Von Wolf Stegemann
Wenngleich die Kultur im Leben der Menschen des Dritten Reiches ein Bereich war, den das Regime trotz Scheiterhaufen und Verdikten nie ganz hatte gleichschalten können, verboten 1945 die Alliierten den Deutschen dennoch jegliche Art von freier kultureller Meinungsäußerung. Drei Tage nach der Kapitulation erging die »Informationskontrollvorschrift Nr. 1«. Presseveröffentlichungen, Film, Theater, Musik- und Unterhaltungsveranstaltungen waren von einer Lizenz, einer besonderen Genehmigung der alliierten Besatzungsbehörden abhängig. Dies blieb in den westlichen Besatzungszonen bis 1949 so, obgleich schon bald deutsche Stellen an den Verfahren teilnehmen durften. Nichts schien die Deutschen nach der Stunde Null mehr zu faszinieren als Theater und Musik. Das mag auch daran gelegen haben, dass der Geist, im Gegensatz zum Schinken, ohne Marken erhältlich war.
Schon das Jahr 1945 brachte trotz der Einschränkungen eine Blüte des Kulturlebens. Von den geistigen Knebeln der vergangenen Jahre befreit, holte man die bei der Bücherverbrennung versteckten Exemplare hervor. Literaten, die zwölf Jahre lang verbotenerweise für die Schublade geschrieben hatten, veröffentlichten ihre Texte. Schauspieler mit Auftrittsverbot standen wieder auf provisorischen Bühnen, tingelten durch die Provinz und wurden gefeiert. Zuschauer mussten warme Decken und Briketts mitbringen. Inge Meysel, Helmut Käutner, Rita Streich, Erna Sack, Walter Gieseking sind Namen der ersten Stunde nach Null.
Jetzt durften die anderen Künstler nicht mehr auftreten
Nun erhielten andere Künstler Auftrittsverbot; manche zogen es vor, erst einmal unterzutauchen, weil sie sich dazu hergegeben hatten, den Nationalsozialismus kulturell zu zieren. Ihre Namen sind nicht weniger bekannt: Gustaf Gründgens, Werner Krauß, Grethe Weiser, Wilhelm Furtwängler, Heinz Rühmann, Hans Moser und viele andere. Während in der Sowjetzone die geistige Freiheit nicht lange anhielt, förderten in den Westzonen alliierte »Kulturoffiziere« – nicht selten deutsche Emigranten – die Entfaltung geistiger Freiheit. Neben der Demokratie wurde auch diese von den Besatzungsmächten verordnet. Die erste Düsseldorfer Ausstellung mit Werken von Otto Pankok (Haus Esselt bei Schermbeck) zählte 2.600 Besucher, die 1947 eröffnete Ausstellung »Künstlerbekenntnisse unserer Zeit« bereits 7.300. Die ersten Kultur-Veranstaltungen in Dorsten fanden im Hedoli-Filmpalast in Hervest statt. Schon 1945 wurden erste Stimmen bei der Dorstener Verwaltung und später im Verwaltungsbeirat laut, eine »Kulturhalle« zu bauen. Die Firma Stewing bot sich hier an, und es entstand in der Lippestraße die so genannte Kulturhalle, hinter deren bedeutungsvollem Namen sich ein schlichtes Kino verbarg.
In einem Kommentar der »Westfälischen Nachrichten« vom 29. Oktober 1947 wird beklagt, dass es trotz mehrerer gut gelungener Veranstaltungen der Dorstener Kultur (Pfarrgemeinden boten schon früh vielfältige Programme an) an einem straffen Aufbau fehle. Ohne den – wenigstens vorläufig – kein richtiger Wiederaufbau des hiesigen Kulturlebens stattfinden könne.»Es war schon im vorigen Winter so, dass neben wertvollen Veranstaltungen die billigste Unterhaltungskunst sich breit machte und das wieder niederriss, was eben mühsam aufgebaut worden war.« Ein Jahr später übernahm das Volksbildungswerk die »kulturelle Führung«.
