Aspekte der NS-Strafjustiz – Der übelste Täter war der Staat

NS-Justiz: Volksgerichtshof mit den Richtern Reinecke, Freisler und Lautz; Foto Bundesarchiv

Von Dr. jur. Gerd Willamowski

Die Machtpolitik des Nationalsozialismus fand – so wird mit Recht behauptet – eine we­sentliche Stütze in der Justiz, vor allem in der Strafjustiz. Allerdings kann es nicht Aufgabe einer Kurzbeschreibung der Justiz des Drit­ten Reiches und ihrer Wirkungsweise im kleinräumig abgegrenzten Dorsten sein, über das Strafrecht in der nationalsoziali­stischen Zeit insgesamt und die damals in einem weitgehend von Verdächtigungen und Denunziantentum vergifteten Umfeld täti­gen Straf-Juristen zu rechten. Es ist auch völ­lig ausgeschlossen, ein Gesamturteil über die Richterschaft des Dritten Reiches zu fäl­len.

Man muss insbesondere berücksichtigen, dass es eine geschriebene Verfassung im nationalsozialistischen Staat nicht gegeben hat. Die Weimarer Verfassung (Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919) ist zwar niemals förmlich beseitigt worden; insbesondere konnte damit auch deren Artikel 102, wonach die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen waren, weiterhin Rechtsgültigkeit beanspruchen. In der Pra­xis aber gab es zahllose Fälle, in denen diese richterliche Unabhängigkeit nicht nur von den Richtern selbst kampflos aufgegeben wurde, sondern der Staat durch Drohungen, Einschüchterungen und andere – teilweise sehr subtile Repressalien – Einfluss auf die Strafrechtsprechung nahm.

Nach wohl übereinstimmender Meinung stützte sich das nationalsozialistische Re­gime auch nicht auf die Weimarer Verfas­sung, sondern war das Ergebnis einer »revo­lutionären Entwicklung« (so insbesondere: Entscheidungen des Bundesverfassungsge­richts – BverfGE -, Band 6, Seite 331, wo­nach das Ermächtigungsgesetz, das im Jahre 1933 der Regierung die Gesetzgebungsbe­fugnis übertragen hatte, nur eine »Stufe der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« gewesen sei).

Aus der "National-Zeitung" vom 10. Oktober 1941

Unsicherheit und Haltlosigkeit bei den Gerichten

Nach 1933 wurde überwiegend und zutref­fend die Ansicht vertreten, die Weimarer Ver­fassung bestehe nach der Zerstörung ihrer politischen Grundlagen als Ganzes nicht mehr. Das damit entstandene verfassungsrechtliche Vakuum ist während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus bewusst nicht gefüllt worden. Vielmehr überwog in den maßgeblichen Kreisen der damaligen Macht­haber eine ausgesprochen tiefe Abneigung gegen alles »Juristische« und Legalitäre, ge­gen feste Grenzen und geregelte Zuständig­keiten. Derartige Vorbehalte gegen geschriebenes und damit abrufbar zur Verfügung ste­hendes Recht sind im Übrigen typische Kenn­zeichen »charismatischer«, persönlicher Herrschaft und infolgedessen auch des natio­nalsozialistischen Führersystems. Man un­terschätzte die Bedeutung der Institutionen und verachtete die geschriebene Norm. Das Verfassungsrecht war demzufolge überwie­gend ungeschriebenes Recht, und auch wo es geschriebenes Verfassungsrecht gab, ging die politische Entwicklung bedenkenlos dar­über hinweg. Das Auseinanderfallen von Norm und Wirklichkeit war ein früh erkenn­bares Merkmal des Systems und bescherte insbesondere der Justiz Unsicherheit, Halt­losigkeit und Willkürentscheidungen.

