„Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, das eine so sehr wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen.“ Jakob Wassermann, 1875 – 1934
Von Wolf Stegemann
Als die Nationalsozialisten im Staat die Macht ergriffen hatten und auch vom Dorstener Rathaus Hakenkreuzfahnen wehten, packten einige der etwa 90 ansässigen Juden in Dorsten und den damaligen Landgemeinden die Koffer, um dem nahenden Unheil zu entgehen, das sie auf sich zukommen sahen. Die Auswanderungswelle ergriff im Laufe der 30er-Jahre auch die anfangs Zögernden, die ihre Heimatstadt und Existenz nicht verlassen bzw. aufgeben wollten. Wenige zögerten so lange, bis es zu spät war. Ihr Glaube und ihre Hoffnung, „es werde schon nicht so schlimm werden“, wurden spätestens 1942 mit der Deportation in die Todeslager zunichte gemacht. Endstation dieses Glaubens war tausendfacher Mord.
Spuren der Dorstener Juden, die rechtzeitig ins Ausland abwandern konnten, weit genug weg von den im Kriege nachfolgenden deutschen Truppen, finden sich überall auf dem Erdball: von Frankreich bis in die Vereinigten Staaten, von Belgien bis Schweden, von England bis Argentinien, von Holland bis Palästina. Viele Mitglieder der Familien Perlstein gingen in die USA, Karola Metzger wanderte nach Argentinien aus, die Josephs nach Holland, Lebensteins nach Frankreich und Belgien, Hertha Minkel nach Schweden, Silbers und Moises’ nach Palästina. Doch die, die sich nicht weit genug vom deutschen Machtbereich entfernt niederließen, ereilte auch im Ausland das Schicksal der Ermordung in deutschen Konzentrationslagern, z. B. Mitglieder der Familie Joseph in Holland. Von denen, die überlebten, haben wenige, unter sicherlich unsagbaren seelischen Schmerzen, wieder Kontakt zu ihrer alten Heimat aufgenommen, aus der sie vertrieben und in der die meisten ihrer Verwandten umgebracht wurden. Die Zeit heilt Wunden, sagt man, doch diese Wunden, die grausame Unmenschlichkeit schlug, heilten nie.
Die Erinnerungen blieben
Renate Silber, die 1933 zwölfjährig mit ihren Eltern nach Palästina auswanderte, nahm erstmals wieder 1981 Kontakt mit ihrem ehemaligen Spielgefährten, Kurt Ilse, in Dorsten auf. Sie schrieb ihm u. a.: „Es ist schwer, nach so vielen Jahren wieder Kontakt aufzunehmen. Denn was zwischen uns steht, ist eine riesengroße Kluft, Zeit und Entfernung, und es sind vor allem die vergangenen politischen Ereignisse, die uns Juden dem deutschen Volk, mit einigen Ausnahmen, entfremdet haben.“
Ein anderer ehemaliger Dorstener Bürger jüdischen Glaubens, Ernst Metzger, der die Konzentrationslager überlebte und aus dem fernen Amerika 1983 seine Heimatstadt besuchte, mochte schon Wochen vor seiner großen Reise ins kleine Dorsten zunehmendem psychischen Druck ausgesetzt gewesen sein. Er schrieb: „Ich brauche nicht zu sagen, wie all die traurigen Erinnerungen wieder aufgelebt werden. Vergessen kann ich nie.“
Mitglieder der Familie Moises gedemütigt, vertrieben und ermordet
Eine andere breite Spur führt wiederum nach Palästina. Dort lebte seit 1939 der Wulfener Josef Moises, der gerade noch rechtzeitig unter Beraubung seines Eigentums Deutschland verlassen konnte.Die Familie Moises ist die wohl älteste nachweisbare jüdische Familie im heutigen Dorsten. Denn schon im Jahre 1800 ließ sich der aus Borken/Anholt stammende Urgroßvater von Josef Moises, Abraham Moises, mit einem Geleitbrief des Fürsten von Salm in Wulfen nieder, gründete 20 Jahre später einen Textilhandel. Die heimatverbundene Familie Moises, fleißig und strebsam, kam bald zu einigem Vermögen. Die Familie war angesehen und beliebt.
