Von Elisabeth N. – nacherzählt von Wolf Stegemann
In Westfalen gab es keine Liquidations-Anstalten. Kranke, die in westfälischen Landeskrankenhäusern untergebracht und von den „T 4-Kommissionen“ zur „Verlegung“ ausgesucht worden waren, kamen „auf Transport“ in eine der fünf Todesanstalten. In Dorsten sind 17 Todesfälle bekannt geworden, die nach dem Kriege in den Akten der Entnazifizierungskommissionen auftauchten. Nicht mit eingerechnet sind die zahlreichen Zwangssterilisierungen, die in Bottrop vorgenommen wurden. Für die Zehntausende von Kranken und Unschuldigen, die dem Wahnsinn der „Euthanasie“ nationalsozialistischer Erfindung zum Opfer gefallen sind, mag ein erschütterndes Dorstener Schicksal sprechen (Interview geführt 1983):
Dumme Bemerkungen der anderen Kinder, aber niemand tat ihr etwas an
Mein Name ist Elisabeth N. und ich wohne in Dorsten. Ich bin jetzt fast 60 Jahre alt und hatte eine Schwester, die im Jahre 1941 vergast wurde, weil sie mongoloid war. Mein Vater stammte von einem Bauernhof ab. Sein ältester Bruder übernahm den Hof, und mein Vater ging zur Zeche. Meine Eltern wohnten in der X-Straße; meine Mutter betrieb dort eine Flaschenbierhandlung mit Verkauf „über die Straße“.
Ich wurde 1927 geboren, meine unglückliche Schwester Mathilde ein Jahr später. Doch unglücklich fühlten weder wir uns noch sie sich. Als Kind merkte ich es nicht so schnell, dass meine Schwester anders war als ich. Das kam vielleicht auch daher, dass meine Schwester fast normal auf alles reagierte, sie hatte nur einen zu runden Kopf, wurde später immer dicker und konnte schlecht sprechen. Aber sie hatte ein sonniges Gemüt. Sie verzog ihr Gesicht immer zum Grinsen, was eigentümlich aussah. Unsere Nachbarskinder hatten sich an sie gewöhnt und wir uns an die Blicke und dummen Bemerkungen von fremden Kindern, die oft in die Siedlung zum Spielen kamen. Niemand tat meiner Schwester etwas an. Als ich zehn Jahre alt war, zog in die andere Hälfte des Hauses ein Kumpel ein, der einen Posten in der Partei hatte oder im Betrieb. Ich sah ihn immer nur in SA-Uniform herumlaufen. Den großen Garten mussten wir fortan mit ihm teilen.
Nach dem Gartenfest: „Jetzt kommt das Kind weg!“
Unser Nachbar saß oft im Garten, und es kamen viele seiner ebenfalls uniformierten SA-Kameraden. Dann ging es hoch her. Meiner Schwester, die sonst immer im Garten und in den Nachbargärten spielen durfte, wurde fortan der Zugang zum Garten verboten. „Ich will die Bekloppte nicht sehen!“, schrie der Nachbar meinen Vater an. Im Sommer 1940 hatten wir ein Gartenfest. Bunte Lampions und Girlanden, Hakenkreuzfähnchen und andere Wimpel schmückten den Garten. Abends kam die Nachbarschaft, und es wurde viel getanzt und gelacht. Meine Mutter blieb im Haus bei Mathilde, die nicht hinaus durfte. Doch schauten Mutter und Mathilde durch das Fenster in den Garten, und die Nachbarn sahen, wie sich Mathilde freute. Plötzlich schrie unser Nachbar wütend:
„Jetzt reicht es mir aber mit dem blöden Balg, ich kann die Fresse nicht mehr seh’n!“ Ich werde diese Worte nie vergessen. Daraufhin ging mein Vater, der inzwischen in die SA eingetreten war, ins Haus und sagte zu meiner Mutter: „Jetzt kommt das Kind weg!“
Mein Vater konnte seine bedrohliche Aussage nicht mehr wahr machen. Er wurde Soldat und fiel wenige Monate später im Westen. Meine Mutter hoffte schon, dass sich der Nachbar beruhigt hätte. Doch da irrte sie sich. Von der Zeche bekam sie einen Brief, in dem stand, dass sich die Nachbarschaft beschwert habe über das „schwachsinnige“ Kind, das immer nur schreien und auf der Straße die Passanten anfassen würde. Nichts von dem war wahr. Dennoch drohte die Zechengesellschaft mit der Kündigung, falls das Kind nicht in ein Heim käme. Nur der „Heldentod“ meines Vaters, so schrieb die Wohnungsverwaltung der Zeche, hätte sie bewogen, keine fristlose Kündigung auszusprechen.
