Trommler, Träumer und Betrogene – Die Hitlerjugend war ein Geschenk für den Führer

HJ-Trommler beim Sportfest; Foto: Bundesarchiv

Von Wolf Stegemann

Dienen und marschieren lernte beizeiten, wer in das Dritte Reich hineingeboren wurde: Im Jungvolk, in der Hitlerjugend, beim Arbeitsdienst und schließlich als Sol­dat. Viele überlebten diese Jugend nicht. Wer davongekommen war, hatte es schwer, sich von der totalen Prägung zu befreien. Heute gehen Hitlers Kinder in die Rente. 1947 wurde die Hitlerjugend-Generation im Zuge der Entnazifizierung mit Exekutivan­weisung Nr. 54/1947 für die britische Zone (Britischer Sektor von Berlin, Niedersach­sen,  Hamburg, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen) als »unbelastet« amne­stiert. Dies war ein einmaliger Vorgang, denn beispielsweise die Amerikaner ließen ihre üppige Militärbürokratie zur Erfor­schung nationalsozialistischer Beschäftigung der deutschen Jugend üppig wuchern. Nicht selten wurden Hitlerjugend-Führer oder BDM-Führerinnen als »Hauptschuldige« eingestuft.

Inzwischen hat sich die Diskussion darüber beruhigt, ob diese oder jene HJ-Jahrgänge »umerziehbar« seien, ob ihnen jemals als Demokraten zu trauen sei, nachdem sie in den entscheidenden Jahren der Persönlich­keitsprägung den Namen Hitlers getragen hatten und für sein System erzogen worden waren.

Hitlerjugend diente zur Schaffung eines neuen Menschen

Der Nationalsozialismus verstand unter Hit­lerjugend die »einheitliche Organisation der gesamten deutschen Jugend im nationalso­zialistischen Geist«. Aus Hitlers Äußerun­gen in »Mein Kampf« über die Jugenderzie­hung ist zu entnehmen, dass nichts Geringe­res als die Schaffung eines neuen Menschen geplant war. Der Vorrang der körperlichen Ertüchtigung sollte der »Heranzüchtung kerngesunder Körper« dienen, wobei der Begriff Züchtung im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen war. Dem biologischen Denken entsprechend wurde die intellektuelle Bildung gering be­wertet. Nicht im »Einpumpen so genannter Weisheit« bestehe die Aufgabe der Jugender­ziehung, sondern in der »Stählung der jun­gen Körper«.

Lehrlinge der Eisengießerei Dorsten waren geschlossen in der Hitlerjugend eingetreten und dann angetreten

Hitler brauchte für die Durch­führung seiner Ziele Menschen, die, vom »Recht des Stärkeren« überzeugt, »unwertes Leben« ohne Hemmung vernichteten. Die 1926 gegründete Hitlerjugend erhielt vom 1. Dezember 1936 an die Aufgabe, »die gesamte deutsche Jugend körperlich, gei­stig und sittlich im Geiste des Nationalsozia­lismus zum Dienst am Volk und zur Volksge­meinschaft zu erziehen«. Neben die ge­schlossene Erfassung aller Jugendlichen zum HJ-Dienst traten ab 1937 parteieigene Schu­len: die auf den Parteiordensburgen Sontho­fen (Allgäu), Vogelsang (Rheinland) und Crössinsee (Pommern) untergebrachten Adolf-Hitler-Schulen (1938 wurden zehn weitere gegründet), die ebenso wie die SS-Schulen Internatsschulen waren. Hier wurde den ausgewählten Zöglingen täglich das Empfinden eingeimpft, eine Auslese darzu­stellen und künftig besondere Aufgaben lö­sen zu dürfen.

