Von Wolf Stegemann
In der Holsterhausener Humboldtstraße 34 wohnte ab Ende der 30er-Jahre der Schüler Paul Schällig. Damals war er 13 bis 15 Jahre alt. Er ging in die Volksschule. „IV. Klasse“ steht auf einem, mit krakeliger Schrift „8. Jahrgang“ auf einem anderen der vier Schulhefte, die 2009 auf einem Speicher in Holsterhausen aufgetaucht sind. Sie geben einen Einblick in das Volksschulwissen der damaligen Zeit, in den Unterrichtsstoff, den die Kinder lernen mussten, in die Methoden, mit denen Lehrer die nationalsozialistische Gesinnung und den Krieg den Schülern einzuimpfen versuchten. In den wörtlichen Wiedergaben von Aufsätzen sind die Fehler des Schülers der Authentizität wegen geblieben. Komm- und andere Satzzeichenfehler sind der besseren Lesbarkeit wegen verbessert. Paul Schällig, der Schüler, stellt sich in einem der Hefte unter „Lebenslauf“ selbst vor:
„Ich bin geboren am 13. Februar 1926. Mein Vater ist der Bergmann Paul Schällig, meine Mutter ist seine Ehefrau Minna geb. Nolte. Ich bin allein zu Hause. Meine erste Jugendzeit verlebte ich in Holsterhausen. Dort besuchte ich die Volksschule. Ich bin in der 2. Fußballmannschaft und habe das Freischwimmerzeugnis erworben. Am liebsten lernte ich Deutsch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde. Ostern 1940 wurde ich aus der Volksschule entlassen. Ich möchte gerne Heizungsmonteur werden. Seit 1936 gehöre ich dem deutschen Jungvolk an.“
Am 4. März 1940, kurz vor Entlassung aus der Schule, schreibt Paul Schällig in sein Heft, wie er sich sein künftiges Leben vorstellt:
„Ostern 1940 komme ich aus der Volksschule. Ich will den Beruf Heizungsmonteur lernen. Wenn ich nach 2 Jahren die Lehre aus habe, gehe ich auswärts arbeiten. Mit 19 Jahren trete ich in den Reichsarbeitsdienst R.A.D. ein bis zum 20. Lebensjahr. Mit 21 Jahren gehe ich zum Militär. Ich möchte gerne bei der Kavallerie, oder bei den Kradschützen. Wenn ich die Militärzeit aus habe, lerne ich meinen Beruf weiter. Mit 25 Jahren gründe ich eine Familie.“
Aus sozialdemokratischer Bergmannsfamilie
Pauls Vater war Sozialdemokrat. Der Sohn gleichen Vornamens hatte eine Schrift, zu der man getrost „geschmiert“ sagen kann. Doch manchmal hat er sich auch angestrengt und sich Mühe gegeben, die Buchstaben und Wörter einigermaßen akkurat und lesbar in Sütterlinschrift nebeneinander zu setzen und diese auf Zeile zu halten.
Die Hefte tragen allesamt ein Etikett, auf dem gedruckt ist „Tagebuch für“ und dann steht mit ungelenker Schrift darunter Paul Schällig. Schlägt man eins der Hefte von 1939/40 auf, dann springt einem erst einmal eine Seite mit gedruckten Fotos des HJ-Jungvolks ins Auge, in der Mitte Hitler im Zivilanzug, der ein junges Mädchen herzt. Auf der 2. Seite stehen eine Ansprache des Führers „An die deutsche Jugend“ und ein Kapitel über die Lebensraumnot des deutschen Volkes.
Der erste handschriftliche Eintrag Schälligs ist ein kurzer Aufsatz über den 1934 verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg. Lehrer W. Althoff bescheinigte dem Schüler 0 Fehler und darunter setzte Vater Schällig seine Unterschrift. Weiter finden sich Wortübungen im Heft, Diktate „Wie schützen wir den Wald“, eine Geschichte über den preußischen General York, der Widerstand gegen Napoleon leistete. Der König, die Hälfte seines Landes (verloren) abtreten. Das Volk seufzte, unter der schweren Last der Kriegssteuern, noch mehr aber unter der Schreckensherrschaft der französischen Besatzung. In dieser Notlage sprach der König zur Königin Luise: „Wer kann uns Preußen retten?“ Ein Aufsatz mit Zeichnungen, wie man sich bei Pilzvergiftung verhalten soll. Auch wird das Schiller-Gedicht „Die Bürgschaft“ erläutert. Paul schreibt am Dienstag, den 28. 11. 1939:
Möros stand vor dem Tyrannen. Der Tyrann sprach: „Was wolltest du mit dem Dolche?“ „Die Stadt vom Tyrannen befreien“, entgegnete Möros. Der Herrscher entgegnete, „das soll er nächstens am Kreuze bereuen“.
