Erich Jacobs konnte 1941 mit seiner Familie gerade noch rechtzeitig Deutschland verlassen und in Kuba bzw. den USA eine neue Heimat finden. Dort schrieb er seine Erlebnisse auf mit dem Hinweis an seine Familie, diese erst nach seinem Tod zu lesen. Er starb 1973. Die Tochter Fredel, in den USA geboren, stellte freundlicherweise das Manuskript zur Verfügung, aus dem seine Erinnerungen an Recklinghausen in der Zeit von 1937 bis 1941 in mehreren Artikeln veröffentlicht sind. Es sind erschreckende Erinnerungen.
Nach der Zerstörung unserer Wohnung im Schulhaus nach der Pogromnacht im November 1938 stellte sich die Frage: Wo sollen wir wohnen? Die Nazis ließen uns dort nicht mehr leben, denn sie wollten das Gebäude für ihre eigenen Zwecke. Unsere Sachen wurden ausgelagert. Jetzt haben wir gesehen, was wahre Freundschaft bedeutet! Während der „Crystal-Night“ hatte die Familie Aron meine liebe Frau Hetti in ihr Haus aufgenommen. Als ich aus dem Gefängnis kam, gaben uns Arons ihr Kinderzimmer als Schlafzimmer. Die Arons waren reiche Leute. Da sie nicht orthodox waren, konnten wir nicht mit ihnen essen. Wir aßen – wenn ich mich nicht irre – mit der Familie Katz. Die Arons müssten auf Anordnung der Behörden immer mehr jüdische Familien in ihr Haus aufnehmen [so genannte Judenhäuser]. Schließlich mussten wir mit drei Familien das Zimmer teilen. Dazu muss ich sagen: Die jüdischen Familien verwalteten all dies wunderbar. Von dem Moment an, als die Tzores [jidd. Problem, Ärger] über die Juden kamen, standen die Juden zusammen. Es gab keine Feindschaft mehr unter ihnen. Juden, die außerhalb des religiösen Judentums lebten, fanden ihren Weg zurück zur Religion. Reiche Juden, die früher ihre Hände geschlossen hielten, halfen jetzt den armen Juden.
In der Verfolgungszeit rückten die Juden enger zusammen und halfen einander
Da der Rabbi Dr. Selig Auerbach Deutschland nach der „Crystal-Night“ sofort verlassen hatte, wurde ich von der Gemeinde aufgefordert, alle seine Aufgaben zu übernehmen. So wurde ich Rabbiner der Gemeinde Recklinghausen. Wenn zwei oder mehr Familien in einem Zimmer leben mussten, teilten sie das Zimmer durch das Aufstellen von Möbeln durch den Raum. In einer Rede vor der Gemeinde sagte ich: „Wir haben jetzt zusammen zu leben, und ich sehe und höre, dass jeder am Wohlergehen der anderen Personen Interesse hat. Dies ist sicherlich gut und hat so zu sein. Aber dieses Interesse hat seine Grenzen. Es muss nicht so weit gehen, dass jeder alles über alle wissen will. […] Nein, meine Lieben! Auf diese Weise ist das Zusammenleben unmöglich! Jeder muss seinen gesunden Menschenverstand benutzen, jeder will sein Privatleben, diese kleine Privatsphäre, die noch für ihn übrig ist.“
Einer aus der Gemeinde, Herr Hirschberg, stellte in Absprache mit der Gestapo das größte Zimmer in seinem Haus als Büro-Ersatz für die Gemeinde zur Verfügung. Dort durften wir zusammenkommen. Ich musste sehr vorsichtig sein, wenn ich redete. Über Politik oder unsere Situation zu reden, durfte ich nicht wagen, denn Spitzel standen oft vor der Tür oder den Fenstern und hörten zu. Alle jüdischen Männer mussten in bestimmten Abständen an die Gestapo berichten.
Nach der Kristallnacht gab es keine jüdischen Geschäfte mehr. Es war ihnen auch nicht erlaubt, Geschäfte zu machen. Und wie sollten oder konnten wir leben? Die Nazis waren mir egal! Die Juden selbst mussten sich um die Juden kümmern, die wirklich nicht über die Mittel verfügten, um sich selbst zu versorgen. Und die Juden taten es!
Und warum haben sie das getan? Reiche Juden durften von ihren Bank-Konten monatlich nur bestimmte kleine Beträge abheben. Viele der reichen Juden glaubten: Kochi ve’otzem yodi asu li es hachayil Hazeh („Meine Stärke und die Fähigkeit meiner Hände brachte mir all dieses Glück“). Sie mussten jetzt erfahren, dass sie nicht die wirklichen Eigentümer dieses Vermögens waren. Jetzt halfen sie ihren armen Brüdern. Der reiche Jude wusste genau, dass sein Geld ihm keine Sicherheit mehr verschaffte. Denn er konnte jederzeit verhaftet werden und keinen Cent von seinem Geld mitnehmen. Deshalb war es besser, den jüdischen Armen zu helfen!
