Dorstener karrten Siegmund Reifeisen in der Schubkarre durch die Stadt und verhöhnten ihn – Ostjuden wurden Anfang 1938 als unerwünschte Ausländer abgeschoben

Inserat in der Februarausgabe 1922 des „Israelischen Familienblatts“

Von Wolf Stegemann

Das Judentum in Europa teilte sich in zwei große Gruppen: in aschkenasische und in sephardische Ju­den. Als »aschkenasisch« wurde in der mittelalterli­chen rabbinischen Literatur Mitteleuropa und speziell Deutschland bezeichnet. Zugleich nennt man so die in Mittel- und Osteuropa übliche Aussprache des Hebräischen. »Sephardisch« ist die vom spanischen Judentum her geprägte Kultur und Tradition des Judentums, heute auch die levantinisch-orientalische. Bis zum 18. Jahrhundert waren aufgrund des gleicharti­gen Kulturniveaus keine schroffen Gegensätze zwi­schen den aschkenasischen Juden in Mittel- und Osteu­ropa vorhanden. Erst als die Juden Westeuropas in die Kultur der sie umgebenden Völker eintraten, während die Ostjuden kulturell ihrem eigenen Milieu verhaftet blieben, wurde die Gleichheit merklich unterbrochen. Die gebildeten Schichten des Westjudentums blickten mit einiger Verachtung auf ihre Glaubensgenossen im Osten (»Polacken«) herab, die in der orthodox-tradi­tionellen Richtung auch im Westen tonangebend wa­ren. Die Ostjuden nannten die Westjuden geringschät­zig »Jeckes« und erblickten in ihnen »Juden minderen Grades«. Dennoch kam zwischen beiden jüdischen Kulturen ein fruchtbarer Austausch zustande. Wis­sensdurstige, vom Aufklärungsgedanken beseelte Jünglinge aus dem Osten zogen nach Deutschland, um sich hier eine allgemeine Bildung anzueignen; deut­sche Juden wie Moses Mendelssohn und David Fried­länder suchten für ihre polnischen Stammesbrüder zu wirken. Weiterlesen

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Wo blieben Schmuck und Uhren der Geschwister Perlstein? – Ein Beispiel der Beraubungspraxis der Reichs- und Kommunalbehörden

Von Wolf Stegemann

Auch am Vermögen der von den Nazis im Ghetto er­mordeten Hildegard Perlstein und ihrer 1939 nach Eng­land ausgewanderten Schwester Franziska Perlstein bereicherte sich der deutsche Staat. Die Finanzbe­hörde, hier das Finanzamt Gladbeck, vollzog nach den gesetzlichen Vorschriften den Beraubungsakt. Hilde­gard Perlstein wurde 1942 nach Riga deportiert. Sie kehrte nicht zurück. Am 16. Oktober 1950 wurde sie auf Antrag von Minna Aron (Recklinghausen), die im Auftrage von Franziska Perlstein handelte, vom Amtsgericht Dorsten für tot erklärt.

Die Klägerinnen und Nichten von Franziska Perlstein, Lotte Tenenbaum und Irmgard Broniatowski (re.) bei ihrem Besuch in Dorsten (1980er-Jahre); Wolf Stegemann erklärt, wo einst in der Wiesenstraße die Synagoge stand; Foto: Holger Steffe

Nach dem Kriege beantragten die Erben Hildegard Perlsteins beim Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Essen ein Wiedergutmachungsverfahren. Der Es­sener Rechtsanwalt Hermann Röttgen vertrat die Erbengemeinschaft, der die Geschwister Franziska Perl­stein (London) und Ernst Perlstein (Pittsburgh, USA) sowie die Nichten Lotte Tenenbaum, Irmgard Broniatowski (beide Frankreich) und Edith Gottschalk (New York) angehörten. Weiterlesen

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»Arisierung« war das große Geschäft – Staat und Dorstener Bürger profitierten von der »Entjudung der Wirtschaft« – Nach 1945 hatten Profiteure nur geringe Nachzahlungen zu leisten

