W. St. – Der Unterschied zwischen Mord und Totschlag im Strafgesetzbuch § 211 stammt noch aus nationalsozialistischer Zeit. Mord wurde damals neben dem Totschlag eingeführt, und es wurde festgelegt, wann ein Totschlag als Mord und damit nur mit der Todesstrafe zu ahnden ist. Dieser von der NS-Justiz eingeführte Mordparagraf wurde von der Bundesrepublik übernommen, nur nicht die Todesstrafe. Diese wurde durch eine lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt, die das Gericht aussprechen musste, wie deren Vorgänger im Dritten Reich die Todesstrafe, wenn sie auf „Mord“ erkannt haben.
Heute ist es so: Wenn zum Beispiel eine Frau nach einem langjährigen Ehe-Martyrium ihren Haustyrann nachts umbringt, bleibt dem Gericht kaum eine Wahl: Lebenslange Haft für einen Mord aus „Heimtücke“, obwohl dieses Urteil nicht der Schuld angemessen ist. „Heimtücke“ in der heutigen Gerichtssprache ist noch ein folgenschweres Überbleibsel aus dem NS-Jargon. Daher wächst der Druck von Justizkreisen und Anwaltverbänden auf die Regierung, endlich übernommene Nazi-Gesetztexte zu reformieren.
„Heimtücke“ – Jargon aus der NS-Gesetzgebung
Was unterscheidet den Mord vom Totschlag? Das ist beileibe nicht so klar, wie man das von Taten glauben möchte, die im Zentrum des Strafrechts stehen. Die Wahrheit ist: Der Kern des Strafrechts besteht aus problematischen Gummi- und Emotionsformeln, die auf das Jahr 1941, also auf die Nazi-Rechtsprechung in Kriegszeiten, zurückgehen, so Heribert Prantl in der SZ. Er schreibt: „Die heutige Rechtsprechung zum Mord orientiert sich immer noch, wie zu NS-Zeiten, am Leitbegriff der ,niedrigen Beweggründe’, der einen Tätertyp beschreibt – den Typ des Mörders, wie ihn sich die Nazi-Juristen vorstellten und mit Wörtern wie .heimtückisch’ beschrieben. Laien halten den Totschlag für eine Tötung im Affekt und den Mord für eine genau überlegte und planvolle Tötung. Das ist gar nicht dumm, genau dies galt nämlich bis 1941. Aber die Juristen zitieren belehrend den seit damals geltenden Paragrafen 211, an dem freilich wild herumdefiniert werden muss, um ihn rechtsstaatlich brauchbar zu machen. Handwerkszeug der Juristen ist dabei nicht selten das Synonymlexikon. Um aus einem Totschläger einen Mörder zu machen, hilft es, die Tat mit möglichst vielen hässlichen Adjektiven zu beschreiben: ,verwerflich’, ,verächtlich’, ,auf tiefster Stufe stehend’ und dergleichen mehr. Mittels solch gesinnungsstarker Wörter, wie sie in Urteilen aus der NS-Zeit bekannt sind, macht die Strafe einen drastischen Sprung: Für ,Totschlag’ gilt derzeit ein Strafrahmen von fünf bis 15 Jahren, auf ,Mord’ steht lebenslang als absolut-exklusive Strafe.“
Die Gesetzbücher der Bundesrepublik und der Länder sind noch voll von übernommenen Hinterlassenschaften des Dritten Reichs, die allerdings nicht alle einer Reform bedürfen wie der Mord-Paragraf 211 StGB. Vornehmlich im Norden der Bundesrepublik, wo die Briten beim Neuaufbau von Demokratie und Justiz weitaus laxer waren, als anfangs die Amerikaner und Franzosen im Süden, gibt es mehr Relikte der vergangenen Zeit nicht nur in der Natur, sondern auch in den Gesetzbüchern. Vor allem die Sowjets haben in ihrer Zone strenger durchgegriffen.
Ehegatten-Splitting ist eine Erfindung der Nationalsozialisten
Wer heute beispielsweise seine Hecke im Kleingarten kurz zu scheren hat, weil das so verlangt wird, tut dies, vermutlich unwissend, weil die Nazis das so vorgeschrieben hatten, um die Möglichkeiten zu erschweren, sich dahinter zu verbergen. In der taz vom ………. ist zu lesen: Das „Gesetz über den Grunderwerb für die Kanalisierung der Mittelweser“ – ein rotes Tuch für niedersächsische Umweltschützer – stammt von 1936. Und wer sich etwa in Schleswig-Holstein über Sonderrechte der Jäger ärgert, für die Teile des Tierschutzgesetzes nicht gelten, verdankt das den NS-Jagdbestimmungen. NS-Paladin Hermann Göring war oberster und leidenschaftlicher Jäger. Die steuerliche Belohnung von geringfügigen Erwerbstätigkeiten von Ehefrauen durch das Ehegatten-Splitting stammt ebenfalls aus der NS-Zeit und wird heute häufig als untauglich kritisiert.
