Von Maja Lendzian
»Konfessionelle Jugend, wollt Ihr Euch später einmal den Vorwurf gefallen lassen und selbst machen, in einer entscheidenden Zeit, in der es um alles ging, an dem großen Aufbauwerk unseres Führers nicht mitgeholfen zu haben?« Einer, auf den dieser Schlusssatz eines vielzeiligen Elaborates der Hitlerjugend, erschienen in der »Dorstener Volkszeitung« im Mai 1934, vor allem gemünzt war, lässt sich den Vorwurf heute gerne gefallen: Paul Fliege, Stadtarchivar im Ruhestand. Als Bezirksführer der Sturmschar des katholischen Jungmännervereins gehörte er zu den wenigen, die sich zu Beginn des »Tausendjährigen Reiches« mutig gegen den Nachwuchs der braunen Genossen zur Wehr setzten und trotz tückischer Attacken und Hetzkampagnen der Nazis den Idealen und der Lehre der katholischen Kirche treu blieben.
Das war damals in Dorsten – wie auch anderswo – ein schwieriges Unterfangen. Denn die Hitlerjugend ging auch hier nicht nur mit spitzer Feder zu Werke. Dass mit harten Bandagen für das »Deutschsein« und eine einheitlich marschierende parteigenössische Jugend gekämpft wurde, spürte der damals 17-jährige Paul Fiege bereits Ende Januar 1933, kurz nach der Machtübernahme Hitlers, schmerzhaft am eigenen Leibe.
Mit einem Schlagring blutig geschlagen
Nach einem Heimatabend der Dorstener Sturmschärler im früheren Rensingschen Haus an der Blinde Straße wartete auf den Führer der Dorstener Sturmschar und auf zwei seiner Schützlinge eine böse Überraschung: Dem Kampfgeschrei »Da sind sie ja, die „PXer“! Auf, gebt’s ihnen!« folgten Prügel, erinnert sich Paul Fiege. Unter den Augen grinsender SA-Männer schlugen Hitlerjungen Paul Fiege vor dem heutigen Heimatmuseum Nase und Lippen blutig. Mit einem blauen Auge kam der Sturmschärler noch einmal davon, denn, wie ein Arzt am nächsten Tag feststellte, rührten die Verletzungen nicht von »Kruppstahl gestählten Fäusten«, sondern von einem Schlagring her.
Zum Ziel sind sie aber nicht gekommen«, erklärt der Ex-Archivar, »denn durch die gemeine Prügelei hatten sie meinen Trotz erst richtig wachgerufen«. Von diesem Trotzkopf sollte ein Jahr später nicht nur die Dorstener sondern auch die Oberhausener Sturmschar profitieren. Inzwischen begannen die Nazis nämlich mit List und Tücke mehr oder weniger erfolgreich das liberale Reichskonkordat mit der römischen Kirche am 18. September 1933 auszuhöhlen. Den katholischen Jugendverbänden war das geschlossene Marschieren, Singen und Musizieren auf öffentlichen Straßen und Plätzen untersagt. Ihrer Kluft, silbergraue Hemden mit schwarzen Knöpfen, wurde Arrest im Kleiderschrank erteilt. St. Agatha-Pfarrer Ludwig Heming schreibt in seiner Chronik unter dem 11. März 1934:
»Heute Abend war ich im Jugendheim. 16 Sturmschärler hatten zum letzten Mal die Sturmschärlerkluft angelegt. Wir haben uns zusammen fotografieren lassen, und ich habe eine kleine Ansprache an die Jungens gehalten.«
Letztes Treffen mit 300 Sturmschärlern
Kurz vor Ostern 1934 hatte das Versammlungsverbot für die katholische Jugend bereits den Regierungsbezirk Düsseldorf erreicht. »Das gleiche Verbot erfolgte im Regierungsbezirk Münster erst Monate später«, erinnert sich Paul Fiege. So organisierte er auf Wunsch des Oberhausener Bezirksführers am 21./22. April 1934 unter tatkräftiger Unterstützung der Barmherzigen Brüder von Montabaur auf Maria Lindenhof, der Ursulinenschwestern, des Gesellenvereins und einiger Feldmarker Bauern (Fiege: »Die damalige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung war riesengroß!«) ein Treffen mit rund 300 Teilnehmern. Ihren Unmut über diese Zusammenkunft machten die Hitlerjungen mit Steinwürfen, Rempeleien und Schlägen Luft. Paul Fiege:
»Die Polizei griff wohl in das Geschehen ein – wenn ich mich recht erinnere, auf Verlangen der Hitlerjugend –, aber nicht zugunsten der Geschlagenen, sondern zugunsten der Schläger. Etlichen Sturmschärlern wurden auf dem Gang von der Agathakirche zum Kolpinghaus durch die Polizei und Hitlerjugend Wanderkittel und Hemden, die zufällig gleiche Farbe oder gleiches Aussehen hatten, als angebliche Uniformstücke vom Leibe gerissen.«
Anzeigen bei der Polizei und Unterredung bei der NSDAP
Die Zwischenfälle hatten nur für die Sturmschärler ein Nachspiel: Anzeigen und Festnahmen. Nach flüchtiger Feststellung der Personalien wurden sie jedoch wieder freigelassen. Paul Fiege: »Man hatte das Gefühl, dass der Polizei das ganze Spiel selbst zuwider war.«
Die Bevölkerung war erbost über den Stil der jungen NS-Volksgenossen. Die Hitlerjugend ließ sich durch die Bürgermeinung jedoch nicht ins Bockshorn jagen und bediente sich der Dorstener Volkszeitung, um die Ereignisse in »ihr Licht« zu setzen. Paul Fiege konterte ebenfalls mit einem Artikel, der jedoch mit seiner Zustimmung aus Sicherheitsgründen von dem damaligen Verleger Josef Weber entschärft wurde. Das Original gelangte auf ungeklärte Weise zu den Nationalsozialisten, und Paul Fiege hatte am gleichen Tag eine Unterredung bei dem NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Heine und dem Beigeordneten bei der Stadtverwaltung, Fritz Köster, dem örtlichen Propagandaleiter sowie dem Organisationsleiter der NSDAP, Pfannkuch, im Hotel Altenburg.
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Polizeiverordnung vom 23. Juli 1935: »Es wird den katholischen Jugendverbänden im gesamten Reichsgebiet jede Betätigung, die nicht rein kirchlich religiöser Art ist, untersagt.«