Durch Gesetz vom 1. August 1934 wurde das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigt und auf den »Füh­rer und Reichskanzler« übertragen. Die »Führergewalt« galt als »allumfassende« Ho­heitsgewalt, die alle Teile der Reichsgewalt – einschließlich der Rechtsetzung und Verwal­tung – umschloss. So betrachtete sich Hitler selbstverständlich auch als oberster Ge­richtsherr. Die Stellung des Führers war Kern der Verfassung. Die Zusammenfassung aller Befugnisse in der Hand eines einzel­nen, das Fehlen von Kontrollen und Gegen­gewichten, die Ausschaltung der öffentli­chen Meinung und überhaupt jeder Kritik haben zwar den Aufbau eines gewaltigen Machtapparates möglich gemacht, anderer­seits aber dazu geführt, dass selbst wichtigste Entscheidungen ohne die erforderliche Sachkenntnis und oft willkürlich und launen­haft getroffen wurden: Unordnung und Kor­ruption waren die Folge. Nach dem »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« aus dem Jahre 1933 wa­ren NSDAP und Staat zwar unlösbar verbun­den, tatsächlich aber bestand eine Doppelor­ganisation mit ungeklärter Verteilung der Zuständigkeiten. Dabei oblag der Partei die politische und weltanschauliche Beeinflus­sung der Massen, dem Staat hingegen die Durchführung der praktischen Verwaltungsaufgaben. Dennoch überwachte die Partei den Staat und nahm – insbesondere während des Krieges – selbst hoheitliche Aufgaben wahr. Letztlich bewirkte auch der verhäng­nisvolle Ausspruch Hitlers »die Partei be­fiehlt dem Staat« permanente und verhäng­nisvolle Einmischungen in die Verwaltung und die Rechtsprechung des Staates. In ge­wisser Weise reduzierte sich sogar das Rin­gen zwischen Partei und Staat auf einen Machtkampf zwischen der »zweiten« und der »ersten« Garnitur der Partei, weil fast alle einflussreichen Staatsstellen von – den im allgemeinen fähigeren und qualifizierte­ren – Angehörigen der NSDAP besetzt wa­ren, während die Parteiorganisation selbst in menschlicher und geistiger Hinsicht im we­sentlichen eine Negativauslese darstellte.

Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler

Terror- und Willkürjustiz übten auch „normale“ Gerichte aus

Vor diesem Hintergrund grenzt es schon fast an ein Wunder, dass – trotz aller Bedrohun­gen und Einflussnahmen durch die Partei, den Staat und seine Organe – aufrechte und mutige Richter unbeirrbar ihre Pflicht taten, wie man am Beispiel des Reichsgerichts, des­sen zweiter Senat (Strafsenat) wegen seiner politisch missliebigen Judikatur mehrfach vom Reichsjustizminister gemaßregelt wurde, aufzeigen kann. Ja, es gab sogar Son­dergerichte, die trotz extremen politischen Drucks nicht das von der Partei gewünschte Urteil fällten und zu Freisprüchen kamen, was Hitler in seiner berühmten Rede vor dem Reichstag am 26. April 1942 zu dem Ausspruch veranlasste: »Ich werde nicht eher ruhen, bis jeder Deutsche einsieht, dass es eine Schande ist, Jurist zu sein.« Allerdings gab es auch Richter wie Roland Freisler, den ehemaligen Staatssekretär im Justizministerium, der als Präsident des Volksgerichtshofes eine Terror- und Willkür-Justiz ohnegleichen entfaltete. Einerseits gab es Juristen, wie die Münchener Staatsan­wälte Hartinger und Wintersberger, die im Jahre 1933 ein Strafverfahren wegen des Ver­dachts des Mordes gegen den Lagerkom­mandanten von Dachau einleiteten; anderer­seits gab es die große Gruppe jener Juristen, die sich »gesetzestreu« an die Buchstaben absolut unmenschlicher Gesetze klammer­ten und wesentlich dazu beitrugen, dass die Rechtskultur in einem schrecklichen und vorher nie gekannten Ausmaß vergiftet und zerstört wurde.