Die reichen und liberalen Juden hatten jetzt Zeit. Sie hatten nichts mehr zu tun. Einer dieser Juden war Herr Isacson. Ich hatte ihn nie in der Synagoge gesehen. Jetzt kam er und zeigte Interesse an jüdischen Angelegenheiten. Jeder war glücklich, die Gelegenheit wahrzunehmen, die anderen Juden der Gemeinde zu sehen. Ich glaube, dass die Gebete mit „Kavonoh“ gesagt wurden, weil jeder G-ttes Schutz benötigte. Da ich wusste, dass viele der Gläubigen kein Hebräisch kannten, sagte ich einige Gebete in der deutschen Sprache.
Juden durften nur in bestimmten Geschäften und an vorgeschriebenen Stunden am Nachmittag Lebensmittel kaufen. Lebensmittel waren allgemein knapp. Daher blieb für jüdische Frauen kaum noch was übrig. Da meine geliebte Frau Hetti nicht jüdisch aussah, wagte sie es, auch morgens einzukaufen. Wir waren immer froh, wenn sie wieder sicher zu Hause war. Aber was will man tun?
Immer mehr Urnen mit Asche kamen aus den Konzentrationslagern
Polen hatten ein neues Gesetz erlassen, demnach alle Polen, die an einem bestimmten Tag nicht in Polen waren, ihre polnische Staatsbürgerschaft verloren haben. Daher schafften die Nazis die hier lebenden polnischen Juden nach Polen. Dort wurden sie nicht über die Grenze gelassen [Polen-Aktion]. Viele der polnischen Juden wurden daraufhin wieder zurückgebracht und in Konzentrationslager gesperrt. Nicht viele von ihnen kamen lebend heraus. Den Angehörigen wurde die Asche ihrer im KZ gestorbenen Männer zugeschickt. Als die erste derartige Urne [in Recklinghausen] angekommen war, fragte ich mich, was ich zu tun hatte, denn ich wusste, dass wir nach unseren religiösen Riten niemanden verbrennen [einäschern], sondern begraben. Mir wurde gesagt, dass die Leiche des Mannes gegen seinen Willen eingeäschert wurde. Daher konnten wir die Urne in ein reguläres Sarg setzen, uns die „Tachrichim“ [hebr. weiße Gewänder bei Beerdigungen] anlegen und den Mann begraben. Kurz bevor wir uns alle am Friedhof trafen, wir durften nicht zusammen dorthin gehen, legte ich dort Talar und Ornat an. Ich musste beim Aufsagen der „Hesped“ [hebr. Laudatio] sehr vorsichtig sein und nicht erwähnen, wie und wo die Person gestorben war. Viele, viele Urnen kamen nach Recklinghausen, bis dies gestoppt wurde.
Unserem Kind Jethro fehlte nach der Geburt die Muttermilch
In den ersten Monaten nach der Kristall-Nacht wohnten wir bei der Familie Aron. Im Februar bemerkt meine liebe Frau Hetti, dass der „Klapperstorch“ dabei war, sie zu beißen. Aber wo sollte oder könnte sie unser Kind gebären? Das Krankenhaus war nicht bereit, einen Juden aufzunehmen, das Personal des Krankenhauses hatte Angst, die Nazis würden Schwierigkeiten machen, wenn sie dies hörten. Schließlich nahmen sie Hetti unter der Bedingung auf, dass sie in einem Zimmer untergebracht würde, das von den anderen Krankenzimmern entfernt war. Und dann, am Freitagabend, den 10. Februar 1939, wurde unser Baby geboren! Ich weiß nicht, für wie viele Tage die neue Mutter im Krankenhaus blieb. Sie kam dann zu den Arons zurück, wo die Bis [Beschneidung] am 8. Tag durch Herrn Katz stattfand. Unser Kind Jethro war sehr schwach. Später haben wir zwei Wohnräume im Haus von Frau Eichenwald bekommen, deren Ehemann bereits in Holland in Sicherheit war.
[…] Unser Baby wurde krank. Meine Frau hatte nicht genügend Muttermilch. […] Ich erinnere mich nicht, wer unser Arzt war. Er kam, sah Jethro – wie schwach er war –, ordnete seine Überweisung in das Kinder-Krankenhaus an und meine Frau musste auch ins Krankenhaus. Das Kinder-Krankenhaus ließ uns wissen, dass unser Baby Muttermilch braucht! Woher sollten wir Muttermilch nehmen? Es gab keine jüdische Pflege-Mutter mehr in Recklinghausen oder in der näheren Umgebung. Nichtjüdische Frauen würden es nicht wagen, ihre Milch für ein jüdisches Kind zu geben. Doch G-tt hat uns nie verlassen. Er half uns auch in dieser Situation! Es lebte im gleichen Haus eine jüdische Frau, verheiratet mit einem Goj [Nichtjuden], eine Frau Speck (ein sehr passender Name für „Speck“ = Deutsch: „Bacon“). Obwohl sie einen Goj geheiratet hatte, fühlte sie sich immer noch „jüdisch“. Sie selbst hatte keine Kinder, aber sie liebte Kinder. Als sie hörte, dass wir Muttermilch für unser Baby brauchten, war sie bereit, eine „Gojish“ nach Muttermilch zu fragen. So bekam das Kinder-Krankenhaus Muttermilch für unseren Jethro. In diesem Krankenhaus gab es viele Kinder, die Muttermilch benötigten. Wir hörten, dass es eine Krankenschwester gab, die eine Nazi-Enthusiastin war. Anstatt die für unser Kind abgegebene Milch dem jüdischen Baby zu geben, gab sie es „deutschen“ Kindern. Und sie wäre froh gewesen, wenn das jüdische Kind gestorben wäre. Schon bald bekam ich den Hinweis, unser Kind doch nach Hause zu holen, denn im Krankenhaus würde es sicherlich bald sterben. Und wir nahmen Jethro mit nach Hause! Und das war das Beste: Jethro bekam jetzt zu Hause seine Muttermilch und nahm an Gewicht zu. Mama, die inzwischen aus dem Krankenhaus gekommen war, sorgte gut für unser fast verlorenes Kind….
