Von Wolf Stegemann
In einer Ausgabe der Münsterschen Diözesan-Zeitung „Kirche und Leben“ vom 25. Juli 1971, herausgegeben vom Bischof, steht die interessante und wegen der Sache selbst Erstaunen provozierende Frage eines Lesers, warum die katholische Kirche in der Madrider St. Martinskirche im Juni 1971 vor mehr als 200 Messe-Besuchern ein „Requiem für Adolf Hitler“ zelebrierte. Der inzwischen verstorbene Bischof Heinrich Tenhumberg gab die Antwort im Sinne: Vor dem Herrn sind wir doch alle Sünder!
Des Lesers Frage: Warum Requiem für Adolf Hitler?
„Natürlich kann man auch für einen Massenmörder Gott um Vergebung bitten. Ob aber hierzu die feierliche Form eines Requiems angemessen ist, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Oder besteht zwischen dem damaligen Schweigen der Kirchenführung während der Tatzeit – von 1941 bis 1944 hörte ich in rund 200 heiligen Messen mit Predigten nicht einen einzigen kleinen Hinweis auf die Massenmorde, obschon sie dem Vatikan nicht verborgen geblieben waren – und dem heutigen „Requiem für einen Mörder“ ein psychologischer Zusammenhang? Da ich der Meinung bin, dass diese von katholischer Seite her stattgefundene optische Aufpolierung der Person Hitlers nach einer Korrektur geradezu schreit, beantrage ich gleichzeitig die Abhaltung eines feierlichen Requiems für die von Hitler Ermordeten im Dom zu Münster. Ich darf wohl überzeugt sein, dass Sie, sehr geehrter Herr Bischof, zumindest aus Paritätsgründen diesem Antrag entsprechen werden.“ J. S.
Die Antwort des Bischofs
[…] Die Einladung zu der Messe war aus falangistischen Kreisen erfolgt. Vor einem Monat hatte in der gleichen Kirche ein Requiem für den italienischen Diktator Benito Mussolini stattgefunden. Dank umfangreicher Sicherheitsmaßnahmen ist es bei beiden Gelegenheiten nicht zu ähnlichen Handgreiflichkeiten wie in früheren Jahren gekommen. Ich verstehe die Empörung des Lesers und bin selber befremdet über diesen Vorgang. Dennoch sollte man ihn nicht zu sehr hochspielen. Zieht man die verschiedenen Mentalitäten eines Landes in Betracht und berücksichtigt man die Tatsache, dass der noch unvergessene furchtbare Bürgerkrieg (1936-1938) ein tiefes seelisches Trauma in Spanien hinterlassen hat, so kann man die Sache wohl eher als eine „Kuriosität“ ansehen.
Vermutlich hat der Pfarrer der St. Martinskirche in Verkennung des politisch-demonstrativen Charakters einer solchen Aktion dem Wunsch einiger Katholiken aus religiösen Gründen nachgegeben. Die Menschen haben grundsätzlich ein Recht auf den sakramentalen Heilsdienst und die Fürbitte der Kirche. Wenn die Kirche daran glaubt, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben ist, und wenn sie ihren eigenen Versöhnungsauftrag ernst nimmt, kann sie ihren Dienst grundsätzlich keinem Menschen verweigern. Das ist heute umso weniger möglich, da uns auf Grund sozialpsychologischer Erkenntnisse die gesamtmenschliche Schuldverstrickung mehr denn je einleuchtet: Es gibt nicht das eine schwarze Schaf und die vielen weißen Lämmer. In Hitler und den andern Prominenten des Unheils hat sich die Schuld ganzer Generationen geoffenbart. Wir alle sind mitschuldig, wir alle sind Sünder. Das Urteil über den einzelnen Menschen und sein Schuldmaß steht Gott allein zu. Wie Max Picard mit seinem Buch „Hitler in uns“ gezeigt hat, haben wir keinen Grund, mit dem Finger auf die Sündenböcke zu weisen.
Noch weniger Grund aber haben wir, eine in sich sinnvolle Handlung wie die Fürbitte für einen Massenmörder zu einer politischen Demonstration umfunktionieren zu lassen. Diese Gefahr bestand hier. Ich kann mir jedenfalls nicht gut vorstellen, dass die falangistischen Kreise, die für dieses Requiem geworben haben, von Abscheu über die Naziverbrechen erfüllt, nur um das Seelenheil Hitlers beten wollten. Sollte das heilige Messopfer aber tatsächlich aus echt christlichen Motiven erbeten worden sein, so hätte es in einer Weise vollzogen werden müssen, die Missverständnisse und Ärgernisse ausgeschlossen hätte. Sei es, dass die Messe im geschlossenen Kreis der Interessierten gefeiert worden wäre; sei es, dass bei einem öffentlichen Gottesdienst in einer Ansprache Hitler und das NS-Regime klar als Manifestation der Sünde gekennzeichnet, ihrer zahllosen Opfer gedacht und in diesem Zusammenhang auch die Diktatoren und Henker der Barmherzigkeit Gottes anbefohlen worden wären. Über das Schweigen (und die Bemühungen!) der Kirchenführung im letzten Weltkrieg ist in den vergangenen Jahren so viel geschrieben und geredet worden, dass ich hier auf eine Erörterung verzichten möchte. Ohne den Mangel an Klugheit und Takt bagatellisieren zu wollen, der in dem „Requiem für Adolf Hitler“ zum Ausdruck kommt, möchte ich aber doch den Vorwurf zurückweisen, dass damit von katholischer Seite eine „optische Aufpolierung der Person Hitlers“ stattgefunden habe. Eine Gegendemonstration würde diesem absonderlichen Vorfall einen Rang zuerkennen, der ihm nicht zukommt, worauf auch die geringe Zahl der Beteiligten in der Millionenstadt Madrid hinweist. Für die beklagenswerten Opfer der NS-Herrschaft und des Weltkrieges finden jährlich allenthalben in unserm Land große Gedenkgottesdienste statt. + Heinrich Tenhumberg
Auch der Erzbischof von Breslau ordnete im Mai 1945 ein Requiem für Hitler an
Der Bischof von Münster hätte noch antworten können, dass auch ein exponierter Vertreter der katholischen Kirche in Deutschland, der Breslauer Erzbischof Adolf Kardinal Bertram, Vorsitzender der reichsdeutschen Bischofskonferenz, sich noch angesichts der Katastrophe im Mai 1945 unbeirrt staatstreu und nationalbewusst zeigte. Unmittelbar nachdem Hitler seinem Leben in der Reichskanzlei ein schmähliches Ende gesetzt hatte, gab der Kirchenobere, selbst schon aus Breslau geflohen, Anfang Mai 1945 noch eigenhändig allen Pfarrämtern seiner Breslauer Erzdiözese Anweisung, ein feierliches Requiem zu halten im Gedenken an den Führer, zugleich verbunden mit innigstem Gebet für Volk und Vaterland und für die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland.
