Von Wolf Stegemann
Den amerikanischen Kampftruppen, die Dorsten einnahmen, rückten bald Soldaten nach, die eine besondere Aufgabe zu erfüllen hatten. Diesem Stab, der mit großen Vollmachten ausgestattet war, gehörten sowjetische, amerikanische, französische, polnische und englische Offiziere an. In ihrem Gepäck hatten sie meterlange Listen dabei. Sie suchten in den Städten und Dörfern, auf Friedhöfen und in Massengräbern, in Standesamtsakten und in befreiten Kriegsgefangenenlagern nach Toten und Vermissten ihrer Nationalität.
Diese Mitarbeiter des „International Tracing Service, 922 I.R.O. Interpendent Team“ (I.T.S.) mit Sitz im HQ British Zone Division in Göttingen, arbeiteten mit einem großen bürokratischen Aufwand, um festzustellen, wo alliierte Flieger abgestürzt waren, wo sie beerdigt oder gefangen gehalten waren und wo die großen Ströme der Zwangsdeportierten, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge blieben. Bürgermeister, Polizeidienststellen und Bahnhofsvorstände wurden aufgefordert, ihr Wissen über Gefangenentransporte und Todesmärsche, so sie den Ort berührt hatten, bekannt zu geben.
Amtsverwaltung stellte eine detaillierte Liste auf
Polizei-Inspektor Quaschnowitz meldete, dass die Amerikaner beim Einmarsch alle Unterlagen mitgenommen hätten. Eine detaillierte Liste stellte dagegen die Amtsverwaltung zusammen mit den Namen und den Grabstätten aller Ausländer, die in der Zeit vom 3. September 1939 bis 8. Mai 1945 in Dorsten und in den Landgemeinden ums Leben gekommen waren. Die Alliierten ließen der Verwaltung für diese Aktion drei Wochen Zeit.
Nebenbei musste sich die Verwaltung auch mit der Ausgrabung und Überführung von deutschen Wehrmachtsangehörigen befassen, die während der Kriegsereignisse in Dorsten und den Landgemeinden gefallen und beerdigt worden waren. Allerdings verbot der Oberpräsident der Provinz Westfalen, Amelunxen, bald das Ausgraben deutscher Leichen, weil dies die Ruhe auf den Friedhöfen störe und die in fortgeschrittenem Stadium der Verwesung befindlichen Leichen hygienische Missstände hervorrufen würden. Anders die Alliierten. Mit Akribie suchten sie ihre gefallenen Soldaten, gruben sie aus und überführten sie in die Heimat.
Um die Begräbnisstätten der vielen toten polnischen Ostarbeiter sowie sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen musste sich die deutsche Verwaltung auf Anordnung der Alliierten kümmern. Diese forderten würdige Friedhöfe mit Gedenksteinen. In Holsterhausen, gegenüber dem Kommunalfriedhof Holsterhausen, befindet sich auf Wulfen-Söltener Gebiet der so genannte Russenfriedhof, der schon 1942 angelegt, erst 1946 würdig hergerichtet und erweitert wurde. Dorthin sind die ausgegrabenen Leichen verbracht worden, die überall in der Umgebung von Dorsten verscharrt gewesen waren. Auch die Friedhöfe an der Gladbecker Straße, in Wulfen, in Hervest-Dorsten, Lembeck und Rhade beherbergen Gräber von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern. Insgesamt sind in Dorsten 574 Kriegsgefangene und 748 Fremdarbeiter bestattet.
Eine letzte Suche nach verstorbenen Ausländern führte die „I.T.S. Regional Search Staff“ im Regierungsbezirk im März 1949 durch. In diesem Zusammenhang fand am 27. Mai 1949, frühmorgens, die letzte Umbettungsaktion »russischer Leichen« aus den Landgemeinden Wulfen, Lembeck, Rhade, Erle und Altschermbeck statt. Amtsdirektor Dr. Bänke an die jeweiligen Bürgermeister: „Die Freilegung der Leichen hat so zu erfolgen, dass dieselben bis zum Eintreffen der Fahrzeuge mit etwa zehn Zentimeter Erde bedeckt bleiben.“
Kollaborateur von Landsleuten erschlagen
Im Jahre 1956 beschäftigten sich die Behörden nochmals mit der Umbettung eines menschlichen Skeletts, das am 5. April auf der Weide des Bauern Ewald Huxel in Wulfen gefunden wurde. Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass es sich um die Leiche eines Ostarbeiters handelte, der bis 1945 im Wulfener Muna-Lager als Dolmetscher fungierte. Ende März soll dieser von anderen Ostarbeitern erschlagen und in einen mit Wasser gefüllten Trichter geworfen worden sein. Wenige Tage später sei er dann von der Wulfener Hilfspolizei auf der Weide beerdigt worden. Warum der Dolmetscher umgebracht wurde, konnte damals nicht mehr ermittelt werden. Der Bauer Huxel erinnerte sich 1956, dass der Dolmetscher stets mit dem Lagerleiter, dem SA-Führer Ferdinand Aßmann zusammen gewesen war, der kurz vor Kriegende 1945 zwei kanadische udn einen englischen Flieger in diesem Lager ermordet hatte.
Am 26. Mai 1956 wurde der damals 75-jährige Max Brändel vom Ordnungsamt befragt. Er nannte den Namen des Toten: Iwan Kuripka stand auf der Stundenliste, die Brändel als Sanitäter und Vorarbeiter des Muna-Ostarbeiterlagers zu führen gehabt hatte. Der Zeuge bestätigte die Dolmetscherfunktion des 20-Jährigen. Am 27. März sei er noch mit Kuripka zusammen gewesen, anderntags besetzten die Amerikaner die Muna. Einige Tage später habe er von anderen gehört, dass der Russe Kuripka von Landsleuten erschlagen worden sei. Das Skelett wurde auf dem Russenfriedhof beigesetzt.