Von Dr. Arnold Bettin und Dr. Angelika Jacobi-Bettin
„Nein, das darf nie wieder vorkommen, dass wir uns gegenseitig befeinden.“ Diese Worte Paul Schälligs, eines bereits in der Weimarer Republik aktiven Sozialdemokraten und nach 1945 langjährigen Betriebsratsvorsitzenden der Schachtanlage Fürst Leopold, kennzeichnen zugleich leidvolle Erfahrung und Anspruch der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung nach der Befreiung vom Faschismus. Am eigenen Leib hatten viele der im März 1945 wieder aktiven Männer und Frauen schmerzhaft die Folgen der Grabenkämpfe der Arbeiterbewegung vor der nationalsozialistischen Machtergreifung erleiden müssen. Auf gewerkschaftlichem Gebiet sollte deshalb die Spaltung in sozialdemokratische, kommunistische und christliche Richtungen überwunden werden.
Solidarität wurde auf eine harte Zerreißprobe gestellt
Im Mittelpunkt des gewerkschaftlichen Neubeginns standen in Dorsten wie im gesamten Ruhrgebiet die Bergarbeiter. Deshalb sollen hier vornehmlich ihre Anstrengungen zum Wiederaufbau einer eigenen demokratischen Organisation beleuchtet werden. Getragen wurde die Reorganisation der Dorstener Bergarbeitergewerkschaft vornehmlich von erfahrenen Betriebsräten, deren Perspektiven durch die lebensgeschichtlichen Erfahrungen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus geprägt waren. Es fanden sich, um nur einige für viele andere stellvertretend zu nennen, Fritz Klein, Paul Schällig, Gerhard Hellmann, Wilhelm Hahneiser, Richard Weidner, Franz Wobbe, Heinrich Schröter und Friedrich Olschewski als Vertreter aller politischen Richtungen zusammen; sie bereiteten die vorläufige Gründung der Schachtgewerkschaft am 17. Juni 1945 vor.
Allerdings wurde die Solidarität im Umgang und die Einheitlichkeit der Organisation mit Beginn des Kalten Krieges 1946/47 auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Ungeachtet der dabei entstandenen Brüche blieb das Prinzip der Einheitsgewerkschaft bis heute im Deutschen Gewerkschaftsbund erhalten.
Mit Fritz Klein, ein aus den Jahren vor 1933 geschätzter Betriebsrat, der auch zum ersten Betriebsratsvorsitzenden nach 1945 gewählt wurde, wurde zum ersten Gewerkschaftsvorsitzenden auf der Schachtanlage Fürst Leopold-Baldur ernannt. Sofort mietete er von der Zechenverwaltung neben seinem Betriebsratszimmer ein Gewerkschaftsbüro an. Diese Handlungsweise beleuchtet eine weitere Besonderheit des gewerkschaftlichen Neuanfangs: Die Betriebsräte der ersten Stunde verstanden sich stets als Arm der gewerkschaftlichen Organisation. Die schnelle Verankerung des gewerkschaftlichen Gedankens war keineswegs nur für Dorsten kennzeichnend. Schon am 25. Juni 1945 konnte die Geschäftsstelle Gladbeck der Bergarbeiterorganisation in einem Rundbrief an die bestehenden Schachtgewerkschaften mitteilen: „Der Aufbau der Gewerkschaften geht richtig vorwärts, und man kann sagen, dass das Ruhrgebiet durchorganisiert ist.“
Widerstandszellen gegen die Besatzungsmacht?
Allerdings stand die britische Besatzungsmacht dem schnellen Gewerkschaftsaufbau und der Spontaneität der Bergarbeiter anfangs skeptisch und bremsend gegenüber. Die Militärkommandanten befürchteten trotz der antifaschistischen Vergangenheit der Gewerkschaftsgründer die Bildung von Widerstandszellen gegen die Besatzungsmacht. Ihr Hauptinteresse galt der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und der schnellen Wiederingangsetzung der Kohleproduktion. Erst im Juli 1945 erlaubten sie offiziell unter erheblichen Auflagen die Gründung örtlicher Gewerkschaften. Auch die bereits bestehende Dorstener Schachtgewerkschaft musste sich dem Anerkennungsverfahren beugen. In einer Einzeichnungsliste beantragten daraufhin 110 Bergleute bei Colonel Thomson, dem Labour Officer des Military Government, die Genehmigung zur Bildung der Betriebsgewerkschaft der Schachtanlage Fürst Leopold/Baldur. Am 14. Oktober 1945 fand die offizielle Gründungsversammlung der Betriebsgewerkschaft statt. 1. Vorsitzender wurde Friedrich Olschewski, 2. Vorsitzender Wilhelm Hahneiser, 1. Kassierer Heinrich Kecker, 2. Kassierer Heinrich Jansen, Schriftführer Peter Hinterholz und Beisitzer Erich Materna. Die Mitgliederzahlen der Schachtgewerkschaft stiegen in der Folgezeit schnell an. Im Juni 1946 war die Belegschaft der Zeche zu fast 80 Prozent und 1947 zu annähernd 100 Prozent organisiert.