Im Krieg änderten sich die Inhalte der Texte
1939 fing der zunächst europäische Krieg an, aus dem sich dann als Weltkrieg entwickeln sollte. Ein Aufsatz vom 3. 12. 39 befasst sich mit den Engländern unter der Überschrift „Wie die Engländer das internationale Seerecht brachen.“ Zwischen solchen geschichtlichen und politischen Texten wie „Winterhilfe zur Weihnacht“ finden sich immer wieder Zeichnungen und Geschriebenes über die Natur, Rechenaufgaben, Berechnen von Quadern, Schilderungen über den Goldfalter und Vogelschutz ebenso wie über die Ringelspinnen und den Ahornbaum. Falsch geschriebene Wörter musste Paul mehrmals richtig schreiben wie jeweils zehn Mal das Wort Rothkehlchen.
Briefe an den fiktiven Bruder an der Front
Dem Krieg entsprachen fiktive Briefe an einen fiktiven Bruder an der Kriegsfront. Paul Schällig schrieb gleich drei hintereinander und erzählte durchaus nicht fiktiv, wie es nach Kriegsbeginn in Holsterhausen aussah:
„Holsterhausen, den 15. 12. 1939
Lieber Bruder! Deinen Brief haben wir erhalten. Uns geht es ganz gut. Hoffen dasselbe von dir. Heute will dir mal einen Brief schreiben wie es bei uns in Holsterhausen jetzt im Kriege aussieht. Du würdest dich wundern, wenn du mal nach Hause kämst. In den ersten Tagen des Krieges wurden die Wilhelm- und Antoniusschule besetzt. Kurze Zeit danach wurde die Wilhelmschule wieder frei. Vor kurzer Zeit wurde unsere Schule auch beschlagnahmt. Wir müssen jetzt nur noch 3 Tage zur Schule in der Woche. In der Antoniusschule liegen Sanitäter. In unserer Schule liegt Infanterie, Pioniere und Panzerabwehr. Einige sind in Privatquartier. Wenn man heute durch Holsterhausen geht, dann sieht man meist Soldaten. Holsterhausen ist nach dem Kriege eine wichtige Soldatenstadt geworden. Hoffentlich kommst nach Weihnachten auf Urlaub. Mutter schickt heute noch ein Paket ab. Wir wünschen dir recht frohe Weihnachten. Viele Grüße von Vater und Mutter. Ich will jetzt das Schreiben schließen. Ich hoffe dass dich die Zeilen bei bester Gesundheit antreffen. Schreibe mal bald wieder. Es grüßt dich vielmals dein Bruder Paul.“
„Holsterhausen, den 18. 12. 39
Lieber Bruder! Deinen Brief haben wir erhalten. Hier will ich dir male meinen Brief schreiben der soll heißen ,Soldaten in Holsterhausen’. Du würdest dich wundern, wenn du jetzt nach Holsterhausen kämst. Lauter Soldaten laufen in Holsterhausen herum. Die Antonius- und Bonifatiusschule sind voll Soldaten. In der Antoniusschule liegen Sanitäter. In der Bonifatiusschule liegen Pioniere, Infanterie und Panzerabwehr. Die Leute in Holsterhausen essen gern das Kommissbrot. Die Soldaten essen lieber Weißbrot. Die Soldaten fahren morgens zur Übung aus. Die schießen mit Gewehre, Maschinengewehre und werfen mit Handgranaten. Wenn sie mit Handgranaten werfen, denken die Leute immer die Flack schießt. Nachmittags müssen die Soldaten exerzieren und Paraden kloppen. Viele Soldaten haben das EK II in Polen sich erkämpft. Die Soldaten sind nicht alles junge Kerle. Die meisten Soldaten kommen aus Braunschweig, Hannover und Sachsen. Sie freuen sich schon auf Weihnachten. Weihnachtsbäume haben sie sich gekauft. Nun will ich schließen. Mutter schickt dir in der nächsten Zeit ein Feldpostpäckchen. Es grüßt dich herzlich dein Bruder Paul“
„Holsterhausen, d. 1. 2. 1940