Nachwuchs für die Hitlerjugend

Hitler bekam zum Geburtstag einen ganzen Jahrgang Jungvolk »geschenkt«

Das Jahr 1936 war als »Jahr des deutschen Jung volks« der Übergang von den bis dahin noch relativ freien, abenteuerlichen HJ-Gruppen zu strenger Neugliederung der Staatsjugend. Am 19. April dieses Jahres wurden 90 Prozent des Jahrgangs 1926 in Jungvolk und Jungmädelbund aufgenommen und in einer Feierstunde, die sich all­jährlich wiederholte, am Vorabend von Hit­lers Geburtstag, dem Führer geschenkt, dessen Namen die Jungen und Mädchen tru­gen. Hitler sollte sich dieses Geschenkes noch bedienen. Am 20. April 1936 leisteten ihm 190.000 junge Führer und Führerinnen in einer Massenkundgebung den Treueid. Die Hitlerjugend wurde regional an die Kreise der NSDAP angelehnt.

Dorstens HJ-Stammführer Willi Cramer 1937

Freies Gruppenleben wich der Militarisierung

Die Militarisierung zeigte sich äußerlich in strenger, »reichseinheitlicher« Uniform- und Dienstordnung. Der Junge stieg vom Hor­denführer im Jungvolk Stufe für Stufe auf, verführt von Litzen, Sternen und Führerschnüren. Die Leistungsabzeichen in Eisen, Bronze, Silber bis hin zum Goldenen Führer­sportabzeichen trug man wie Orden. Die Militarisierung der Ränge bewirkte die der Dienste. Die freie Fahrt in losen Grup­pen wich der Disziplin des »Wehrertüchti­gungslagers«. Aus jugendhaftem Kampfspiel in der Natur wurde Geländedienst unter si­mulierten Gefechtslagen mit Kartenkunde, Gepäckmärschen und Schießübungen. Was die jungen Pimpfe noch als Abenteuer gern mitmachten, ödete die Älteren an, die über 14 Jahre alt waren. Hier motivierten die Sonderforma­tionen neu: Reiter-HJ, Marine-HJ, Motor-HJ, Flieger-HJ, Nachrichten-HJ. Sie waren unmittelbare Rekrutierungsreserven für die Spezialtruppen der Wehrmacht. Den vom Militarismus noch mehr abgestoße­nen Mädchen bot man Kurse im »BDM-Werk Glaube und Schönheit«, wo sie mu­sisch und sozial zu jungen Frauen und späte­ren Idealmüttern erzogen werden sollten und auch ein »Reichsfeierkleid des BDM« tragen durften.

Pausenloser Sportdienst sollte die Jugend ge­sund halten und abhärten. »Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Wind­hunde«, so hatte sich Hitler beim Reichspar­teitag die Jungen gewünscht und »rank und schlank« die Mädchen. Der ideologische Mi­litarismus diente der Erziehung zum Krieg und der immerwährenden Bereitschaft zum Opfergang.

Dorstener Volkszeitung vom 5. Oktober 1933

Zur Todesbereitschaft erzogen

Die Lieder, die Fahnen- und Feuersprüche priesen im »Reichsfeierjahr der Hitlerjugend« die heroischen Vorbilder der deutschen Geschichte und stimmten das Unterbewusstsein derart auf jene Dienst- und Todesbereitschaft für »Führer, Volk und Vater­land« ein, ohne die Hitler seinen »völkischen Krieg« nicht hätte führen können. Der Militärarzt und Dichter Gottfried Benn notierte 1944:

»Die Armee im fünften Kriegsjahr wird von zwei Dienstgraden getragen: den Leutnants und den Feldmar­schällen; alles andere ist Detail. Die Leut­nants, hervorgegangen aus der HJ, also mit der Erziehung hinter sich, deren Wesen systematische Ausmerzung von gedanklichem und moralischem Lebensinhalt aus Buch und Handlung war und deren Ersatz durch Gotenfürsten, Stechdolche – und für die Marschübungen Heuschober zum Über­nachten.«

Auszeichnung des Hitlerjungen Willi Hübner nach einem Kriegseinsatz

Im Frieden derart vorbereitet, »übernahmen sie so ausgerüstet die Erdteilzerstörung als arischen Auftrag«.