Erst ab 2002 gab es die „Unrechtsbereinigungsgesetze“
Erst in den Jahren 2002 und 2009 haben die „Unrechtsbereinigungsgesetze“ endlich die NS-„Volksschädlingsverordnung“ und die Verurteilungen von Deserteuren aufgehoben. Doch immer noch sind auf Bundesebene 29 NS-Gesetze unmittelbar gültig, wie das Bundesjustizministerium mitteilte. Darüber hinaus sind NS-Gesetze umformuliert worden, wobei die Rechtssubstanz beibehalten wurde (Staatsrechtler Dian Schefold). Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes wurden zwar die meisten Gesetze und Verordnungen pauschal aufgehoben – aber nicht die der Justiz selbst. Der Staatsrechtler begründet dies damit, weil die Juristen in ihrer großen Mehrheit selbst Teil der NS-Justiz gewesen waren.
Und die Besatzungsmächte? Deren Alliierter Kontrollrat hob auf Reichsebene zwar einige der schlimmsten NS-Gesetze auf, entschied sich aber aus pragmatischen Gründen gegen ein grundsätzlicheres Vorgehen. Ein solcher Einschnitt jedoch, meint Schefolds Kollege Stuby, wäre „die richtige Antwort auf den einmaligen Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten“ gewesen.
DDR-Gesetze wurden 1990 fast völlig eliminiert
Beim Systemwechsel der Wiedervereinigung 1990 gingen die Deutschen deutlich radikaler zu Werk: Während die BRD schlicht die Rechtsnachfolge des „Dritten Reiches“ angetreten hatte, wurde die Eliminierung des DDR-Rechts im Einigungsvertrag festgeschrieben. Die Folge: Aus der NS-Zeit blieb alles erhalten, was nicht ausdrücklich aufgehoben wurde – von der DDR nur das, was die BRD explizit übernahm. Und das war wenig.
Für Helmut Kramer, der in Wolfenbüttel das Internetportal „Justizgeschichte“ betreibt, ist auch „das Fortwirken von Auslegungskonstruktionen und Denkfiguren“ eklatant. Der frühere Richter am Oberlandesgericht Braunschweig verweist auf die im Dritten Reich ins Strafgesetzbuch eingeführte Sicherungsverwahrung, die derzeit stufenweise ausgeweitet werde. Kramer: „Man kann sich je nach Opportunität aus dem Steinbruch der NS-Gesetze bedienen.“
Bei den Anwaltskammern landauf landab gibt es an gültigen NS-Gesetzen kaum Interesse – entsprechende Anfragen bleiben meist unbeantwortet. Hartmut Scharmer, Geschäftsführer der Hamburger Standesvertretung, erläutert: „Der mögliche Fortbestand solcher Gesetze hat für mich weder symbolische noch praktische Relevanz.“ Sein Vergleich: „So, wie nicht jedes 1968 geborene Kind links ist, ist nicht jedes Gesetz aus der NS-Zeit rassistisch.“
Heilpraktikergesetz und Vogel-Beringung
Für die Verordnung zur wissenschaftlichen Vogel-Beringung von 1937 trifft das sicher zu – zumal sie nicht zwischen fremd- und inländischen Vögeln unterscheidet. Und ja: Die von den Nazis eingeführte Kilometer-Pauschale wollen viele nicht missen. Dem seit 1939 gültigen Heilpraktikergesetz sieht man nicht an, dass es ursprünglich auch den Ausschluss jüdischer Ärzte bezweckte. Wie aber steht es mit offen diskriminierenden Regelungen gegen andere Bevölkerungsgruppen, wie dem 1935 verordneten Meisterzwang im Handwerk? Wann wird das Hamburger Gesetz über Wohnwagen aufgehoben, das deren Aufstellung genehmigungspflichtig macht? Es wurde vom Senat zwar erst 1952 verkündet – tradiert jedoch Rechtssetzungen der Vorgängerregierung, deren Stoßrichtung gegen das „Fahrende Volk“, also Sinti und Roma, leicht erkennbar ist. Auch Wagenplatz-Leute müssen sich heute mit diesen restriktiven Vorschriften herumschlagen.
Nun wäre der Eindruck verkehrt, jede gesetzlich festgeschriebene Bösartigkeit sei von den Nazis erfunden. Beispielsweise gab es bereits in den 1920er-Jahren in einigen US-Bundesstaaten Euthanasie-Gesetze – und entsprechende Entwürfe auch in der Weimarer Republik. Man könnte ferner drauf verweisen, dass Österreich, Spanien und Italien größere juristische Hinterlassenschaften der faschistischen Diktaturen zu verdauen haben als Deutschland. Trotzdem bleibt festzustellen: Selbst 2015 ist die Gesellschaft noch bereit, Teile von Hitlers legalistischen Setzungen hinzunehmen.
_______________________________________________________________
Quellen: taz vom 14. Januar 2014. – Dr. Heribert Prantl in Süddeutsche Zeitung vom 22. Dezember 2013 (Auszug).
(Auszug SZ vom 22. Dezember 2013).