Lieber Bruder! Wir haben Deinen Brief erhalten. Mutter hat sich sehr gefreut. Sie liest den Brief jeden Tag. Sie hat ihn bestimmt schon 10-mal gelesen. Und immer liest sie ihn wieder. Ich glaube, du bist ihr Lieblingssohn. Mutter strickt jetzt für mich Strümpfe und Handschuhe. Vater muss jetzt immer 1 Stunde eher einfahren. Es sind jetzt wenig Arbeiter da. Viele sind eingezogen. Und darum muss jetzt mehr gearbeitet werden. Vater geht jetzt immer zu Fuß nach der Zeche. Es ist jetzt bei uns hier Glatteis. Die meisten Bergleute gehen alle zu Fuß. Es ist zu gefährlich, zu fahren. Ich brauche jetzt nur noch 2 Stunden jeden Tag nach der Schule. Die Heinrich-Lersch-Schule ist noch voll Soldaten. Ich muss jetzt immer nach der Wilhelm-Schule. Zwei Lehrer sind eingezogen und zwei Lehrpersonen sind krank. Da kannst Du Dir auch denken, warum wir nur 2 Stunden Unterricht haben. Wir haben in Holsterhausen jetzt Schnee und Glatteis. In der Nachbarschaft sind noch keine Männer eingezogen worden. Sie sind alle noch am Arbeiten. Es sind keine anderen Familien zugezogen. In der nächsten Woche schlachten wir. Wir schicken dann ein Paket. Von den 20 Hühnern, die wir haben, legen schon 6 Stück Eier. Nun will ich schließen. Es grüßt Dich Dein Bruder Paul“
Die Schulhefte sind Dokumente des Kriegsalltags in der Heimat
Die Tage, an denen der kleine Paul Schule hatte, waren der Montag und der Dienstag, wie aus dem Stundenplan hervorgeht. Montags hatte er fünf und dienstags vier Stunden. Mit ungelenker Hand zeichnete Paul den Schlachtort an den Düppeler Schanzen ein, wo Preußen gegen Dänemark 1864 kämpfte und siegte, den Krieg 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich. Namen der Heerführer Roon und Moltke werden an den Rand geschrieben und auf der nächsten Seite eine Berichtigung der Wörtern Haubenlerche, Rotkehlchen, Blaumeise, Zitterpappel. Zum Schluss des Schulheftes beschreibt Paul Schällig ein Unglück auf der Borkener Straße:
Holsterhausen, den 28. 1. 1940
„Am 27. Januar als ich aus der Schule geschah ein Unglück auf der Borkenerstraße. Ein schwerer Militärwagen war nur leicht beschädigt. Der Lastwagen war ganz kaputt. Die Fahrer vom Lastauto sind alle schwer verletzt. Die Soldaten hatten keinen Schaden. Das Krankenauto war sofort an der Unfallstelle. Die Verletzten sind ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Polizei untersuchte den Fall und stellte fest, dass die Soldaten nicht Schuld am Unglück waren.“
Paul Schällig fiel als 19-Jähriger im Osten
Auf der letzten Seite des Heftes steht wieder gedruckte NS-Propaganda unter der Überschrift „Daran muss das Jungvolk denken!“ An die Geburtstage des Führers , seines Stellvertreters Heß, von Hermann Göring, Josef Goebbels, Joachim von Ribbentrops, Wilhelm Fricks, Bernhard Rusts und Baldur von Schirachs. Des Weiteren informiert eine Datenliste über die Schlachten des Ersten Weltkriegs und des aktuellen Kriegs sowie über politische Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland. Die Monatsnamen sind natürlich alle nationalsozialistisch umgestellt: Hartung, Hornung, Lenzmond, Ostermond …
In sein Zeichenheft hat er neben Blumen und perspektivischen Übungen auch eine Landkarte über den Frontverlauf im Osten gemalt und seinen kindlichen Glauben an Adolf Hitler mit dem sprachlich nicht ganz astreinen Spruch dokumentiert: „Wer Adolf Hitler dient Deutschland“
Paul Schällig diente Adolf Hitler – er fiel als Soldat im Osten. Er war keine zwanzig Jahre alt.