Ein 85-jähriger Wulfener erinnerte sich Anfang der 80er-Jahre im Gespräch mit dem Verfasser: „Die Familie Moises wohnte zunächst in der Matthäusgasse, wo sie ein Kurzwarengeschäft und nebenher eine Schlächterei hatten. Sie waren fromm und schlachteten nur Schafe und Kälber, keine Schweine. Am Tag vor der Schlachtung wurde im Ort nachgefragt, wer Fleisch haben möchte. Moises brachte das Gewünschte in einem Hundekarren vorbei. Nachdem sie das neue Haus an der Hervester Straße gebaut hatten, gaben sie die Schlachterei auf.“ Die Moises’ waren auch Besitzer eines Teils des jüdischen Friedhofs in Wulfen. Während die Lebensteins ihren Teil verkauften, trennte sich Josef Moises von diesem heiligen Grundbesitz nicht. Moises 1983: „Ich habe nie verkauft.“
Wulfener Juden waren besonders harten Drangsalen ausgesetzt
Josef Moises, geboren am 26. September 1900, besuchte von 1906 bis 1910 die Volksschule in Wulfen, bis 1916 das humanistische Gymnasium in Wesel. Nach einer Lehre als Textilkaufmann in Meppen/Ostfriesland und einigen Jahren Tätigkeit bei Rothmann & Co in Gelsenkirchen stieg er ins väterliche Geschäft in Wulfen ein. Oft fuhr er mit dem Fahrrad, mit Anhänger, Koffer und der Kiepe auf der Schulter übers Land, besuchte die Bauern und war stets gern gesehener Besuch. „De Moises Jöpp kömmt“, hieß es dann, wenn er seine Decken und Jacken ausbreitete. Und wenn seine Bauern gerade kein Geld hatten, dann ließ er die Ware trotzdem dort und holte sich das Geld später ab. 1930 baute er für 60.000 Mark ein neues zweigeschossiges Geschäftshaus, das heute der Sparkasse Vest gehört. Als Wulfen braun wurde, waren gerade die Wulfener Juden, die Moises’ und Lebensteins, besonders harten Drangsalen ausgesetzt. Neben den einheimischen Nationalsozialisten unter Führung von Wolthaus und Lippick waren es die auswärtigen Schergen der Partei, die vom „Muna“-Lager aus die Wulfener Juden verfolgten. Im Jahre 1937 starb Meier Moises, der Vater von Josef Moises.
Josef Moises wurde ins Gefängnis gebracht, beraubt und geschlagen
Nach dem November-Pogrom 1938 wurde Moises verhaftet und in das Hervester Gefängnis gebracht. Er kam frei mit der Auflage, seinen Besitz zu verkaufen und auszuwandern. Dazu Josef Moises: „Natürlich zu einem Spottpreis.“ Für sein Haus bekam er nur die Hälfte. Doch auch dieses Geld sah er nie. Die Erwerber mussten die 30.000 Reichsmark an den Staat bezahlen; für die übernommene Ware gaben sie ihm aber kurz vor seiner Ausreise einen größeren Geldbetrag. Doch der Staat nahm ihm auch dieses Geld weg: Er musste eine so genannte Reichsfluchtsteuer in Höhe von RM 12.750 bezahlen. Beraubt und gedemütigt und mit Schlägen, verließ er mit seiner Frau am 17. Februar 1939 Wulfen, um über die Schweiz, wo er seine Mutter abholte, nach Haifa zu fahren. Dort erwartete ihn bereits seine 1933 ausgewanderte Schwester Henriette („Jettchen“).
Wulfener zahlten ihre Schulden nicht mehr
Seine Schwester Adele, verheiratet mit Fritz Wieler aus Recklinghausen, blieb noch in Wulfen wohnen. Die Hausbewohnerin, die das Haus übernommen hatte, sagte später: „Wir haben gut mit den Wielers zusammengelebt. Adele gab uns viele Tipps für die Geschäftsführung. Oft kam sie auch in den Laden herunter, wenn alte Kunden kamen oder Bekannte. Das Ehepaar, das in einem Zimmer noch wohnen durfte, hatte bereits die Koffer für die Auswanderung gepackt, wartete aber noch auf fällige Zahlungen von Wulfenern, die die Beträge schuldig blieben.“ Etlichen Wulfenern passte es auch nicht, dass sich das Ehepaar noch auf der Straße oder am Fenster seiner Wohnung sehen ließ. Immer häufiger hörte man: „Unsere Jungen fallen in Polen und den Juden hier geht’s gut.“
Adele Moises wurde bei Deuten beinahe vergewaltigt
Die Stimmung verschlechterte sich zusehends. Die neue Hausbesitzerin weiter, dass in der Pogrom-Nacht 1938 plötzlich ein SA-Trupp in das Haus eingedrungen sei, die Tür zu dem Wielers eingetreten und die verängstigten Juden auf die Straße gezerrte habe. „Adele hatte so viel Angst, weil sie glaubte, sie werde mit der Pistole erschossen. Als ich mich dazwischen stellen wollte und sagte, dies sei Hausfriedensbruch, lachten die Männer nur und drohten mit KZ.“ Adele, die noch 1930 Ehrendame im Wulfener Schützenverein war, und ihr Mann wurden mit Steinwürfen aus dem Ort getrieben. Ein Wulfener Junge war auch dabei, der Steine warf. Als sein Vater dies erfuhr, hat er ihn verprügelt. Der Junge fiel als Soldat im Krieg. Weitere Zeitzeugen berichten, dass die SA-Horde versuchte, Adele nahe dem Gehöft Brunn zu vergewaltigen. Dabei rissen ihr die Männer die wenigen Kleider vom Leib. Übereinstimmend wird dann wieder bezeugt, dass Adele „nackt“ oder „halbnackt“ von Deuten aus auf dem Bahndamm nach Hervest gelaufen sei, um bei der dortigen Polizeidienststelle Schutz zu suchen.
