Von Rudolf Plümpe (†)
Sie wurden Atz und Nutz genannt, Karla und Puma, auch Lotti und Manni; einer hieß Graf (ohne einer zu sein), andere hatten Spitznamen wie Renner, Schnattergans und Wassermann. Dahinter verbergen sich teilweise bis heute in Dorsten allseits bekannte Nachnamen. In der Zeit des Nationalsozialismus waren sie die Stars, die großen Vorbilder als Führer von Jungvolk und Hitlerjugend. Ihre Uniformhemden zierten grüne, weiße oder rote Kordeln. Die Gesichter spiegeln etwas wider vom Leitspruch, dem sie sich verpflichtet fühlten: Jungvolk jungen sind hart, schweigsam und treu, Jungvolkjungen sind Kameraden, der Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre! So nachzulesen im Album, das eine von nationalsozialistischer Ideologie geprägte Jugend in Gemeinschaftsarbeit mit Fotos und Texten gestaltete. Dieses in seiner Art einzige Dokument befand sich im Besitz [des 2005 verstorbenen] Werner Kirstein, dem bekannten CDU-Politiker, den alte Dorstener noch als Jungvolkführer gekannt haben.
Ein zeitgeschichtliches Dokument: Werner Kirsteins Foto-Album
Beim Durchblättern des Albums hat der Betrachter den Eindruck, dass Ideologie optisch weniger hervortritt. Statt dessen Bilder von handfesten Aktionen, die das Herz eines Jungen höher schlagen ließen: Exerzieren im Lippetal, Szenen von Geländespielen, Aufmarsch unter Fanfarenklängen, Boxwettkampf auf dem Marktplatz. Werner Kirstein, geboren am 28. September 1927, machte nie ein Hehl daraus, dass er die weiße Kordel des Stammführers trug. Er setzte sich aber zur Wehr, wenn ihm in undifferenzierter Weise Nazi-Vergangenheit vorgehalten wurde: »Ich war damals ganze 16 Jahre alt, als ich sechs Monate lang als Jungstammführer und gleichzeitig als Stammführer der Hitlerjugend fungierte. « Er kam 1938 als Zehnjähriger zum Jungvolk. 1943 schien seine Karriere dort – er war inzwischen Fähnleinführer – beendet zu sein. Ihn zog es wie den älteren Bruder Helmut (als Jagdflieger vermisst in Russland) zur Flieger-HJ. Man holte ihn zurück, weil beim Jungvolk Personalmangel herrschte: Sein Vorgänger Heinz Krauel und Hubert Büß waren ausgefallen, sie kamen als Luftwaffenhelfer zum Einsatz. Werner Kirstein, der eine Lehre als Industrie-Kaufmann bei den Dorstener Drahtwerken absolvierte, wurde Jungstammführer und übernahm zusätzlich die örtliche HJ-Leitung, mit der vor ihm der spätere SPD-Politiker Heinz Seeger beauftragt war. Seeger, damals 17 Jahre, war Ende 1943 in der Nachfolge von Fred Languth Stammführer der HJ geworden. Aber nur für knapp fünf Monate, dann wirkte er als Sportwart für den gesamten Kreis Recklinghausen; auch vorübergehend. Als der Krieg langsam zu Ende ging, kam er zur Marine. Die Doppelfunktion Werner Kirsteins als Jungvolk- und HJ-Führer währte von März bis August 1944, es folgte die Einberufung zum Arbeitsdienst. Sein Nachfolger, der sich Standortführer nannte, wurde bis Kriegsende ein Unteroffizier Krampe aus dem Lazarett auf Maria-Lindenhof. Jungvolk und Hitlerjugend wurden immer mehr in den Kriegseinsatz – Melder bei Fliegeralarm, Schanzarbeiten zur Verteidigung gegen die vordringenden Alliierten und dergleichen – einbezogen.
Jungenspiele auf dem Hardtberg und Marktplatz
Beliebt waren auch die Spionagespiele, bei denen es darum ging, vom Rand der Stadt aus an Abwehrposten vorbei unerkannt ins Stadtzentrum zu gelangen. In dem zitierten Fotoalbum befindet sich ein Bild, das eine Gruppe von »Spionen« vor dem Alten Rathaus am Markt zeigt, darunter den späteren Chef der »Bäuerlichen«, Franz Maas-Timpert, verkleidet als BDM-Mädchen mit blonder Lockenperücke. Mit zunehmender Kriegsdauer – ab 1943 wurden Bombenangriffe gegen Dorsten geflogen – war’s vorbei mit der Geländespielromantik. Bei Fliegeralarm mussten auch die jüngsten Uniformierten an die Heimatfront; eine der Einsatzstellen war das Krankenhaus. Kirstein: »Nach einem Angriff sah ich in der Feldmark den ersten Toten, ich war schockiert.«
Kirstein durfte den U-Boot-Kapitän Prien spielen
Der Jungstamm Dorsten bestand aus vier Fähnlein: Dorsten (46), Hervest (47), Holsterhausen (48) und Kirchhellen (49). Zum Dienst angetreten wurde jeweils mittwochs und samstags um 15 Uhr. Das von Werner Kirstein geleitete Fähnlein 46 traf sich normalerweise im Lippetal, wo auch eine Baracke für Heimabende zur Verfügung stand. Zu Geländespielen zog man zum Hardtberg, damals Cäsarberg genannt. Vermutlich waren es Pennäler vom Petrinum, die sich diesen Namen einfallen ließen. Auf dem Marktplatz der Altstadt fanden Boxwettkämpfe statt, mit denen man das Publikum für Hitlers Jugend begeistern wollte. Einmal gab’s sogar ein Theaterstück. Werner Kirstein durfte die Hauptrolle, den U-Boot-Kapitän Günter Prien, spielen. »Ich brauchte dafür eine Kapitänsmütze, nach der wir lange gesucht haben«, erinnerte sich der Hauptdarsteller. Neben Prien galten Galland und Mölders, hoch dekorierte Jagdflieger, als Helden und Vorbilder der jungen Generation. Während der sechsmonatigen Stammführer-Tätigkeit pflegte Kirstein Kontakt zu dem NSDAP-Ortsgruppenleiter von Hervest-Dorsten und Beigeordneten bei der Amtsverwaltung Hervest-Dorsten, Otto Berke, den er wegen seiner Hilfsbereitschaft schätzte. »Ob Bezugsschein oder sonst etwas Lebensnotwendiges, ohne Otto Berke lief nichts.« Werner Kirstein hatte als »Hauptamtlicher« auch ein Büro, und zwar im Eckhaus Alter Postweg/Katharinenstraße (damals »Straße der SA«). Beziehungen zu sonstigen örtlichen Parteigrößen waren nicht so nachhaltig, dass sie ihm noch bewusst wären. Auch Querverbindungen zu den Jungmädeln und dem Bund Deutscher Mädel (BDM) hielten sich in Grenzen.
