Von Wolf Stegemann
Auch am Vermögen der von den Nazis im Ghetto ermordeten Hildegard Perlstein und ihrer 1939 nach England ausgewanderten Schwester Franziska Perlstein bereicherte sich der deutsche Staat. Die Finanzbehörde, hier das Finanzamt Gladbeck, vollzog nach den gesetzlichen Vorschriften den Beraubungsakt. Hildegard Perlstein wurde 1942 nach Riga deportiert. Sie kehrte nicht zurück. Am 16. Oktober 1950 wurde sie auf Antrag von Minna Aron (Recklinghausen), die im Auftrage von Franziska Perlstein handelte, vom Amtsgericht Dorsten für tot erklärt.
Nach dem Kriege beantragten die Erben Hildegard Perlsteins beim Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Essen ein Wiedergutmachungsverfahren. Der Essener Rechtsanwalt Hermann Röttgen vertrat die Erbengemeinschaft, der die Geschwister Franziska Perlstein (London) und Ernst Perlstein (Pittsburgh, USA) sowie die Nichten Lotte Tenenbaum, Irmgard Broniatowski (beide Frankreich) und Edith Gottschalk (New York) angehörten.
Enteignete Grundstücke mussten zurückgegeben werden
Das Verfahren richtete sich gegen das Deutsche Reich, vertreten durch den Oberfinanzpräsidenten Westfalen in Münster, der wiederum vertreten wurde vom Vorsteher des Finanzamts Gladbeck. Im Wiedergutmachungsverfahren, das 1949 eingeleitet wurde und sich bis 1952 hinzog, ging es um die Rückerstattung von Grundstücken und von beweglichem Vermögen. Zuerst stellte das Gericht fest, dass die Antragsteller einen Anspruch auf Rückerstattung des Vermögens der unverehelichten Hildegard Perlstein haben, das dieser zwischen dem 10. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 »aus Gründen der Rasse und Religion« entzogen worden war. Das Grundstück Lippestraße 57 wurde 1944 auf das Großdeutsche Reich umgeschrieben. Das Gericht entschied am 28. August 1951, dass der deutsche Staat die drei Grundstücke der Hildegard Perlstein, darunter das Grundstück des bei der Bombardierung zerstörten Anwesens Lippestraße 57, an die Erbengemeinschaft zurückzugeben habe. Wenige Jahre später wurden die zurückerstatteten Grundstücke an Dorstener Bürger verkauft. Nicht so reibungslos verlief das Entschädigungsverfahren beim beweglichen Vermögen der beiden Schwestern Perlstein, deren zurückgelassene Habe von der Stadtverwaltung »sichergestellt und übernommen« wurde. Hier gab es nach 1945 erhebliche Beweisschwierigkeiten. Dies teilte Amtsdirektor Dr. Walter Banke (Ordnungsamt 1/10-0.08, 812/51) am 11. Juli 1951 der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Essen mit.
