Entnazifizierung I: Plötzlich gab es 1945 keine Nazis mehr – Meist mit falschen Aussagen entlastet

Der Entnazifizierungsausschuss tagt (Fall Winifred Wagner)

Von Wolf Stegemann

Mit der so genannten Entnazifizierung konnte man keinen nationalsozialistisch gesinnten Menschen weiß waschen, ihn eines Besseren belehren. Das war auch nicht die ursprüngliche Absicht. Vielmehr war es das Anliegen der Alliierten in den Westzonen und zu Beginn der Bundesrepublik, ehemalige Nationalsozialisten aus öffentlichen Ämtern und führenden Positionen der Wirtschaft zu entfernen und ggf. zu bestrafen. Außerdem versuchten die Alliierten auch das wirtschaftliche und  kulturelle Leben von nationalsozialistischem Gedankengut zu befreien, um so eine Grundlage zur Demokratisierung zu schaffen.

Zu den Entnazifizierungsmaßnahmen gehörten die Auflösung der NSDAP und ihrer Gliederungen, Verbot jeder nationalsozialistischen und militärischen Betätigung und Propaganda, Aufhebung der nationalsozialistischen Gesetze, Verhaftung und Internierung der NS-Parteiführer, einflussreicher Anhänger und der Leiter der NS-Ämter und Organisationen, Entfernung aller mehr als bloß nominellen Mitglieder der NSDAP aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern, völlige Reinigung des Erziehungs- und Bildungswesens von nationalsozialistischen und militärischen Lehren und dessen Überwachung und die Wiedergutmachung des begangenen Unrechts.

Jeder Inhaber eines öffentlichen Amtes musste 1945 einen Fragebogen ausfüllen; aufgrund seiner Angaben wurde der Betreffende in eine von sechs Kategorien eingestuft: „automatisch zu arretieren“, „entlassungspflichtig“, „Entlassung empfohlen“, „kein Beweis für NS-Aktivitäten“, „Anti-NS-Aktivität bewiesen“.

Besetzungsliste des Entnazifizierungausschusses Dorsten 1947

Der berüchtigte Fragebogen

1946 wurden die Deutschen (außer Kriegsverbrecher) in die oben genannten fünf Kategorien eingeteilt. Die Hauptschuldigen mussten sich in insgesamt 13 Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg der gerichtlichen Entnazifizierung stellen, die mit Todesurteilen und Zuchthausstrafen für Politiker, Wirtschaftsführer, Militärs und Ärzte endete. Darunter befand sich im 8. Kriegsverbrecherprozess der Dorstener Petrinum-Abiturient (1915) Richard Hildebrandt.

Auf Veranlassung der britischen Militärregierung wurden im Frühjahr die ersten örtlichen Entnazifizierungsausschüsse mit zunächst nur beratender Funktion gemäß dem Potsdamer Abkommen zur Beseitigung des Nationalsozialismus einerichtet. Jeder Bürger ab 18 Jahren (jeder 5. Deutsche) hatte einen mehrseitigen Fragebogen auszufüllen, den zunächst die örtlichen Unterausschüsse prüften.

Auf beiden Seiten, auf der Seite der britischen Militärregierung wie der deutschen Verwaltung Westfalens war die fachliche Eignung ein unabsehbares Auswahlprinzip, wenn es um herausgehobene Positionen des öffentlichen Lebens ging. Auf der deutschen bzw. der westfälischen Seite kam aber hinzu, dass sehr strikt auch auf „politische Sauberkeit“ geachtet wurde. Im Prinzip ist diese Linie durchgehalten worden. Aber wenn beispielsweise ein guter Fachmann, ein guter Techniker zumal, gesucht wurde und einem Kandidaten mit NS-Vergangenheit kein gleichwertiger Bewerber entgegenstand, der sich als politisch einwandfrei ausweisen konnte, dann griff man auch schon mal auf ein früheres NSDAP-Mitglied zurück. Der Wiederaufbau musste augenscheinlich funktionieren, das Leben weitergehen. Das Ziel der Entnazifizierung wurde pragmatischer Handhabung unterworfen, solange es „nur“ um eine politische Neuorientierung ging. Ging es dagegen um eine Bestrafung ausgemachter Verbrecher oder um eine Entfernung von Verbrechern oder Übeltätern aus verantwortlichen Stellen, beispielsweise durch Internierung in einem der speziell eingerichteten Lager in Recklinghausen-Hillerheide, Hövelhof-Staumühle oder Hemer bei Iserlohn, so handelte man unnachsichtig.

