Von Wolf Stegemann
Im August 1945 strömten schätzungsweise täglich 30.000 Heimatvertriebene vom Osten in das amputierte Rest-Deutschland. Insgesamt waren es zwölf Millionen Deutsche, die vor den Russen flüchteten oder vertrieben wurden. Eine endlose Prozession abgehärmter Menschen zog durch die Städte und Dörfer. Viele waren barfuß. Nach Hunderten von Kilometern war vom Schuhwerk nichts mehr übrig. Viele hatten sich vor ihre primitiven Karren gespannt oder schoben die Kinderwagen mit den zwei oder drei Bündeln voll letzter Habseligkeiten vor sich her. Kinder, Greise und Greisinnen bewegten sich mühsam in diesen Zügen des Elends, die meist in Auffanglagern endeten, bevor diese Entwurzelten nach einem Zahlensystem auf die Städte und Dörfer der westlichen Zonen verteilt wurden. Hinter jeder dieser Zahlen steckte ein Schicksal, eine Tragödie, ein Mensch. Jeder von ihnen verkörperte den Zusammenbruch, die Auflösung, das Ende. Dennoch musste ein neuer Anfang in einer neuen Umgebung unter unsagbar großen Entbehrungen gefunden werden.
Jeder sechste Deutsche war 1945 ein Flüchtling. »Sie sind doch auch nicht von hier?« lautete die damals oft gestellte Frage. Und wenn dann zwei entdeckten, dass sie aus benachbarten Dörfern der alten Heimat stammten, lag das Gefühl nahe, einen Freund gefunden zu haben.
Großer Anteil der Flüchtlinge am Wiederaufbau des zerstörten Landes
Am Wiederaufbau des zerstörten Landes hatten die Flüchtlinge ihren guten Anteil. Sie gliederten sich trotz der Trauer über die verlorene Heimat und die zurückgelassenen Angehörigen, Freunde und Nachbarn schnell in die Gegebenheiten ihrer neuen Heimat im Westen ein, wenn auch mit der Hoffnung, die Heimat hinter der Oder und Neiße nicht endgültig verloren zu haben. Bei ihrer Eingliederung halfen die Gemeinden, Kreise und Länder großzügig: Soforthilfe, Mietzuschüsse, Lastenausgleich. Die Eingliederung von zwölf Millionen Flüchtlingen und der finanzielle Ausgleich für erlittene Schäden innerhalb weniger Jahre, das ist eine Leistung der jungen Bundesrepublik gewesen, die niemand so recht würdigte. Vielleicht deshalb nicht, weil alles so reibungslos lief. Über 2.500 Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten fanden in Dorsten eine neue Heimat. 25.000 waren es im Landkreis Recklinghausen. Bereits 1950 gab es in Dorsten 40 Betriebe, die von Ostvertriebenen aufgebaut wurden. Das Land förderte die Existenzgründungen so genannter Flüchtlingsbetriebe. Im Landkreis Recklinghausen wurden dafür nach der Währungsreform insgesamt 613.810 Mark zur Verfügung gestellt. 216 Vertriebene kamen bis 1950 auf der Zeche Fürst Leopold unter, 35,8 Prozent der Flüchtlinge in der Industrie, 14,7 Prozent im Handwerk, 14 Prozent im öffentlichen Dienst und 15 Prozent in Haushaltsberufen. 40 Prozent der Vertriebenen kamen aus Schlesien, 21 Prozent aus Ostpreußen, 19 Prozent aus Westpreußen, der Rest aus dem Sudetenland, dem Warthegau, aus Pommern und Danzig.
Flüchtlinge im Lager an der Schleuse
Prekär war im zerstörten Dorsten die Unterbringung der vielen Flüchtlinge, die auch noch nach 1950 in die Stadt kamen und versorgt werden mussten. Seit 1947 stand als Unterkunft u. a. das Lager an der Schleuse zur Verfügung, das 1934 für die österreichische SA gebaut worden war, später als Kriegsgefangenenlager und nach 1945 als Sammelstelle für Ostarbeiter verwendet wurde und dessen wenige Baracken dann als Obdachlosenasyl dienten.
Im Juli schrieben die »Westfälischen Nachrichten«, dass die Ostvertriebenen im Lager an der Schleuse eine »Neue Heimat« mit eigenem Kleingarten-Land gefunden hätten, wo sie sich nun auf eigenem Grund und Boden wohl fühlten. Die Zeitung verschwieg in diesem Artikel allerdings, dass es mit der »Neuen Heimat« an der Schleuse nicht so gut bestellt war, wie man nach der Lektüre annehmen konnte. Denn in einer Baracke mit ihren acht Räumen wurden im Durchschnitt jeweils sechs Familien mit etwa 20 bis 25 Personen untergebracht. 1950 lebten an der Schleuse 14 Familien aus Ostpreußen, 13 aus Westpreußen, eine aus Posen, 23 aus Schlesien, 13 aus Pommern, neun aus der Ostzone, zwei aus dem Sudetenland, vier Dorstener Familien, vier aus den Westzonen und eine staatenlose Familie. Insgesamt waren es 312 Personen, davon 124 Kinder und Jugendliche.
Flüchtlinge wurden auch in die Siedlung Tönsholt, in Maria Lindenhof, in frühere Wehrmachtbaracken und neu aufgebaute Baracken, auf Bauernhöfe und in Wohnungen und Zimmer eingewiesen, die vom Wohnungsamt oft unter Zuhilfenahme der Polizei beschlagnahmt werden mussten. Meist wollte man keine Fremden in der Wohnung oder im Haus haben, und schon gar keine Evangelischen. »Franzosenkraut und Flüchtlinge wird man nicht mehr los«, war ein Spruch, den man damals nicht nur in Altendorf-Ulfkotte hörte.
