Von Friedhelm Stoltenberg
In Dorsten zeigte die Zentrumspartei, zumindest auf den ersten Blick, nicht die enge Verquickung von Kirche und Partei, nicht die Verflechtung von Kirchen- und Parteiämtern, die in anderen Städten und Teilen des Deutschen Reichs das Bild des Zentrums geprägt haben. Natürlich verstand sich auch in Dorsten das Zentrum als „einzige Partei, die die Belange des Katholizismus vertritt und wahrt“, als Vertretung des „katholischen Heimatvolkes“; andererseits betonte sie jedoch ihren Charakter als „Vertreterin des Glaubens, der Freiheit und des Rechts“, als Partei des „freiheitlichen Bürgersinns und christlich-konservativen Denkens“. Deshalb galt das Dorstener Zentrum eher als liberale Partei: zu ihren führenden Vertretern gehörten Rechtsanwälte und Handwerksmeister, Kaufleute und Landwirte, Lehrer und Studienräte, aber auch Bergleute, Postschaffner, Kassenboten und Maurer, alles in allem Vertreter „aus allen Kreisen und (Berufs-)Ständen“.
In Hervest, wo hohe Stimmenanteile des Zentrums nicht zuletzt durch die Tätigkeit der Christlichen Gewerkschaften erreicht wurden, war man zudem stolz darauf, dass „alle Kandidaten, bis auf einen“ der Gemeinderatswahl vom 12. März 1933 „ein Eigentum besitzen“, dass alle führenden Vertreter des Dorstener Zentrums katholisch, dass sie auch in kirchlichen Gremien tätig waren, versteht sich von selbst.
Halbherziger Versuch, die Grenzen des Christentums zu überwinden
Die Gründung der „Christlich-sozialen Volksfront“ im Juli 1932 war nur ein halbherziger Versuch, die Grenzen des Katholizismus zu überwinden. Rein organisatorisch umfasste die Zentrumspartei auf dem Gebiet der heutigen Stadt Dorsten eigenständige Parteigliederungen in Dorsten, in Hervest, in Holsterhausen und im Amt Hervest-Dorsten. Dort gab es jeweils eigene Vorstände und Mitgliederversammlungen. In den jeweiligen Vertretungskörperschaften (Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dorsten, Gemeinderäte in Hervest und Holsterhausen, Amtsvertretung Hervest-Dorsten) gab es Zentrumsfraktionen, deren Vorsitzende auf Grund der gegebenen Mehrheitsverhältnisse bis 1933 auch Vorsteher des jeweiligen Gremiums waren. Natürlich stellte das Zentrum auch den Bürgermeister, der nicht nur für Dorsten (am 31. März.1933 10.627 Einwohner) sondern auch für Hervest (8.510 Einwohner), Holsterhausen (6.447 Einwohner) und für das Amt Hervest-Dorsten zuständig war. Im Rahmen der damals geltenden Magistratsverfassung war er, auf 12 Jahre gewählt, Vorsitzender des Magistrats, d. h. der Verwaltungsspitze, der außerdem einen Beigeordneten und vier ehrenamtliche Magistratsschöffen umfasste.
Von einem Parteileben ist wenig bekannt
Von einem regelrechten Parteileben des Zentrums ist nur wenig bekannt. Hin und wieder veranstaltete die Partei in den verschiedenen Ortsteilen Mitgliederversammlungen, die jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Ungleich wichtiger waren die Versammlungen der Vertrauensleute, die für die Aufstellung der Kandidatenlisten bei Kommunal- und Kreistagswahlen zuständig waren. Der Wahlkampf zu den verschiedenen Wahlen war durch so genannte Aufklärungsversammlungen geprägt, die zumeist in der letzten Woche vor dem Wahltermin stattfanden und zu denen ausschließlich Zentrumsmitglieder Zutritt hatten. Konkrete Mitgliederzahlen in den Jahren 1930 bis 1933 sind nur vom Hervester Zentrum bekannt: sie stiegen von 1930 bis 1932 von 421 auf 532.
Die wichtigste Informationsquelle für Zentrumswähler und -mitglieder war die „Dorstener Volkszeitung“. Diese informierte sie über den Standpunkt des Zentrums zu den großen politischen Ereignissen und Umbrüchen sowie vor allem über die Beschlüsse und Vorhaben der führenden Parteigremien, die alle in Berlin konzentriert waren. Mit ihr durchlitten sie die letzten, quälenden Wochen des Zentrums, in denen sie vergeblich auf ein Aufbäumen der Parteiführung warteten, mit ihr schwankten sie zwischen Bangen und Hoffen. Aus ihr erfuhren sie von den Beschlüssen der Fuldaer Bischofskonferenz und von den Verhandlungen über das Reichskonkordat. Mit ihr vollzogen sie schließlich die Auflösung der Partei, aber nur wenige wussten, dass „ihre“ Zeitung seit etwa Februar/März 1933 zensiert wurde und sich schon Wochen vorher aus der „einseitigen parteipolitischen Bindung“ (DV vom 6. Juli 1933) gelöst hatte. Interessant und aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Leitartikel der „Dorstener Volkszeitung“ vom 26. März 1933 zum Abstimmungsverhalten des Zentrums zum so genannten „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 im Deutschen Reichstag. Der Verfasser zieht die „Konsequenzen aus dem 5. März“ (Termin der letzten „freien“ Reichstags- und Landtagswahlen. Anm. d. Verf.):
„Dem Ergebnis des 5. März musste auch parlamentarisch Rechnung getragen werden. Diesem Volksvotum durfte (…) die Minderheit (…) nicht durch ein Versteifen auf Verfassungsbestimmungen (…) Widerstand leisten. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist… Diese Erklärung (Jesu Christi!) ist für den Christen zu seiner Einfügung in die staatliche Ordnung maßgebend geworden. Im Deutschen Reich geht noch heute alle Macht vom Volke aus. Das Volk hat am 5. März gesprochen, und seinem Willen hat sich das Zentrum am 23. März gebeugt.“