsequenzen in der Bundesrepublik
Im Westen hatten belastete Juristen hingegen kaum strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten. Mit Ausnahmen, die an einer Hand abzuzählen sind, darunter die Richter Rothaug und Oeschey vom Nürnberger Sondergericht, sprach sich die Justiz selbst frei. Der Anteil der Juristen, die schon im Dritten Reich tätig gewesen waren, lag in den 1950er-Jahren an den Landgerichten bei knapp 70 Prozent, an den Oberlandesgerichten bei fast 90 Prozent und am Bundesgerichtshof bei 75 Prozent. Allerdings sagen die Zahlen allein noch nichts über das Verhalten des Einzelnen aus. Begünstigt wurde die Selbstentlastung der Justiz von verschiedenen Amnestien und Verjährungsfristen. Der ehemalige Justizminister Thomas Dehler erklärte 1965 im Bundestag: „Zu unserem Recht gehört auch, dass Schuld, dass jede Schuld verjährt.“ Dies hat in hohem Maße dazu beigetragen, dass hier eine ganze Personengruppen in sehr, sehr großer Zahl von Strafverfolgung befreit wurde. Dazu der Rechtshistoriker Manfred Görtemaker:
„Da das aber maßgeblich vom Bundesministerium der Justiz in die Gesetzgebung getragen wurde, ist natürlich die Frage schon erlaubt und interessant, inwieweit das Ministerium oder Personen im Ministerium daran eben aktiv mitgewirkt haben.“
Statt strafrechtliche Ermittlungen freiwillige Pensionierung
Schon in den 1950er- und 60er-Jahren bot die Bundesregierung den Richtern, die an der Strafrechtspflege während der Dritten Reiches an der Front wie in der Heimat mitgewirkt hatten, mit § 116 des am 8. September 1961 erlassenen Richtergesetzes die Möglichkeit eines freiwilligen vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand unter Belassung ihrer Versorgungsbezüge. Wer von denen, die unverantwortliche Todesurteile mitgefällt hatten, und von dieser Möglichkeit des „Verschwindens aus dem Amt“ bis Ende Juni keinen Gebrauch machten, würden, dem wurde der offizielle Amtsverlust durch Gesetzesänderung angedroht. Die Auseinandersetzung um die wieder amtierenden Richter und Staatsanwälte schien mit der Verabschiedung des Paragraph 116 DRiG zumindest für die Landesjustizverwaltungen vorerst gelöst. Der entscheidende Passus: Paragraf 116 des deutschen Richtergesetztes vom 8. September 1961 (Bundesgesetzblatt):
(1) Ein Richter oder Staatsanwalt, der in der Zeit vom 1. September 1939 bis zum 9. Mai 1945 als Richter oder Staatsanwalt in der Strafrechtspflege mitgewirkt hat, kann auf seinen Antrag in den Ruhestand versetzt werden.
(2) Der Antrag kann nur bis zum 30. Juni 1962 gestellt werden.
Mit dieser Regelung sollte die Glaubwürdigkeit in die deutsche Justiz wieder hergestellt werden. Sie erwies sich jedoch als relativ erfolglos. Im September 1962 gab der Bundesjustizminister bekannt, dass 149 Richter und Staatsanwälte vorzeitig in Pension gegangen seien, nur in zwölf Fällen hätten sich die betreffenden Juristen geweigert. Noch in den Beratungen zum Richtergesetz war der Rechtsausschuss des Bundestags von lediglich 40 bis 60 Betroffenen ausgegangen. Bereits einen Tag nach Ablauf der Antragsfrist veröffentlichten die DDR-Behörden eine Broschüre, aus der hervorging, dass der erst drei Monate zuvor zum Generalbundesanwalt berufene Wolfgang Immerwahr Fränkel während des Nationalsozialismus als Abteilungsleiter bei der Reichsanwaltschaft tätig gewesen war und in zahlreichen Fällen Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile des Reichsgerichts eingereicht hatte. In mindestens 44 Fällen hatte er die Umwandlung hoher Zuchthausstrafen in Todesurteile bewirkt. Unmittelbar nach Erscheinen der Broschüre wurde Fränkel seines Amtes enthoben.