Die 1939 nach England ausgewanderte Franziska Perlstein machte u. a. den Besitz von Möbel- und Haushaltsgegenständen geltend, aber auch von Schmuck: ein Brillantkollier, goldene Uhren aus dem Familienbesitz, ein Granatkollier, goldene Armbänder. Brillantringe und eine Anstecknadel mit Brillanten. Aus den Einlassungen des Amtsdirektors von 1951 geht hervor, dass nach dem Wegzug von Franziska Perlstein deren Schwester die Wohnung im Haus Lippestraße 57 allein bewohnte, später zusammen mit anderen Juden. Als die Gestapo Hildegard Perlstein und die anderen jüdischen Bewohner im Januar 1942 aus dem Hause holten, um sie mit einem Omnibus zum Deportationszug nach Gelsenkirchen zu bringen, versiegelte ein den Omnibus begleitendes SS-Kommando die Wohnung im Haus Lippestraße 57. Die Schlüssel wurden dem Finanzamt Gladbeck übergeben. Eine Woche später überließ das Finanzamt Gladbeck alle in der Wohnung befindlichen Gegenstände dem Amt Hervest-Dorsten zur »Verwertung und Taxierung«. Es wurde eine Niederschrift angefertigt. Die Gegenstände des Haushalts, darunter Lampen und Kochtöpfe, ein Kohlenherd und Gardinen, Spiegel, Wäsche und Kleider, wurden mit 657,04 RM inklusive 13,04 RM Kosten für die Verwertung errechnet und von der Amtsverwaltung an die Finanzkasse überwiesen. Daraufhin versteigerte die Amtsverwaltung das gesamte Inventar. Während nach der städtischen Inventarliste der hinterlassene Haushalt sehr ärmlich gewesen sein musste, standen auf dem im Wiedergutmachungsverfahren eingereichten Verzeichnis der Franziska Perlstein weitaus mehr Gegenstände, die sie detailliert beschrieb, darunter Bücher, Teppiche, Mahagoni-Möbel, Rosenthal-Porzellan, Silberbesteck, Kristallschalen, Porzellan-Figuren aus Meißner-Porzellan. Schließlich waren die Perlsteins eine wohlhabende Familie. In der Nazi-Zeit mussten Juden Edelmetalle und Vermögenswerte anmelden, was im Falle Perlstein auch geschah. Ins Ausland durfte nichts dergleichen mitgenommen werden. Der Amtsdirektor berief sich in seiner Stellungnahme auf die amtliche Inventarliste vom Februar 1942 und auf das Abwicklungsverfahren: »Das Amt Hervest-Dorsten«, so verteidigt er die Teilnahme der Kommune an der Beraubungspraxis des Staates, »hat in der Angelegenheit anweisungsgemäß und äußerst korrekt verfahren.«
Der Amtsdirektor wusste nicht, wo die Sachen geblieben sind
Die Amtsverwaltung konnte 1951 allerdings nicht mehr belegen, wer Gegenstände aus der Versteigerung erworben hatte, da der Obergerichtsvollzieher, der die Versteigerung durchführte, infolge von Kriegseinwirkung keine Akten mehr hatte. Weil die Gegenstände durch die Versteigerung in den Besitz anderer Leute gekommen waren, weigerte sich der Amtsdirektor, einen Rückerstattungsanspruch anzuerkennen. Auch konnte er nicht mitteilen, wo ein großer Rohr-Platten-Überseekoffer mit Inhalt sowie die Schmuckgegenstände geblieben waren: »Es wird angenommen, dass in diesem Falle Franziska Perlstein dieselben mit nach England genommen hat.« Amtsdirektor Dr. Banke hätte 1951 wissen müssen, dass es auswandernden Juden strengstens verboten war, Wertsachen mitzunehmen; schließlich wollte sich der Staat am Vermögen der Juden bereichern. Daher widersprach Rechtsanwalt Röttgen dem Amtsdirektor und wies dessen Ablehnung als »nicht schlüssig begründet« zurück. Nicht diejenigen seien entschädigungspflichtig, die bei der Versteigerung Gegenstände erworben hätten, sondern die Behörden, die den »Tatbestand der schweren Entziehung« des Vermögens verwirklichten. Franziska Perlstein betonte in London nochmals mit Nachdruck, dass sie viel zu ängstlich gewesen sei, bei ihrer Auswanderung irgendwelche Gegenstände aus Edelmetall mitzunehmen. 1952 gab ein Kriminalpolizist zu Protokoll, dass alle Zimmer des Hauses in der Lippestraße voller Möbel gestanden hätten. Während des Novemberpogroms 1938 seien an dem Haus lediglich Scheiben eingeschlagen und ein Spülstein in der Nähe eines Fensters zertrümmert worden. Möbel blieben unbeschädigt. Allerdings sei »vor der Verschickung der Hilde Perlstein« bekannt geworden, dass sie ihre Wohnungseinrichtung stückweise verkaufte. »Ich habe aber nicht gesehen, dass Möbel nach draußen transportiert wurden.« – Mit diesem Protokoll endet der Aktenvorgang des Entschädigungsverfahrens über das bewegliche Vermögen der Schwestern Franziska und Hildegard Perlstein.