Regierungspräsident rügte einen Lembecker Hausbesitzer
Viel Ärger um Flüchtlingseinweisungen gab es überall, auch in Lembeck. Als die Flüchtlingsfamilie K. am 15. August 1946 mit einem Flüchtlingstransport in Lembeck eintraf, wurde sie in die für menschliches Wohnen unzulänglich ausgestatteten Stallgebäude des Schlosses eingewiesen mit der Versicherung, dass dies nur vorübergehend sei. K. blieb in den Stallungen. Feste Zusagen des stellvertretenden Bürgermeisters Gladen für eine menschenwürdige Wohnung wurden nicht eingelöst. Eine für K. vorgesehene und fest zugesagte Baracke wurde vom stellvertretenden Bürgermeister ohne Wissen des Wohnungsamtes »in einer Nacht- und Nebelaktion« mit einer anderen Familie belegt, die der Lembecker C. aus seinem Hause haben wollte. K. beschwerte sich beim Oberkreisdirektor in Recklinghausen. Die ungerechte Behandlung durch die Lembecker, so mutmaßte K., sei auf seine Mitgliedschaft in der SPD zurückzuführen. Der Oberkreisdirektor verlangte Berichterstattung, der SPD-Landtagsabgeordnete Rohde (Recklinghausen) schaltete den Regierungspräsidenten von Münster, Hackethal, ein. Am 11. Juni 1947 schrieb er u. a. an ihn:
»Es ist tief beschämend, dass unglückliche Flüchtlinge, deutsche Brüder und Schwestern, so behandelt werden, wie es durch Eingesessene Lembecks, die sich Deutsche und noch dazu Christen nennen, geschieht. Ich erwarte bestimmt, dass die verantwortlichen Stellen die mehr als merkwürdigen Begleitumstände dieses Falles klarstellen, und dass der Familie K. endlich ein menschenwürdiges Unterkommen zugewiesen wird. Wir sind nicht gewillt, zu solchen skandalösen Vorgängen zu schweigen, die Früchte der bigotten Intoleranz der Münsterländer Ur-Indianer sind.«
Am 19. Juni 1947 kam der Vertreter des Regierungspräsidenten, Bachua, nach Lembeck, um vor Ort eine Untersuchung durchzuführen, in welche die Leiter und Sachbearbeiter der Wohnungsämter, der stellvertretende Bürgermeister Gladen, der Flüchtlingspfleger, Hauseigentümer C. sowie die beiden betroffenen Flüchtlingsfamilien einbezogen wurden. Die Beschwerde von K. wurde als rechtens angesehen, Bürgermeister-Stellvertreter Gladen wegen seines eigenmächtigen Handelns offiziell vom Kreisdirektor gerügt.
Die Familie, die unberechtigterweise in die Baracke eingewiesen wurde, sollte wieder in das Haus von C. zurück, zog es aber vor, bei einem Bauern unterzukommen. Somit war die Baracke für K. frei. Der wollte nun nicht mehr, weil auf Anordnung des Oberkreisdirektors durch Zuweisung von Baumaterial und Holz die Unterkünfte in der Stallung des Schlosses ausgebaut werden sollten. Also wurde dem anderen Flüchtling die Baracke wieder angeboten. Der verspürte keine Lust zum Umzug, weil er beim Bauern für seine Mithilfe auf dem Hof Kartoffeln bekam. Wer letztlich in die Baracke einzog, geht aus dem verstaubten Aktenbündel im Kreisarchiv Recklinghausen nicht hervor. Schließlich wurde der Fall auf höchster Ebene abgeschlossen.
Flüchtliche wurden von den Vertriebenenämtern betreut
Ostvertriebene und Flüchtlinge integrierten sich. Bald bauten sich einige der »Schleusen«-Flüchtlinge mit ihrem Lastenausgleich eigene Häuser. Die Finanzierung wurde vom Staat und von der Stadt gefördert. Im September fand der erste Spatenstich für die ersten zwölf »Füchtlingshäuser« in der neuen Siedlung für Ostvertriebene im Ortsteil Holsterhausen – Waldstraße, Op den Kuhlen, Kämpchenstiege – statt. Träger dieser ersten geschlossenen Vertriebenensiedlung im gesamten Kreis Recklinghausen war die Westfälische Heimstättengesellschaft. Flüchtlinge wurden von den Vertriebenenämtern betreut. 1950 verteilte dieses Amt 94 Paar Kinderschuhe, 305 Paar Kinderstrümpfe, 65 Kinderschlüpfer, 13 Garnituren Bettwäsche, 21 Mädchen- und zehn Knabenmäntel. Gleichfalls gelangten 234 Paar Holzschuhe aus Restbeständen kostenlos zur Verteilung.
Landsmannschaften erinnerten an die Heimat
Anfang der 1950er-Jahre gründeten die Vertriebenen ihre Landsmannschaften, organisierten Kulturabende und waren in den politischen Gremien in der Stadt, im Kreis und im Land vertreten. Heute gibt es in Dorsten vier Landsmannschaften: Oberschlesier, Niederschlesier, Pommern, Sudetendeutsche. Seit 1958 unterhält die Stadt Dorsten zu den ehemaligen Flüchtlingen aus dem schlesischen Rybnik eine Patenschaft.