Nicht nur in der Rechtspflege, sondern auch in der Strafrechtswissenschaft wurde dafür gesorgt, dass ungeliebte, »nicht arische Ele­mente« ausgeschieden wurden. Auf einer im Jahre 1936 in Berlin vom »Reichsrechtsfüh­rer« Hans Frank und Carl Schmitt durchge­führten Tagung zum Thema »Die Juden in der Rechtswissenschaft« erklärte Carl Schmitt in seinem Schlusswort: »Geradezu unverantwortlich wäre es, einen jüdischen Autor als Kronzeugen oder als eine Art Au­torität auf einem Gebiet anzuführen; ein jü­discher Autor hat für uns keine Autorität, auch keine rein wissenschaftliche Autori­tät.«

Mühsame Errungenschaften des Rechtsstaats wurden abgeschafft

Durch die Willkür-Herrschaft des nationalso­zialistischen Staates wurden alle mühsam erkämpften Errungenschaften des Rechtsstaa­tes allmählich abgebaut: Nach einer Änderung des Strafgesetzbuches (Gesetz zur Än­derung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935) konnte u. a. auch bestraft wer­den, wer nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes oder nach gesundem Volks­empfinden die Bestrafung verdiente. Das Reichsgericht wurde durch Gesetz angewie­sen, bei der Auslegung von Gesetzen auf die nationalsozialistische Anschauung Rück­sicht zu nehmen. Die Befugnisse der Polizei, die durch die Strafprozessordnung entschei­dend eingeschränkt waren, wurden durch Spezialgesetze (z. B. die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Febr. 1933) wieder erheblich ausgeweitet. Kraft dieses Gesetzes konnten beispielsweise missliebige Personen jahrelang in Konzentrationslagern gefangen gehalten werden. Auch im Strafprozessrecht fanden erhebliche Veränderungen statt: Hitler erhielt die Macht, jedes rechtskräftige Urteil wieder durch seinen Einspruch zu beseitigen; die Rechtstellung des Angeklagten verschlech­terte sich rapide. Die Folter war wieder mög­lich. Über die Haftgründe der Flucht- und Verdunklungsgefahr hinaus wurden zusätz­liche Haftgründe eingefügt, wonach u. a. schon der Verdacht genügen sollte, dass der Beschuldigte seine Freiheit zu erneuten Straftaten nutzen werde oder »es mit Rück­sicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlich­keit nicht erträglich wäre, den Beschuldigten in Freiheit zu lassen«.

National-Zeitung vom 23. November 1941

Offizielle Folter in den Lagern und Gefängnissen

In vielen Sondergesetzen wurde zudem das materielle Strafrecht unerträglich ver­schärft: Zum Beispiel in der »Kriegssonderstrafrechtsverordnung« von 1938; der »Ver­ordnung über außerordentliche Rundfunk­maßnahmen« von 1939; der »Verordnung ge­gen Volksschädlinge« von 1939 und in der »Verordnung über die Strafrechtspflege ge­gen Polen und Juden« aus dem Jahre 1941. Trotz des propagandistischen Sperrfeuers in den Medien, wonach die Sicherheit der Be­völkerung durch die Maßnahmen der natio­nalsozialistischen Regierung gestiegen sei, sorgte gerade dieses Regime für einen weite­ren Anstieg der Gefangenenzahlen im Reichsgebiet: Ende 1932 hatte die Anzahl der Strafgefangenen in Preußen rd. 37.000 betragen, am Jahresende 1935 waren es 109.000. Im ganzen Reichsgebiet befanden sich zur gleichen Zeit 170.000 Personen in Haft, von denen rund 50.000 als »politische Gefangene« eingestuft waren. Infolge der starken Zunahme der Häftlings­zahlen in den folgenden Jahren mussten neue Gefängnisse und Zuchthäuser errichtet und teilweise sogar Fabriken zu Strafanstalten umgebaut werden. Insbesondere ging man dazu über, die in »Schutzhaft« genommenen Personen in Lagern zu sammeln. Derartige Lager wurden zuerst in Süddeutschland und in Preußen und Sachsen gebildet. Das würt­tembergische Lager auf dem Heuberg war zunächst für 1.500 Schutzhäftlinge eingerich­tet. Das bayerische Lager bei Dachau sollte 5.000 Häftlinge fassen können. Da wegen der enormen Belegungszahlen selbstver­ständlich auch das ausgebildete Gefängnispersonal nicht mehr ausreichend vorhanden war, wurden in den Konzentrationslagern SA-Leute und Angehörige der SS zur Bewa­chung und Lagerführung eingesetzt. Prügel­strafen, Folter und andere Drangsalierungen waren an der Tagesordnung. Nach der Übernahme des Konzentrationsla­gers Sachsenburg durch die SS berichteten beispielsweise illegale Mitglieder der SPD im August 1936 heimlich nach Prag: »In das Krankenhaus Chemnitz werden Häftlinge aus dem Konzentrationslager eingeliefert, die an Händen, Füßen, am Gesäß usw. ganz unglaubliche Verletzungen erlitten haben. An manchen Körperteilen ist das Fleisch wie Schwamm. Manchen Häftlingen sind innere Organe zerschlagen worden. Die Verletzten werden abgeliefert, als wenn es sich um Vieh handelt.«

