Von Christel Winkel
Zwischen der Gladbecker Straße in Dorsten und Kirchhellen liegt der heute zu Altendorf-Ulfkotte gehörende Ortsteil Tönsholt; die „Siedlung“, vor der grundlegenden Sanierung noch hässlich anmutende Häuser, ist angeordnet wie ein Barackenlager. Die festen Steingebäude wurden im Jahre 1942 als Lager für kriegsgefangene Italiener errichtet. Auftraggeber war die Organisation Todt. Russische Ostarbeiter, die sich erst selbst Barackenunterkünfte bauen mussten, waren dort als Arbeiter eingesetzt. Ursprünglich sollte das Lager auf dem Feld Schulte-Bockum errichtet werden. Da aber ein orkanartiger Wirbelsturm in einem nahegelegenen Wald des Grafen Metternich (Haus Beck) viele Bäume umknickte, bot sich diese Fläche für das Kriegsgefangenenlager bestens an. Zudem führte eine direkte Bahnverbindung durch den Wald nach Essen. Dort sollten die Kriegsgefangenen im Rüstungsbetrieb Krupp arbeiten. Bevor das Barackenlager für die Ostarbeiter errichtet werden konnte, mussten zehn serbische Fremdarbeiter das Waldstück von den umgeknickten Bäumen säubern, die in einem provisorisch errichteten Sägewerk zu Bahnschwellen verarbeitet wurden. Denn später sollte ein direkter Gleisanschluss vom Lager zu der bestehenden Bahnlinie hergestellt werden Westlich der Bahnlinie entstanden fünf bis sechs Holzbaracken sowie eine gemauerte Unterkunft für die Lagerverwaltung. 150 russische Männer, Frauen und Kinder waren dort untergebracht, dazu eine Handvoll belgische und holländische Fremdarbeiter. Ein Teil der Lagerinsassen fuhr täglich mit der Bahn und in Begleitung von Bewachern nach Essen.
Erste Lagerinsassen waren Angehörige der Badoglio-Armee
Auf der gegenüberliegenden Seite des Barackenlagers entstand das Kriegsgefangenenlager. Ausführende Firmen waren Heinemann & Busse und Otto Witt (Hannover); die Bauleitung lag in Händen von Bauführer Römert. Die nicht bei Krupp eingesetzten Männer und Frauen leisteten schwerste Handlangerdienste für die Baufirmen. Besonders schwer arbeiteten die russischen Frauen, wie sich ein Anwohner erinnert. „Mit primitiven Werkzeugen mussten sie eine zehn Meter tiefe Klärgrube ausheben, während die russischen Männer auf Spaten gestützt zusahen.“ Das erste fertig gestellte Gebäude bezogen italienische Kriegsgefangene der Badoglio-Armee.
Durften sich Russen in einem festgelegten Radius um das Lager frei bewegen, lebten die Italiener anfangs streng bewacht hinter Stacheldraht. Täglich fuhren sie zum Arbeitseinsatz in die Krupp-Werke nach Essen. Die in der Nachbarschaft der Lager wohnenden Bauern können sich an keine besonderen Vorkommnisse erinnern. Allerdings registrierten sie „unmenschliche Behandlungen“, die russische Ostarbeiter durch die Lagerführer Sch. und W. und den Unterlagerführer D. erdulden mussten. Die Lagerführer horteten in ihren Unterkünften und Wohnungen die für die Lagerküche der Russen angelieferten Lebensmittel. „Kleine Kinder, zum Skelett abgemagert, mit aufgedunsenen Hungerbäuchen bettelten in der Umgebung des des Lagers um Brot.“ Die meisten Anwohner halfen mit Nahrung und Kleidung, so gut sie konnten, denn schließlich war es verboten, den Hungernden Brot zu geben.
Als Lagerführer W. sah, wie der Landwirt Schlüter in seinem Haus russischen Kindern Brot gab, drohte er mit einer Anzeige und die Einberufung zum Volkssturm. Etliche Anzeigen gegen Anwohner des Lagers, die Russen Brot oder Rüben gegeben hatten, gingen beim Ortsgruppenleiter Ernst Heine ein. „Der ließ solche Denunzianten-Briefe verschwinden“, meinte ein Betroffener.
Zu welch niederträchtiger Handlungsweise damals Menschen fähig waren, zeigt ein Vorfall, der sich im Spätsommer 1944 ereignete: Russische Männer sammelten Brombeeren, um sie in Dorsten gegen Brot einzutauschen. Auf dem Rückweg zum Lager wurden sie in der Nähe des Hofes Schlüter von Soldaten aufgehalten, die ihnen das Brot abnahmen. Schlüter wurde von den Soldaten mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen, das den Russen abgenommene Brot sofort an die Schweine zu verfüttern.
Todesursachen: Schädelbruch, Tuberkulose, Unterernährung
Im Januar 1945 verprügelte Unterlagerführer D. drei Russen brutal mit einem Knüppel, weil sie Kartoffelschalen gestohlen hatten, die als Viehfutter vorgesehen waren. Die in der Nähe des Lagers wohnende Familie Habsch stellte für russische Frauen Kartoffeln am Wegrand ab. Aus Furcht griff keine Hand danach. Erst als Habsch mit dem Aufseher der Frauen gesprochen hatte, holten sie die Kartoffeln mit einer Schubkarre ab. Habsch erinnert sich auch, dass sich zwei Kriegsgefangene von ihrem Lager entfernt hatten (später war die Bewachung nicht mehr so streng), um auf der Wiese bei Lordiek Löwenzahn zu sammeln. Beide wurden dabei erschossen. Landwirt Schlüter holte täglich Essenskübel von Maria Lindenhof für das Lager; 1944 hatte er zweimal eine besondere Fracht nach Maria Lindenhof dabei: einen toten Kriegsgefangenen für den dortigen Friedhof. Im gleichen Jahr wurden fünf Kriegsgefangene auf dem Kirchhellener Friedhof begraben. Die amtlichen Todesursachen: zweimal Schädelbruch, Freitod, Tuberkulose, Unterernährung. 1945 sind im Sterberegister vermerkt: eine 51-jährige Russin und ein zwei Monate alter Säugling. Als im März 1945 die Alliierten immer näher rückten, verließen die Lagerführer fluchtartig Tönsholt. In ihren Unterkünften fand man Säcke voller Kartoffeln und Zucker, Kübel voller Fett und ungerösteten Kaffee, Fässer voller Sauerkraut und Eimer mit Marmelade.