Juristen den Spagat zwischen Terror und Demokratie gut hinbekommen
In der Nachkriegsjustiz hat es erstaunliche Kontinuitäten beispielsweise im Familien- und Strafrecht gegeben, wo z. T. die gleichen Personen, die im Reichsjustizministerium für diese Abteilung zuständig waren, für diese Referate, und dann auch wiederum Referatsleiter im Bundesjustizministerium geworden sind. Sie haben diesen Spagat hinbekommen, von der Justiz des Dritten Reiches nahtlos in die Justiz der Bundesrepublik überzuwechseln. Dies ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, doch es hat funktioniert. Es funktionierte auch im Kleinen. Wer die Geschichte des Nationalsozialismus in kleinen Orten liest, dem fällt auf, dass in der Nichtkriegszeit wieder die Nationalsozialisten in gleichen Funktionen auftauchten – nur in anderen Parteien, um ihr rechtes Gedankengut zu verbreiten.
Beispiele der Verwendung von NS-Juristen in der Nachkriegszeit
Dr. Franz Massfeller (1902-1966) war im Reichssicherheitshauptamt unter Eichmann tätig und hat mit offensichtlich verinnerlichter NS-Ideologie einen Kommentar verfasst zum Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz 1936. Er war dann später tatsächlich im Bundesjustizministerium auch in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Familienrecht wieder tätig. Oder auch Dr. Josef Schafheutle (1904-1977). Er war im Reichsjustizministerium Abteilungsleiter für Strafrecht und hat diese Tätigkeit dann von November 1950 an auch im Bundesjustizministerium wieder ausgefüllt. Als wäre nichts geschehen, hat er einfach in der gleichen Position weiter gearbeitet und jetzt plötzlich ein demokratisches Strafrecht reformieren sollen.
Eduard Dreher war in den 40er-Jahren für etliche Jahre in Innsbruck als Sonderstaatsanwalt tätig und war dort auch verantwortlich für eine ganze Reihe von Todesurteilen. Und Eduard Dreher hat schließlich in den 1968er-Jahren dafür gesorgt oder war mit dafür verantwortlich, dass die so genannte kalte Verjährung eingetreten ist, dass also NS-Täter wegen Beihilfe zum Mord oder Beihilfe zum Totschlag nicht mehr verurteilt werden konnten, weil die Beihilfe-Strafbarkeit dann bereits verjährt war. – Angesichts solcher zahlreicher „Altlasten“ aus der NS-Zeit ist es erstaunlich, wie unproblematisch der Aufbau des demokratischen Rechtsstaates in der Bundesrepublik verlief.
Gesetzes-Recht ist gleich Menschen-Unrecht
Gleichwohl bleibt das Dilemma: Das NS-System praktizierte den Terror juristisch drapiert. Jede Gewaltmaßnahme hatte ihre gesetzliche Legitimation, angefangen bei der Notverordnung 1933 über das perverse Sonderstrafrecht für Polen und Juden von 1941 bis hin zur autokratischen Ermächtigung Hitlers 1942, in jedes Verfahren eingreifen und dabei von geltendem Recht nach eigenem Ermessen abweichen zu dürfen. Nach seinem Gewissen handeln, für die Menschlichkeit Partei ergreifen zu wollen, konnte, unter diesen Bedingungen einer totalen „Umwertung der Werte“, für einen Juristen eine ausweglose Situation bedeuten: Wo Gesetzes-Recht gleich Menschen-Unrecht ist, liegt Gerechtigkeit außerhalb der Rechtssphäre. Einige erkannten das schon früh und handelten folgerichtig. So entschied sich Bernd Freytag von Loringhoven, junger baltischer Aristokrat, 1933 aus Überzeugung gegen das Jurastudium und für den Militärdienst, wo er sich später der Widerstandsbewegung anschloss.
Justizministerin gab Studie in Auftrag – soll 2015 erscheinen
Doch diesen Weg der Emigration aus dem Rechtsdienst gingen die wenigsten. So wurde es gerade den Unentschlossenen, innerlich zum Regime Distanzierten zum Verhängnis, dennoch im Dienst zu bleiben und an der Erhaltung eines Systems mitzuwirken, dessen wesentlichen Mangel – dass es kein wirkliches Recht zulässt – sie klar erkannten. In diesem Sinne konnte es tatsächlich die größte denkbare Schande bedeuten, im Dritten Reich Jurist gewesen zu sein. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat 2012 ein Studie bei den Rechtshistorikern Manfred Görtemaker (Uni Potsdam) und Christoph Safferling (Uni Marbach) in Auftrag gegeben, die darlegen soll, inwieweit frühere Nazi-Richter in der Bundesrepublik Recht sprachen und wer an welchem Rädchen in den Justizministerien gedreht hat. Das Buch soll 2015 erscheinen.
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