Hinrichtungsstätte Plötzensee (Berlin) mit Hakenleiste und Guillotine; Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

Ein Regime der Todesurteile und Hinrichtungen

Trotz ihrer Abneigung gegen geschriebenes Recht und Juristen erließ die Reichsregie­rung von 1933 bis 1939 im Zusammenhang mit der Todesstrafe 12 Gesetze und Verord­nungen, nach Kriegsbeginn noch einmal 15. Dem »Gesetz zur Gewährleistung des Rechtsfriedens« vom 13. Oktober 1933 folg­ten rund zwei Dutzend andere nach. Tausende mussten nach Gerichtsurteilen den Weg zum Galgen, zum Schießstand, zum Richterklotz und zur Guillotine gehen.

Nach Berichten der Nachrichtenagentur »Exchange« vom 30. Juli 1945 sind allein im Rahmen der deutschen Militärgerichtsbar­keit zwischen dem 1. September 1939 und dem 30. November 1944 insgesamt 9.413 Offi­ziere, Unteroffiziere und Soldaten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die An­zahl der Zivilisten, die von 1933 bis 1945 nach Todesurteilen sterben mussten, ist nicht feststellbar. Rund 16.000 Todesurteile wur­den von 1940 bis Kriegsende durch deutsche Gerichte ausgesprochen und meist auch vollstreckt. 1.785 Menschen starben zwischen 1940 und 1945 von der Hand des Henkers in Berlin-Plötzensee. 5.212 Todesurteile ver­hängte bis Ende 1944 der durch das Gesetz vom 24. April 1934 ins Leben gerufene Volks­gerichtshof. Die Anzahl der umgebrachten Juden, die seit 1943 nicht mehr auf dem Ge­richtswege, sondern durch die Gestapo (ohne Einschaltung der Justiz) zum Tode ver­urteilt und umgebracht worden sind, kann berhaupt nicht ermittelt werden.

Henker wurden vermögende Leute

Erhielten Angehörige von Häftlingen Post aus den verschiedenen Haftanstalten, stockte ihnen der Atem, wenn es sich um offi­zielle Briefe handelte, die den Stempel der Anstalt als Absender trugen. Angst, Trauer und Schrecken waren die Folge; denn ge­wöhnlich handelte es sich um Kostenrech­nungen von Gerichtskassen, die die Adressa­ten aufforderten, Beträge zu entrichten, die der Staat »ausgelegt« hatte. Die Gebühr für die Todesstrafe betrug z. B. 300 Reichsmark, Postgebühren: 2,70 Mark, Gebühr für den »Rechtswahrer«: ca. 80 Mark, Kosten für die Strafvollstreckung: 158,18 Mark, Porto für die Übersendung der Kostenrechnung: 0,12 Mark. Zu diesen Beträgen kamen die Ko­sten für die Untersuchungshaft und die Straf­haft, die ca. 200 Mark betrugen. Die Hen­ker, die nebenbei bürgerlichen Berufen nachgingen, wurden vermögende Leute. Ei­ner von ihnen richtete beispielsweise im April 1943 126, im Mai 1943 91, im Juni 1943 116, im Juli 1943 106, im August 1943 46 und im September 1943 58 Menschen hin, wofür er insgesamt 162.900 Reichsmark erhielt. Die Schreckensherrschaft des nationalsozia­listischen Regimes und der von ihr in weiten Bereichen beherrschten Strafjustiz war to­tal. Den Bürgern wurde vorgegaukelt, ihre Sicherheit sei infolge drakonischer Maßnah­men gegen Straftäter gestiegen: In Wahrheit war niemand mehr seines Lebens sicher, denn der Staat, der vorgab, seine Bürger zu schützen und Straftaten zu verhindern, er­wies sich selbst als der größte und übelste aller Straftäter.

 

 

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