Nicht alle. Es verweigerten sich Arbeiter­mädchen und Studenten, katholische Land­jugend und Jugend aus liberalen und aristo­kratischen Familien. Auch Dorstener. Als Beispiel für viele sei hier Agnes Oleynik, später verheiratete Hürland-Büning, genannt. Christoph Probst, Hans und Sophie Scholl, Willi Graf aus der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« oder die Essener »Edel­weißpiraten« leben als Symbolfiguren der Verweigerung weiter; andere starben gren­zenlos einsam vor Exekutionskommandos. Einer von ihnen, ein Theologiestudent, schrieb in sein Tagebuch, bevor er hinter der Ostfront wegen Wehrkraftzersetzung erschossen wurde: »Wenn diese Verbrecher sie­gen, mag ich nicht mehr leben!« Bei Jahresbeginn 1939 marschierten 8.100.000 Jugendlichen zwischen zehn und achtzehn in den Formationen von HJ und BDM. Bei Kriegsende waren dem ersten Jahrgang Zehnjähriger von 1933 die Zehn­jährigen von 1945 nachgewachsen, der Jahr­gang 1935, auch er noch im April 1945 in Ber­lin auf einen Führer verpflichtet, der seinen Selbstmord vorbereitete, während beim Bunker der Reichskanzlei die Fünfzehnjährigen der Berliner HJ kämpften. Von den Männern der Jahrgänge 1916 bis 1930, gezählt in den Reichsgrenzen von 1937, fielen als Soldaten 1.420.000. Von den Jahrgängen 1911 bis 1926 fielen 25 Prozent al­ler Männer, von den Jahrgängen 1916 bis 1921 sogar 29 Prozent. Einer vom Jahrgang 1921 war Wolfgang Borchert; ihn erfasst keine Statistik, da er erst am 20. November 1947 an den Kriegsfolgen starb. Er schrieb:

»Und dieses Deutschland müssen wir doch wieder bauen im Nichts, über Abgründen: aus unserer Not, mit unserer Liebe.«

Opfer und Instrument des Angriffskrieges

Keine Statistik registriert, wer an den Spät­folgen von Verwundung starb. Nicht mitge­zählt wurden die jungen Mädchen und Frauen der HJ-Jahrgänge, die im Kriegsein­satz hinter der Front, in den Bombenangrif­fen, auf der Flucht und in Lagern starben. Die meisten Eltern, die um die damals Gefal­lenen weinten, sind tot. und die Kinder der Gefallenen kannten ihre jungen Väter nicht. Aber selbst die Trauer bleibt gebrochen, weil diese Generation Tod und Verwüstung über Europa brachte. Sie waren als Kinder und Jugendliche Opfer des Systems, als junge Soldaten aber auch Instrument des Angriffskriegs.

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Dorstener Hitlerjugend 1938

Hitlerjugend (HJ)

Sie war von 1926 bis 1945 die Jugendorganisation der NSDAP. Sie unterstand seit Oktober 1931 einem »Reichsjugendführer« (Baldur von Schirach, seit 1940 A. Axmann) und zählte 1932 über 100.000 Mitglieder. Die große Zahl der im Reichsausschuss deut­scher Jugendverbände zusammenge­schlossenen Organisationen (insgesamt 5 Millionen Mitglieder) musste nach 1933 dem Druck des nationalsozialistischen Staates zugun­sten der HJ weichen. Durch das von der Reichsregierung am 1. Dezember 1936 beschlos­sene »Gesetz über die HJ« wurde diese zur Staatsjugend erhoben. Dem »Reichsjugendführer« der NSDAP wurde als »Jugendführer des Deutschen Reiches« die Erziehung der gesamten deutschen Ju­gend im Sinne des Nationalsozialismus übertragen. Ende 1937 umfasste die HJ 7,7 Millionen Mitglieder.

Gliederungen: Dt. Jungvolk in der HJ (DJ, Jungen von zehn bis 14 Jahren), die eigentliche HJ (Jungen von 14 bis 19 Jahre), Deutsche Jungmädel in der HJ (DJM, Mädchen von zehn bis 14 Jahre), Bund Deutscher Mädel (BDM, Mädchen von 14 bis 18 Jahre). Nach vollendetem 18. oder 21. Lebensjahr und mindestens vier­jähriger Zugehörigkeit zur HJ oder zum BDM konnten die Mitglieder in die Partei aufgenommen werden.

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