Die Kompromisse, die bei der in Westfalen nach 1945 durchgeführten politischen Säuberung eingegangen wurden, zeigten, dass die Briten für die Wahrnehmung der großen Aufgabe einer Entnazifizierung organisatorisch nur unzulänglich gerüstet waren. Am Ende waren von der Entnazifizierung acht Prozent der 5.809.952 Menschen, die nach der Volkszählung vom 29. Oktober 1946 in der Provinz Westfalen einschließlich des Landes Lippe lebten, betroffen. Das waren gut 45.000 Bürger, wenn man die Angaben, die für die Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen ausgewiesen wurden, für das Gebiet der Provinz Westfalen und des Landes Lippe proportional hochrechnet. Rund 30.000 der Überprüften wurden als Entlastete freigesprochen oder amnestiert.

Das Verfahren

Jeder Inhaber eines öffentlichen Amtes musste 1945 einen Fragebogen ausfüllen; aufgrund seiner Angaben wurde der Betreffende in eine von sechs Kategorien eingestuft: „automatisch zu arretieren“, „entlassungspflichtig“, „Entlassung empfohlen“, „kein Beweis für NS-Aktivitäten“, „Anti-NS-Aktivität bewiesen“. 1946 wurden die ehemaligen Nationalsozialisten (außer Kriegsverbrecher) in fünf Kategorien eingeteilt:  Hauptschuldige I, Belastete II, Minderbelastete III,  Mitläufer IV und Entlastete V.

Unterausschüsse in Dorsten

Es gab einen allgemeinen Unterausschuss, dem in Dorsten zeitweise Weidner, Hovelmann, Havermann und Hühnerschulte angehörten. Ämter und Betriebe hatten eigene Ausschüsse. Der Unterausschuss stufte den Überprüften in die fünf erwähnten Kategorien ein.  und schlug die Einstufungen dem Hauptausschuss in Recklinghausen vor, der sich meist an die Empfehlung hielt. Die Mitglieder des Hauptausschusses gehörten der CDU, der KPD und der SPD an. Gegen die Einstufung, die mit Sanktionen verbunden war, konnten die Betroffenen Einspruch einlegen. 1947 wurde in Recklinghausen ein Spruchgericht mit 40 Spruchkammern eingerichtet, dem als Laienbeisitzer die Dorstener Paul Weidner, Josef Havermann, Gustav Emmrich und Anton Kasner angehörten.

Entnazifizierungsbescheinigung für Otto Budzus vom 6. März 1948

Nach dem Krieg war es plötzlich von erheblichem Vorteil, mit einem anerkannten Gegner des NS-Systems befreundet gewesen zu sein oder gar einem KZ-Häftling geholfen zu haben. Im Zuge der Entnazifizierung wurden solche Bekanntschaften oder Hilfeleistungen oft ohne reale Grundlage gegen Bezahlung dokumentiert, also schlichtweg gelogen. Diese Ehrenerklärungen zur Weißwaschung erhielten nach dem bekannten Waschmittel den Spitznamen „Persilscheine“. Früheren Nazi-Funktionären stellten Pfarrer, Klöster und Entlastete falsche Zeugnisse aus, manchmal gegen Geld, in denen den NS-Funktionären auch unter oft erkennbarer Umgehung der Wahrheit bescheinigt wurde, dass sie keine Nazis waren. Ein damals Beteiligter: „Da wurde auch von den Männern und Frauen der Kirchen gelogen, dass sich die Balken bogen!“ Die Aussteller falscher Zeugnisse brachten so die Gesinnungsschnüffelei der Entnazifizierer nachhaltig in Verruf. War am Anfang der Großteil der Bevölkerung mit der Entnazifizierung einverstanden, schlug die Zustimmung bald in Ablehnung um.