Hetzplakat gegen Juden in einer Apotheke

Von Wolf Stegemann

Die »Entjudung der Wirtschaft« war ein erklärtes Ziel der Nationalsozialisten, wobei sie nicht nur die rassi­sche Ideologie im Auge hatten, sondern auch die viel­fältigen Möglichkeiten, die Staatskassen zu füllen. Was dem Staate recht war, konnte den NS-Anhängern und Mitläufern nur billig sein. Zehntausende profitierten von der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürger, wobei der deutsche Staat über seine Finanzäm­ter der größte Profiteur war. Allein 900 Millionen Reichsmark kassierte er als so genannte »Reichs­fluchtsteuer« von den emigrierenden Juden. Der Wulfener Josef Moises musste über 12.000 RM »Reichsfluchtsteuer« bei seiner im Gefängnis erpressten Aus­wanderung nach Palästina bezahlen. Als während des Novemberpogroms 1938 jüdische Sy­nagogen, Geschäfte und Wohnungen verbrannt und demoliert wurden, kassierte der Staat doppelt: Der an­gerichtete Schaden musste von den Opfern gezahlt wer­den, die fälligen Versicherungssummen bekamen nicht die Geschädigten, sondern ebenfalls die Staatskasse. Zudem musste die gesamte deutsche Judenschaft 1938 und 1939 eine als »Sühneleistung« deklarierte Abgabe von über einer Milliarde Mark an den Staat entrichten, 1940 noch einmal 95 Millionen Reichsmark. Die Behörden verstanden es, durch Terror und Ge­setze Juden aus dem Wirtschaftsleben zu drängen, sie um ihren privaten Besitz und um ihre Geschäfte zu bringen, waren es nun Fabriken oder Tante-Emma-Lä­den. Weiterlesen

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„Arisierung“ – Nach dem staatlichen Raub jüdischen Besitzes blieb den Juden meist nichts

W. St. – Die „Entjudung der Wirtschaft“ war ein erklärtes Ziel der Nationalsozialisten, wobei sie nicht nur die rassistische Ideologie im Auge hatten, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten, die Staatskasse zu füllen. Deutsche Behörden nahmen den Juden nicht nur ihre Fabriken weg, sondern den kleinen Händlern auch ihre Geschäfte.

Ab dem 1. Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben sowie das Anbieten von Waren und Dienstleistungen untersagt. Schon vorher wurden jüdische Geschäftsinhaber oder Grundstücksbesitzer unter (teils öffentlichen) Druck gesetzt, das Geschäft deutlich unter dem aktuellen Wert zu verkaufen oder zu übertragen. Sehr oft waren daran bisherige Mitinhaber oder Angestellte beteiligt oder dadurch begünstigt, die ihre Verbindungen zur NSDAP oder ähnlichen NS-Organisationen zur privaten Bereicherung einsetzten. Im Herbst 1939 befanden sich von ehemals 100.000 Betrieben jüdischer Inhaber nur noch 40.000 in den Händen ihrer rechtmäßigen Eigentümer. Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938 fanden die „Arisierungen“ nur noch ihren Abschluss: Die verbliebenen Betriebe jüdischer Inhaber wurden damit zwangsweise neuen nichtjüdischen Eigentümern übereignet oder aufgelöst. Weiterlesen

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Jüdischer Besitz – Der NS-Staat raubte mit zynischer Legalität. Amalie Perlstein durfte im eigenen Haus wohnen bleiben

Amalie Perlstein mit den Enkelkindern Ursula und Liesel, die im KZ ermordet wurden

W. St. – Zug um Zug raubte der deutsche Staat das Eigentum seiner jüdischen Bürger. Auch die Dorstener Juden wurden nach dem 9. November 1938 verhaftet und ins Gefäng­nis gebracht. Unter Druck und Drohung ver­pflichteten sich die Verfolgten, ihre Geschäfte und Grundstücke zu verkaufen und ins Ausland zu gehen. Dann wurden sie freigelassen. Wer noch konnte, wanderte unter Zurück­lassung der Habe aus. Das Deutsche Reich erließ eine Flut von Gesetzen und Verord­nungen, um den Milliardenraub zu legalisie­ren.

Bei dem vorliegenden Fall der Amalie Perl­stein ist bereits ersichtlich, wie zynisch von „Auswanderung, die schon eingeleitet ist“ gesprochen wird. Der ursprünglich vereinbarte Kaufpreis über 16.000 Reichsmarken dürfte dem tatsächlichen Wert entsprochen haben. Die deutsche Regierung wollte aber nicht, dass die jüdi­schen Bürger von dem „Verkauf“ ihrer Häu­ser und Grundstücke auch noch Geld beka­men. So setzte der Regierungspräsident den »Kaufpreis« auf 12.000 RM herab, wohl wis­send, dass damit lediglich die Bankschulden bezahlt wurden und Frau Perlstein aus dem Verkauf des Hauses keinen Pfennig erhielt. Die ursprünglich vereinbarte Ratenzahlung war durch die Auflage des Regierungspräsi­denten hinfällig geworden. Amalie Perlstein musste ihr Haus in der Essener Straße abtre­ten und obendrein noch 20 RM Miete bezah­len. Weiterlesen

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