Von Wolf Stegemann
Amtsbürgermeister Philipp Desoi schürte schon am 25. Mai 1945 die Vorfreude auf das Wiedererscheinen der seit 1940 eingestellten traditionsreichen »Dorstener Volkszeitung«, die in der NS-Zeit durch den »Westfälischen Beobachter« abgelöst worden war. Allerdings haben die Dorstener ihre Heimatzeitung doch nicht so schnell in Händen gehalten. Aus dem nicht gerade reichlichen Archivmaterial geht nicht hervor, warum es mit der frühen Zeitungsherausgabe im Mai 1945 nicht geklappt hat, wo doch Desoi aufrief, »vertrauenswürdiges Material« solle zur Amtsverwaltung auf den Klapheck’schen Holzplatz gebracht werden.
Aus zwei zerstörten Druckmaschinen eine zusammengebaut
Als am 22. März 1945 auch das 1925 errichtete Druckereigebäude am Südwall von Bomben stark getroffen wurde, improvisierten in der »Stunde Null« die Drucker nach dem Motto »Not macht erfinderisch«. Sie montierten aus zwei ziemlich beschädigten Druckmaschinen einen funktionstüchtigen »Heidelberger Tiegel« zusammen. Papierknappheit grassierte überall in Deutschland. Mit einer frühen Lizenz konnte Verleger Weber aufgrund seiner deutsch-nationalen Vergangenheit sowieso nicht rechnen. Dennoch verließen die wichtigsten lokalen und regionalen Meldungen – auf Handzetteln gedruckt – das beschädigte Verlagsgebäude am Südwall. Der damalige Drucker Hans Cirkel erinnerte sich: »Wir verkauften das Blatt für zehn Pfennige.«
Ein Jahr lang, bis August 1946, bezogen die Dorstener u. a. ihre Informationen aus der von den Alliierten herausgegebenen »Neuen Westfälischen Zeitung« (NWZ). In seinem Abschiedskommentar stellte Chefredakteur Dr. Hans Contzen den publizistischen Nachfolger, die »Westfälischen Nachrichten« (WN), vor. Diese von den Briten lizenzierte und der CDU nahe stehende Zeitung feierte am 3. August 1946 Premiere (Auflage im Oktober 1947: 77.500 Exemplare).
Ruhr-Nachrichten erschienen erst spät in Dorsten
Über die Zeitungslandschaft in Dorsten und Umgebung gibt folgende Passage aus einem späteren Artikel in der »Dorstener Volkszeitung« Aufschluss:
»Dem Verlag der Westfälischen Nachrichten in Münster wurde seitens der Militärregierung das gesamte Münsterland bis an die Lippe zugewiesen, während Lizenzträger südlich der Lippe die Westfalen-Post, später die Ruhr-Nachrichten (RN) waren. Da das Gebiet Dorsten und die Herrlichkeit ureigenstes Interessengebiet des Verlages Weber war, sah sich dieser gezwungen, beide genannten Zeitungen zu vertreiben.« Von dem alten Heimatblatt war also noch nicht die Rede.
Bis 1949 erschienen die »Westfälischen Nachrichten« zuerst zweimal, dann dreimal wöchentlich in Dorsten. Die Lokalseite war mit dem Schriftzug »Dorstener/Halterner Nachrichten« gekennzeichnet. Unter dem Dorstener Wappen lasen die Abonnenten zum Beispiel, dass Karl und Luise Kirsten Goldene Hochzeit feierten, sich Felddiebe mal wieder mit dem Nachtschutz geprügelt hatten und dass der Bevölkerung eine Rüge gebührte, weil sie die Pflege der Friedhofsgräber sträflich vernachlässigte. Wer sich für die Nachbargemeinde interessierte, konnte sich durch den »Blick in den Kreis« auf derselben Seite informieren.
Wahlhelfer für die Christdemokraten
Wie die Dorstener Heimatzeitung vor 1933 als Wahlhelfer für die Zentrumspartei fungiert hatte, machten die »Westfälischen Nachrichten« (WN) nun Wahlkampf für die Christdemokraten. Unter der Überschrift »So musst Du wählen! – Stimmzettel für die Wahl zum Bundestag am 14. August 1949 im Wahlkreis Nr. 41 Recklinghausen-Land« weist ein Pfeil auf ein Kreuz, das neben der Liste drei »CDU« steht. Im Gegensatz zur »Dorstener Volkszeitung« von vor 1933 ließen die WN in ihrem Lokalteil auch politisch Andersdenkende zu Wort kommen. Da wurde zum Beispiel nach Ratssitzungen in bester Ausgewogenheit über die Ansichten der Genossen Groote und Dirks (KPD), Heizer und Müller (SPD) genauso berichtet wie über die der Ratsmitglieder Norres und Voßbeck-Elsebusch von der CDU.