Die mongoloide Schwester wurde abgeholt
Vier Tage vor Weihnachten wurde meine Mutter krank. Sie musste dringend ins Krankenhaus, weil sie eine starke Lungenentzündung hatte. Die braune Schwester sorgte schon etliche Tage für den Haushalt und für uns Kinder. Sie war immer nett und freundlich. Auch zu meiner Schwester. Doch eines Tages kam sie nicht mehr. Stattdessen kam der Amtsarzt mit einem Formular. Meine Mutter wurde ins Krankenhaus eingewiesen. Sie musste aber vorher unterschreiben, sie sei einverstanden, dass ich solange in eine andere Familie käme und meine Schwester ins Krankenhaus nach Recklinghausen. Der Amtsarzt versicherte, dass der Aufenthalt nur solange andauere, wie meine Mutter im Krankenhaus bleiben müsse. Meine Mutter zögerte, hatte sie sich doch bisher niemals von ihrem Kind trennen lassen. Jetzt willigte sie ein; es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Von Euthanasie hatte meine Mutter bis dahin noch nichts gehört. So war sie auch nicht misstrauisch. Noch während der Amtsarzt die soeben unterzeichneten Formulare ordnete, fuhr ein Krankenwagen vor. Meine Mutter sagte, dass sie ihre Sachen noch gar nicht gepackt hätte. Doch der Arzt beruhigte sie. Der Wagen käme, um das Kind abzuholen. Im Krankenhaus hätte sie gute Pflege und man könne sie jeden Tag besuchen.
Als meine Schwester von den Pflegern und einer Krankenschwester weggeführt wurde, weinten wir alle. Wir trösteten uns damit, dass die Trennung nur vorübergehend war. Doch wir sollten Mathilde nie wiedersehen. Vier Wochen lag meine Mutter im Krankenhaus. Danach fuhren wir beide nach Recklinghausen, um Mathilde abzuholen. Süßigkeiten, damals eine Kostbarkeit, nahmen wir mit. Dort erfuhr meine Mutter, dass meine Schwester in die Landespflegeanstalt Lengerich überwiesen worden sei. Von Lengerich aus verlor sich die Spur. Wenige Tage später, meine Mutter war schon sehr verzweifelt, lag im Briefkasten ein Abholschein der Post.
In Hadamar vergast
Als meine Mutter das mit braunem Papier umwickelte Paket aufgeschnürt hatte, kam eine graue Blechdose zum Vorschein, die zugeschweißt war. Mit weißer Farbe stand eine Nummer darauf. Ein Brief lag dabei:
„Es tut uns aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tochter Mathilde Sch., die am 16. Februar 1941 im Rahmen von Maßnahmen des Reichsverteidigungskommissars in die hiesige Anstalt verlegt werden musste, hier am 18. Februar plötzlich und unerwartet an einer Hirnschwellung verstorben ist. Bei der schweren geistigen Erkrankung bedeutete für die Verstorbene das Leben eine Qual. So müssen Sie ihren Tod als Erlösung auffassen. Da in der hiesigen Anstalt z. Z. Seuchengefahr herrscht, ordnete die Polizeibehörde sofortige Einäscherung des Leichnams an. . . gez. Dr. Koller.“
Soweit die Nacherzählung. Der Brief von Dr. Koller kam aus der Heilanstalt Hadamar. Name des Arztes, Todesursache und Todesdatum waren fingiert. Mathilde Sch., ein lustiges, fröhliches, körperlich kräftiges Kind, aufgewachsen in Hervest-Dorsten, wurde im Alter von 12 Jahren in Hadamar als „nutzloser Esser“ vergast.