Die eigenhändige Niederschrift dieser Anweisung ist erhalten; ob sie noch ausgeführt wurde, ist unklar. Sie zeigt aber die Stilisierung des „Führers“ als eines Heiligen bis zum bitteren Ende, bis über den Tod hinaus, allen offenkundigen Erweisen seines pathologischen Charakters und seiner kriminellen Absichten zum Trotz. Hier wird der Verlust an moralischer Orientierung und Glaubwürdigkeit auf oberster Leitungsebene besonders sinnfällig; Gut und Böse zu unterscheiden war einer bis zur Selbstaufgabe angepassten Kirche im Dritten Reich offensichtlich nicht mehr möglich. Die Theologie des Nationalismus hatte ihren innersten Kern bloßgelegt, der auf Machterhalt angelegt war. Mit welchen Folgen?
Die frommen Steigbügelhalter des NS-Staates überstanden den Zusammenbruch des „tausendjährigen“ Reiches erstaunlich gut. Wie Phönix aus der Asche stiegen beide Kirchen zu neuer Machtfülle auf. Neue und alte Privilegien bewiesen die erstaunliche Stabilität der kirchlichen Systeme abseits jeder Logik: Wohl auch ein Kunststück kollektiver Vergesslichkeit weiter Bevölkerungskreise.
Hitlers „Mein Kampf“ stand nicht auf der Verbotsliste des Vatikans
Erstaunlich ist auch, dass Adolf Hitlers „Mein Kampf“, jenes Buch, in dem er die Vernichtung der Juden ankündigt und den Lebensraum von „Untermenschen“ im Osten reklamiert, vom Vatikan nie auf den 1559 eingeführten „Index der verbotenen Bücher“ gesetzt wurde, über die die Hl. Inquisition mit Strafen wachte. Diese Information kam nach Öffnung des vatikanischen Geheimarchivs im Jahre 1998 an die Öffentlichkeit. 1955 wurde das letzte deutsche Buch indiziert, 1966 aufgrund heftiger Kritik an der Zensurpraxis des Vatikans während des 2. Vatikanischen Konzils (1962-65) der Index abgeschafft und 1998 das einstige Geheimarchiv für Wissenschaftler geöffnet.
Auf den langen Verbotslisten des Vatikans stehen Werke u. a. von Kopernikus, Luther, Sartre, Zola, sogar Victor Hugos „Glöckner von Notre Dames“ und Heinrich Heines „Neue Gedichte“. Der Chefarchivar des Vatikan begründete gegenüber dem Kirchenhistoriker Hubert Wolf und dem Journalisten Wolf von Lojewski die Verschonung von Hitlers „Mein Kampf“ in der TV-Sendung im ZDF vom 18. September 2011 mit dem biblischen Gebot, dass Hitler als Präsident eines Staates dies im Sinne Gottes war und daher der Mensch nicht eingreifen dürfe. „Gebe des Kaisers was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist!“ Die Bibel unterscheidet nicht zwischen guten und bösen Kaisern. In diesem Sinne blieben auch die Werke des Massenmörders Stalin von einem Verbot verschont.
Neueste Forschungen am Text der Anordnung eines Requiems für Hitler durch Kardinal Bertram im Mai 1945 (Winfried Töpler, Ein Requiem für Hitler?, in: Zumholz, Hirschfeld, Zwischen Seelsorge und Politik, 2018) zeigen, dass der Text unmöglich im Mai entstanden sein kann, er stammt möglicherweise aus der Zeit um den 20. Juli 1944, ist nur ein handschriftlicher Entwurf ohne Unterschrift, Datum und Anweisung der Verbreitung, außerdem mit einem roten Bleistift durchgestrichen (Reste finden sich sichtbar auf der obigen Kopie, im Faksimile, das Scholder veröffentlicht hat, ist der rote Strich ganz verschwunden. Der Zettel befindet sich im Nachlass Bertram im erzbischöflichen Archiv Breslau. Mit der Abreise Bertrams nach Johannesberg am 20. Januar 1945 endet die Überlieferung der Bertram Akten in Breslau. Der Redlichkeit halber sollte man diese neuen Erkenntnisse in den obigen Text einarbeiten.
Anmerkung der Redaktion: Danke! Wir belassen es bei dieser interessanten Information!