Über den Judenmord angeblich erst nach dem Krieg erfahren
Am Beispiel der Ida Schöndorf erklärte Werner Kirstein, »dass wir die entsetzlichen Dinge erst nach dem Krieg erfahren haben«. Ida, ein Mädchen aus jüdischer Familie, besuchte die Martin-Luther-Schule (damals Hindenburg-Schule). »Sie war plötzlich weg, es hieß, die Familie sei verzogen.« Das Kriegsende stürzte den jungen Kaufmannsgehilfen in ein berufliches und seelisches Vakuum. »Wir waren mit Aufräumarbeiten beschäftigt und haben Strippen gezogen.« Das Lebensgefühl erschöpfte sich in dem, was in der Umgangssprache mit »die Schnauze voll haben« bezeichnet wird, und vor allem: Nie etwas mit Politik zu tun haben! Durch Zufall begegnete Werner Kirstein damals Kaplan Hubert Tombrink, der als Neubürger vom Hervest-Dorstener Bahnhof kam und sich nach dem Weg zur Pfarrei St. Josef erkundigte. Die beiden kamen ins Gespräch, der Kaplan lud ihn zu einem Besuch ein. So stieß Werner Kirstein zu dem Kreis »Junge Familie« in St. Josef. Er lernte dort den Jungverheirateten Hans Lampen kennen, der 1952 Vorsitzender der aus dem Familienkreis hervorgegangenen Jungen Union wurde. Kirstein bekam wieder Boden unter die Füße, er stieg in die Politik ein, wurde Ratsmitglied, Fraktionsvorsitzender im Kreistag und Landtagsabgeordneter. Beruflich avancierte er vom dienstverpflichteten Untertage-Bergmann zum Personalsachbearbeiter für Arbeitnehmer-Angelegenheiten auf der Zeche. In der Familie Kirstein, zu der neben Ehefrau Ursula, geb. Paffrath, drei Söhne gehören, wurde häufig über Politik diskutiert, besonders über die Weimarer Zeit, den Nationalsozialismus und die Demokratie. Der Vater nannte die Dinge beim Namen, offen und selbstkritisch: »Was damals geschah, darf sich nie wiederholen.«
Die meisten Dorstener HJ-Führer auf dem „Feld der Ehre“ gefallen
Die meisten Dorstener Jungvolk- und HJ-Führer starben auf dem »Feld der Ehre«, nachzulesen in dem Fotoalbum. Die Bilder zeigen sie als fröhliche Hitlerjungen und mit den ernsten Gesichtern kampfgestresster Soldaten. Sie lebten nicht mehr, als immer noch an den Endsieg glaubende Jungvolk-Jugend in Schönschrift den Text zu den Bildern schrieb: Arthur Cramer, Jungbannführer, gefallen am 31. September 1941 als Leutnant in einer Fallschirmjäger-Kompanie; Kalla Cirkel, Fähnleinführer, vermisst im Osten als Gefreiter in einem Infanterie-Regiment; Hans-Otto Cirkel, Gefolgschaftsführer, gefallen am 22. August 1943 als Leutnant und Beobachter in einem Kampfgeschwader; Willi Bröckerhoff, Jungzugführer, gefallen am 1. Weihnachtstag 1943 als Nachtjäger im Kampf gegen angloamerikanische Bomber (im Bild überreicht ihm Reichsmarschall Göring das EK I); Hans Ermer, Fähnleinführer, gefallen am 2. Juli.1942 im Osten als Unteroffizier in einem Grenadier-Regiment; Helmut Kirstein (der ältere Bruder Werner Kirsteins), Fähnleinführer, vermisst am 12. Februar 1944 im Osten als Flugzeugführer in einem Jagdgeschwader usw. Als das Album entstand, lebte Ex-Fähnlein-Führer und Eichenlaubträger Theo Nordmann noch. Auf dem Foto ist »Theo nach dem 600. Feindflug« als Leutnant mit Ritterkreuz zu sehen. Später Major in einem Kampfgeschwader, kehrte er von einem Feindflug nicht mehr zurück.
- Für seine Verdienste um das Gemeinwohl wurde Werner Kirstein mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande, mit dem Ehrenring der Stadt Dorsten und 1987 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.
Ja,aber davon spricht bei uns hier in Dorsten kein Mensch mehr. Nur wenn sie über uns linke polemisieren können, die von der CDU, dann sind sie sehr, sehr emsig!