Die Wielers wohnten anschließend in Recklinghausen und wurden im Januar 1942 zusammen mit den Recklinghäuser Juden nach Riga deportiert. Josef Moises bekam noch kurz vorher über das Rote Kreuz eine Karte von seiner Schwester: „Morgen fahren wir nach Riga.“ Dort wurden sie und ihr Mann ermordet. Die Überlebende Elly Eichwald berichtete dem jüdischen Lehrer aus Recklinghausen, Erich Jacobs, der in die USA auswandern konnte, vom Tod der Eheleute Wieler in Riga: Fritz Wieler wollte im Ghetto mit anderen jungen Männern etwas Essbares organisieren, was strengstens verboten war. Dabei wurde er entdeckt und auf der Stelle erschossen. Seine Frau verhungerte in derselben Nacht ohne vom Tod ihres Mannes erfahren zu haben (Quelle: Möllers/Pohl: „Abgemeldet nach unbekannt 1942“, hgg. von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Recklinghausen, Klartext Essen 2013).
Josef Moises: „Es war eine verrückte Zeit!“
Trotz der Verfolgung und Grausamkeiten, die die Moises’ erdulden mussten, ist Josef Moises im Herzen stets seiner Heimat Wulfen treu geblieben. In seiner Wohnung in Haifa umgab er sich mit Bildern, Andenken und Büchern aus Wulfen. Den Heimatkalender ließ er sich jedes Jahr zuschicken. Oft weinte er, wenn er etwas Neues aus seiner Heimat hörte, in der er, wie er sagte, eine glückliche Jugend verleben konnte. Als Josef Moises 1978 Wulfen besuchte, um das Grab seines Vaters zu sehen, schloss er seine Heimatstadt erneut in sein Herz ein. Die Peitschenschläge, die er erhielt, als er und seine Frau am Tage der Auswanderung von Wulfener Nationalsozialisten zum Bahnhof getrieben wurde, waren sicherlich nicht vergessen. Darüber schwieg er aber. Kein Wort der persönlichen Anklage kam über seine Lippen, nur die Feststellung: „Es war eine verrückte Zeit!“ – Er starb 1985 in Israel.
Gedenktafel am früheren Wohnhaus in Wulfen
Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ veröffentlichte schon 1983 die Schicksale der Wulfener Familie Moises und ließ 1985 am Friedhof „Auf der Koppel“ eine Gedenktafel anbringen und durch den Landesrabbiner einweihen. Dies gefiel nicht allen Wulfenern. Schweigen. Von da ab dauerte es noch einmal 30 Jahre bis dem Unrecht, das der Wulfener jüdischen Familie auch von Wulfenern zugefügt wurde, öffentlich gedacht wurde. Damit erinnerte der Wulfener Heimatverein am 11. November 2013, 75 Jahre nach der so genannten Reichspogromnacht an das Geschehen, indem er am früheren Wohnhaus der Familie Moises an der Hervester Straße eine Informations- und Gedenktafel anbrachte. Hauseigentümerin ist heute die Sparkasse Vest, die das Erinnerungsprojekt unterstützte. Dorstens Bürgermeister Lambert Lütkenhorst sagte bei der Enthüllung der Tafel über die Täter, dass es „ganz normale Bürger von nebenan“ gewesen seien, welche die todbringende NS-Ideologie des Rassenwahns verinnerlicht hatten und ohne erkennbar schlechtes Gewissen diskriminierten und mordeten. Für heute bedeute dies, so der Appell des Bürgermeisters, die Augen offen halten für Tendenzen des Rassismus und „Nein“ sagen zu Menschenverachtung und Fremdenfeindlichkeit.