Auch der Aufbau einer gewerkschaftlichen Dachorganisation kam in dieser Zeit gut voran. Im Frühjahr 1946 wurden in den drei Stadtteilen Ortsgruppen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes – einem Vorläufer des DGB – gebildet. In Hervest-Dorsten wählten die Gewerkschaftsmitglieder Wilhelm Hahneiser zum Vorsitzenden.
Bergleute enttrümmerten die Zeche
Vor drängende soziale und politische Probleme gestellt, beanspruchten Betriebsräte und Gewerkschafter insbesondere in der ersten Phase nach der Befreiung weit reichende Handlungs- und Entscheidungsbefugnisse. Da vor den anrückenden Amerikanern „der Zechendirektor Schulte Borbeck stiften gegangen war“, wie Fritz Klein berichtet, versammelten sich schon einen Tag nach der Befreiung etwa zwanzig Bergleute in der Lohnhalle. Eine erste Bestandsaufnahme ergab, dass die Außenanlagen des „Pütts“ zu einem großen Teil zerstört waren und der Wiederaufnahme der Produktion erhebliche Wasserschäden in beiden Schächten entgegenstanden. Die Kumpel begannen zunächst aus eigener Initiative mit der Enttrümmerung der Tagesanlagen. Später fuhren die Betriebsräte zusammen mit dem von der Militärkommandantur eingesetzten Direktor Vier in die Landgemeinden und warben Arbeitskräfte an.
Aufbau der Nahrungsmittelversorgung
Eine weitere Hauptarbeit sahen Gewerkschaftsorganisation und Betriebsrat in dem Aufbau einer funktionierenden Nahrungsmittelversorgung. Die Sorge um eine ausreichende Zuteilung von Brot, Speck, Butter und Hausbrand für die Bergarbeiter überlagerte dabei oftmals andere Aufgaben. Ebenso konsequent wie der Gewerkschaftsvorstand die Entnazifizierung der Leitungsebenen der Schachtanlage vorantrieb – durch einen Entnazifizierungsausschuss wurde die Vergangenheit von Grubenbeamten, Meistern, Maschinensteigern und kaufmännischen Angestellten überprüft –, gingen Betriebsrat und Gewerkschaft gegen die Entwendung von Lebensmitteln durch Arbeiter und Angestellte vor. In verschiedenen Betriebsratsprotokollen vom Januar und März 1947 heißt es dazu knapp:
„Fall H. (1 Pfd. Butter, 6-8 Scheiben Käse) über 2/3 Mehrheit für sofortige Entlassung; Fall B. (2 Pfd. Butter) Mehrheit für sofortige Entlassung; Fälle K., D., S. (375 Gramm) alle für sofortige Entlassung.“
Der politische Anspruch der Gewerkschafter überschritt jedoch den engen Bereich betrieblicher Tagesaufgaben. Gerhard Hellmann, nach 1945 Betriebsrat auf der Schachtanlage und von den Nazis im April 1933 wegen seiner Betriebsratsarbeit und KPD-Mitgliedschaft entlassen, beschreibt aus seiner Sicht die Stimmungslage so:
„Das erste halbe Jahr nach 1945 war sich die gesamte Arbeiterschaft einig, dass das alte kapitalistische System, so wie es in Deutschland bestanden hatte, nicht mehr aufkommen sollte. Wir waren uns einig, dass die Großindustrie, wenigstens die Großindustrie, verstaatlicht werden sollte; auch die Christen, auch die Sozialdemokraten. So war damals die Lage.“
Demokratisierung der ersten Nachkriegsjahre
Zu offenkundig hatten die Bergleute die aktive Rolle der Kohlekonzerne an der Unterstützung nationalsozialistischer Politik erfahren, und ihr dominierender Anteil an der Wiederaufnahme der Kohleproduktion hatte das Selbstbewusstsein gestärkt, dass es auch ohne die „alten Chefs“ gehe. Mit allen politischen Parteien – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – forderten sie in den ersten Nachkriegsjahren die Demokratisierung der Bergbauwirtschaft durch eine entschädigungslose Enteignung der Zechenbesitzer und Überführung der Kohlegruben in von Gewerkschaften mitbestimmte Selbstverwaltungsorgane. Die wirtschaftsdemokratischen Forderungen der Bergarbeiter wurden mit dem Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 nur zu einem Teil erfüllt.