Zahllose „Persilscheine“ machten die Spruchkammern zu „Mitläuferfabriken“. Der Historiker Wolfgang Benz meint, dass es besonders ungerecht war, dass die harmlosen Fälle zuerst behandelt wurden, die  Fälle der echten Nazis später, als die Stimmung schon umgeschlagen war und sie milde beurteilt wurden. Wolfgang Benz:

„Ab Frühjahr 1948 wurde die Entnazifizierung, im Zeichen des Kalten Krieges und Wiederaufbau, in den Westzonen hastig zu Ende gebracht. Diskreditiert blieb das Säuberungsverfahren in jedem Fall, auch deshalb, weil überall Fachleute durchkamen, die für bestimmte Funktionen unentbehrlich schienen. Notwendig gewesen war die Entnazifizierung aber aus politischen wie moralischen Gründen.“

 Dieser „Persilschein-Korruption“ (Weißwaschung) widersetzten sich vor allem die Kirchen und die neu entstandenen bzw. wieder entstandenen konservativen deutschen Parteien. Das focht allerdings etliche der örtlichen Geistlichen nicht an, den lokalen NSDAP-Funktionären ihr – wenn auch geheimes und verschwiegenes – christliches Handeln im braunen Hemd zu bestätigen und mit einer Bescheinigung ihre Vergangenheit als Nazis zu annullieren. In Dorsten traten sich besonders die beiden Klöster (Franziskaner und Ursulinen) sowie Propst Westhoff (St. Agatha) als „Weißwäscher“ hervor, wie es zahlreiche Dokumente belegen. Aus diesen Gründen, die eine deutschlandweite Tendenz abbilden, verlor die Entnazifizierung immer mehr an Glaubwürdigkeit, so dass Amnestien die Verfahren erleichterten, bis sie 1954 per Gesetz beendet wurden.

Über Entnazifizierung keine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit

Die FDP fasste die Entnazifizierung als Entmündigung auf.

In Dorsten entlasteten vor allem Pfarrer, Franziskaner und Ursulinen beispielsweise den NS-Bürgermeister Dr. Gronover und den NSDAP-Ortsgruppenleiter Wolters (Deuten) zusammen mit dem Pfarrrektor, so dass die Gerichte beide als „entlastet“ einstuften. Es genügte schon, wenn einer der NSDAP-Ortsgruppenleiter vor 1933 im Chor der Gemeinde sang, um ihn als „entlastet“ anzusehen.
Etliche Dorstener waren im Recklinghäuser Camp IV (Hillerheide) in manchen Fällen jahrelang interniert und mussten sich dort der Entnazifizierung unterziehen, wie Dorfbürgermeister, Rechtsanwälte, SS-Offiziere und SA-Führer sowie Verwaltungsbeamte. 1952 wurde die Entnazifizierung in NRW beendet. Eine moralisch-geistige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit konnte die Entnazifizierung nicht leisten.

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Quellen/Literatur: 1985/86 sahen Mitglieder der Forschungsgruppe Regionalgeschichte/Dorsten unterm Hakenkreuz in die im HStA Düsseldorf lagernden rund 1.000 Entnazifizierungsakten von Dorstenern ein und veröffentlichten darüber in „Dorsten nach der Stunde Null“ (1986). – Heiner Wember „Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands“, Essen 1991. – Wolf Stegemann „Holsterhausen unterm Hakenkreuz“, 2007. – Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ (2011).

 

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