Dorstener Volksbildungswerk 1948 eröffnet
»Wissen und Wissenschaft sind nicht beschlagnahmt und nicht bewirtschaftet. Jedem sollen sie zugänglich sein!« Mit diesen Worten eröffnete am 4. November 1948 Amtsdirektor Dr. Banke feierlich das »Dorstener Volksbildungswerk« (Vorläufer der Volkshochschule), das »einen Beitrag zum geistigen Wiederaufbau und zum Ausgleich der sozialen Spannungen«, so Banke, leisten sollte. Bürgermeister Paul Schürholz betonte, dass es wesentlich darauf ankomme, auch die geistigen Aufbausteine in dieser Stadt zusammenzutragen und aufzuschichten, wenn die Zukunft wirklich tragend und glücklich sein solle. Im Mittelpunkt der Eröffnungsfeier in der Aula des Gymnasium Petrinum stand der Vortrag von Prof. Dr. Günther Küchenhoff über die »menschliche Existenz in Philosophie und Naturrecht«. Die musikalische Umrahmung besorgte das »Collegium musicum« mit Werken von Fux und Gluck unter der Klavierführung von Hans Könkes. Der Sängerbund Dorsten unter der Leitung von Heinrich Krauel brachte Chorstücke von Beethoven und Mozart »in sorgsamer, wohltemperierter Formung« dar. Heinrich Krauel war stellvertretender Berufsschuldirektor. Das Volksbildungswerk leitete er nebenamtlich. Paul Fiege gehörte zu seinen amtlichen Mitarbeitern, der neben anderen Aufgaben in der Verwaltung auch den kulturellen Sektor mitbetreute. Krauel leitete auch den Kirchenchor St. Agatha.
In neun Arbeitsgemeinschaften und Vorlesungsreihen wurden anfangs die Themen behandelt: griechische Literatur, Aufbau der Erdkruste (für junge Bergleute), Shakespeares Tragödien, Wetterkunde, Handels-, Gesellschafts- und Wechselrecht, das Recht des Bergmanns, Einführung in grafische Techniken, praktischer Lautenspiel-Lehrgang und musikalisches Laienbrevier. In 19 Kursen für Leben und Beruf waren sieben sprachliche Kurse enthalten, darunter Englisch, Französisch und Russisch. Im ersten Programmheft des Volksbildungswerks für das Winterhalbjahr 1948/49 appellierte Krauel an die Dorstener Jugend, beim geistigen Aufbau nicht abseits zu stehen:
»Der Sinn für das Wahre, Schöne und Gute war uns Deutschen stets eigen und soll in dieser Notzeit erst recht gepflegt werden. Trümmer genug erinnern auch in der verwüsteten Stadt Dorsten an unser grausiges Schicksal. Und neues Leben blüht aus den Ruinen – sorgen wir dafür, dass dem äußeren Aufbau in Dorsten auch der innere zur Seite stehe! Vor allem euch, ihr jungen Menschen, bitten wir besonders, beim geistigen Aufbau nicht unentschlossen zu verharren, sondern beherzt zuzugreifen. Nehmt ihr in Anspruch, was wir euch bringen, dann sorgt ihr in eurem Beruf und in eurem geistigen Leben für eine Aussaat, die künftig reiche Früchte zeitigen wird. Alles ist Saat und alles ist Ernte, denn was der Mensch säet, das wird er ernten; die Jugend aber ist die Zeit der Saat.«
250 Hörer beim Vortrag über Rainer Maria Rilke
Der Leiter der Volkshochschule heute könnte blass werden vor Neid, wenn man die Hörerzahlen damaliger Kultur-Veranstaltungen mit denen von heute vergleicht. Beispielsweise besuchten im ersten Trimester des Jahres 1950 über 700 Dorstener drei Einzelveranstaltungen: Prof. von Weizsäcker (Göttingen) sprach über »Das Weltbild der heutigen Physik« (350 Hörer), der Dorstener Oberstudiendirektor Gerckens über »Rainer Maria Rilke« (250 Hörer) und der Gewerkschafter Dr. Fischer über »Stand und Entwicklung des Mitbestimmungsrechtes« (100 Hörer). In den Arbeitskreisen wurden Werke von ausländischen Dramatikern (Wilder, Williams, Eliot u. a.) behandelt. Große Resonanz fanden auch die Konzerte der Bochumer Sinfoniker (600 Besucher) und des Collegium musicum (500 Besucher). Heimatkundliche Vorträge allerdings fanden mit 22 Hörern nur wenig Anklang. Offensichtlich steckte den Dorstenern das von den Nazis propagierte Heimatgetümmel noch arg in den Knochen.