Nachbarn warfen eine Tüte Obst durchs Fenster in die Küche
Im nächsten Haus, gegenüber unserer Küche, aber eine Etage höher, wohnte noch eine Gojish Familie. Sie sahen unser Baby und wussten, dass wir kein Obst kaufen durften. Wir kannten diese Familie persönlich nicht und hatten noch nie mit einen von ihnen gesprochen. Sie waren sicherlich keine Nazis. Eines Tages sagten sie mir: „Öffnen Sie Ihre Fenster!“ Wir taten dies – und eine Tasche gefüllt mit Obst flog in unserer Küche! […] Die Situation der Juden verschlimmerte sich. Die Nazis kamen und durchsuchten die Wohnungen der Juden. Lebensmittel durften wir nur so viel haben, um von der Hand in den Mund essen zu können. Alles andere wurde als „horten“ bezeichnet und war strafbar. Die Juden lebten in Angst, so dass sie nicht zu schlafen wagten. Und wenn es am Abend an der Tür klingelte, war der erste Gedanke: Jetzt holen sie uns ab!
Ich erinnere mich an Pessach 1939 oder 1940. Ein Herr Katz in Recklinghausen, auch ein Shochet, hatte heimlich ein paar sehr junge Hühner bekommen, die jeweils ein halbes Pfund schwer waren. Was für ein „Yom Tov“ [Glück] wir hatten! Meine liebe Hetti machte viele Mahlzeiten aus ihnen. Jeder einzelne Knochen wurde verwendet und aus der Leber hatten wir eine ganze Mahlzeit! Wie köstlich schmeckte alles! Die Suppe hatte den Geschmack von Huhn – wie wunderbar! Menschen von heute können sich nicht vorstellen, wie glücklich wir mit diesen „Pitzeles“ von Fleisch waren! Auch heute noch. Sie sagt: „Ich esse so viel Fleisch, wie ich kann, denn ich hab es so viele Jahre vermissen müssen!“ Isaac schickte uns öfters Pakete mit Fleisch per Eilpost. Manchmal mussten wir wochenlang warten, bis ein Paket ankam. Besonders im Sommer kam das Fleisch nicht immer frisch an. Wir warfen es aber nicht weg! Es wurde solange unter kaltem Wasser gewaschen, bis wir den schlechten Geruch nicht mehr gerochen haben. Wir aßen immer nur kleine Stück, um es möglichst lange genießen zu können.
Staatlicher Gehaltsscheck mit Kindergeld für einen Juden
Nach dem Gesetz hatte ich die Geburt von Jethro beim Regierungspräsidenten zu melden. Wir waren dann sehr erstaunt, als der nächste Gehaltsscheck höher ausfiel. Die Regierung bezahlte die Mitarbeiter für jedes Kind. Daher bekam auch ich ein höheres Gehalt. Sicherlich waren die Nazis nicht an einem Juden mit Kindern interessiert. Aber ein deutscher Beamter geht immer nach den Regeln vor. Nach diesen Gesetzen muss er was tun – und er tut es. Er muss Juden im KZ töten, wenn es ihm befohlen wurde – und der tut es. Später würde niemand glauben, dass ich noch in dieser schrecklichen Zeit als Jude ein hohes Gehalt vom Nazi-Staat bekam, aber es ist die Wahrheit!
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Weitere thematische Auszüge aus den Memoiren …
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Ankunft in der jüdischen Gemeinde
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: November-Pogrom 1938 – Aus dem Bett geholt und blutend ins Gefängnis gebracht
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Nach dem Pogrom – jüdische Schule, Jethros Geburt, Judenhäuser – das Leben geht weiter
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Der Tod der Mutter und der Transport des Sarges nach Recklinghausen
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Letztmögliche Emigration über Spanien und Kuba in die USA. „Wir alle könnten ein ברכה sagen, dass wir frei waren!“
…und sein Leben:
Erich Jacobs – ein jüdischer Lehrer in Recklinghausen konnte mit seiner Familie noch 1941 nach Kuba emigrieren. „Das war ein Wunder“ sagte er