Nach Lockerung der Militärbestimmungen harter Konkurrenzkampf
Das Wort in eigener Sache ergriffen die »Westfälischen Nachrichten« im August 1949. Ein Zeitungskampf schien sich anzubahnen. Unter der Titelzeile »Eine neue Zeitung?« warnten die WN vor Werbern, die WN-Leser mit der »Propaganda«, bald würde wieder die »Dorstener Volkszeitung« erscheinen, zur Umbestellung verleiteten. Die WN:
»Bei dieser Propaganda handelt es sich in Wirklichkeit um nichts anderes, als dass eine bereits lizenzierte Zeitung, und zwar die Ruhr-Nachrichten Dortmund, das Halterner bzw. Dorstener Gebiet redaktionell in ihr Verbreitungsgebiet einbeziehen will und zu diesem Zwecke jetzt durch eine massierte und irreführende Propaganda die Gutgläubigkeit der Eingesessenen ausnutzt.«
Mit ihren Vermutungen lagen die »Westfälischen Nachrichten« richtig. Nichtlizenzierte Zeitungen, die nach Lockerung der Militärbestimmungen auf den Blättermarkt drängten, führten bei ihrem Erscheinen regelrechte harte Vertriebskriege. Das »Wiesbadener Tageblatt« versuchte zum Beispiel Leser mit Freiexemplaren zu ködern, die der Verlag einen Monat lang ausgab. Den Händlern wurde teilweise der Anfangserlös überlassen. Als Gegenleistung ließen sie die Druckerzeugnisse der Konkurrenz einfach verschwinden. Da auch Lizenz-Zeitungen zu solchen Mitteln griffen, wundert es nicht, dass die »Ruhr-Nachrichten« kurz vor ihrem Erscheinen in Dorsten veranlasst haben sollen, die »Westfälischen Nachrichten« ein paar Tage lang nicht auszuliefern. So verschwanden die WN (Auflage 1946 in Dorsten rund 6.000 Exemplare) über Nacht aus der Lippestadt.
Am 1. September 1949, als die »Westfälischen Nachrichten« zum ersten Mal in Dorsten auch täglich erscheinen wollten, übernahmen die »Ruhr-Nachrichten« deren Revier. In der ersten Ausgabe der »Ruhr-Nachrichten für Dorsten und die Herrlichkeit« konnten die Dorstener lesen, dass Verlag und Schriftleitung sich nach Kräften bemühen würden, der Lokalzeitung im Rahmen der RN wieder den Charakter eines »echten Heimatblattes« zu geben.
Verbindung zur alten Heimatzeitung
Als Starthilfe konnte der Nachfolger von Verleger Josef Weber, Julius Hülswitt, 3.246 Bezieher aufweisen, die bereits vor Herausgabe der ersten RN-Nummer als Abonnenten in der Lippestadt geworben wurden. Im Impressum der Zeitung tauchte der Name Hülswitt allerdings nicht auf. Verantwortlich für den Lokalteil zeichnete Heinrich Schmitt. Die Herstellung der Lokalseiten hatte der Verlag Weber zu besorgen. Als Lizenzträger waren die Namen Lambert Lensing, Heinrich Raskop und Otto Rippel genannt. Gedruckt wurde die Dorstener Ausgabe damals in Bottrop. Die ersten Ausgaben der »Ruhr-Nachrichten« in Dorsten führten den traditionsreichen Namen »Volkszeitung für Dorsten und die Herrlichkeit« im Untertitel. Den Lesern wurde jedoch in Aussicht gestellt, dass nach der Lizenzfreiheit der alte Titel »Dorstener Volkszeitung« wieder im Kopf der Zeitung geführt würde.
Jahrzehnte Sprachrohr der CDU in Dorsten
Die alte Heimatzeitung war also, zumindest dem Äußeren nach, wieder auferstanden. Obwohl der »Stil von anno dazumal« laut Zeitung nicht »fröhliche Urständ« feiern sollte, schlichen sich anfangs zeitweilig schlechte und eigentlich abgelegte journalistische Gepflogenheiten wieder ein. Außer der CDU ignorierte die Lokalzeitung beispielsweise alle anderen Parteien, so dass der Leser den Eindruck gewinnen musste nur Christdemokraten säßen im Rat und in den Ausschüssen.
An Sensibilität mag es dem Redakteur gemangelt haben, der in den Dorstener »Ruhr-Nachrichten« am 11. Juli 1951 eine Volksgruppe verunglimpfte, deren Angehörigen noch wenige Jahre zuvor in Konzentrationslagern großes Leid zugefügt worden war. Die Meldung lautete:
»Im Judenbusch hinter den Drahtwerken an der Marler Straße hat sich eine Gruppe Zigeuner niedergelassen. Die Pußta-Söhne und -töchter mit einer Reihe halbnackter Kinder bieten das übliche malerische Bild. Ob die umliegenden Gehöfte von dieser Nachbarschaft erbaut sind, ist bei der allbekannten Veranlagung des Nomadenvölkchens kaum anzunehmen.«
Mit mahnenden Worten an die deutsche unabhängige Presse verabschiedeten sich die alliierten Militärzeitungen: Keine Verunglimpfungen des politischen Gegners, des Andersdenkenden und Andersartigen.
- Im Jahre 1997 wurde die Lokalausgabe der Ruhr-Nachrichten in »Dorstener Zeitung« umbenannt.