Flucht aus den Todeszügen – Ein bislang unbekanntes Kapitel jüdischen Widerstands – Bottroper Polizist erschoss flüchtenden Juden und blieb in der Bundesrepublik unbehelligt

Die Dorstener jüdischen Familien Perlstein, Metzger, Ambrunn u. a., die zuletzt zusammengezogen in verschiedenen so genannten Judenhäusern wohnen mussten, wurden am 23. Januar 1942 unter schrecklichen Umständen von Gelsenkirchen aus nach Riga deportiert, wo etliche von ihnen ermordet wurden, andere von dort mit den Todeszügen  in die Konzentrationslager Auschwitz oder Sobibor gebracht. Darüber wird in anderen Artikeln dieser Online-Dokumentation ausführlich berichtet (siehe Inhaltsverzeichnis unter jüdisches Leben und Leiden).

Deportationszug nach Auschwitz

Von Dr. Stephan Stracke

Monika de Groot (Name geändert) war 1943 acht Jahre alt. Sie lebte in einem Dorf in den Niederlan­den in unmittelbarer Nähe zur Bahnstre­cke nach Deutschland. Über diese Gleise fuhren die Deportationszüge aus dem Sam­mellager Westerbork in die Vernichtungs­lager in Auschwitz und Sobibor. Mehr als 100 000 Juden wurden auf diesem Weg in die Gaskammern transportiert. Weiterlesen

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Erklärung des Dorstener Stadtrats nach dem mörderischen Anschlag auf die Haller Synagoge im Oktober 2019: „Demokratie stärken – wider Antisemitismus und Rassismus“

Durch Schüsse beschädigte Tür der Synagoge

Der antijüdische Anschlag in Halle an der Saale am 9, Oktober 2019 war der Versuch eines Massenmordes an Juden am Jom Kippur. dem höchsten jüdischen Feiertag. Der Rechtsextremist Stephan Balliet versuchte, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu töten. Nachdem ihm dies auch mit Waffengewalt nicht gelungen war, erschoss er vor dem Gebäude eine Passantin und kurz darauf den Gast eines Döner-Imbisses. Auf seiner Flucht verletzte er zwei Personen durch Schüsse und wurde schließlich von zwei Streifenbeamten festgenommen. Datum, Ziel und die antisemitischen Motive der Tat hatte er zuvor im Internet bekanntgegeben. Die Tat übertrug er per Helmkamera als Live-Streaming. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen den geständigen Täter wegen zweifachen Mordes und neunfachen versuchten Mordes.

Tatmotive und Vorbilder im Internet

Kurz vor der Tat erschien auf dem Imageboard „Meguca“ ein Link auf ein Bekennerschreiben in englischer Sprache im Internet. Darin gab der Verfasser Auskunft über seine Motive, Absicht, Planung und seinen Antisemitismus: Ursprünglich habe er eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum stürmen wollen, weil sie schlechter bewacht seien. Doch wolle er vorrangig Juden ermorden, da diese auch hinter muslimischer Einwanderung nach Europa steckten. Er habe die Synagoge von Halle als Ziel gewählt, weil sie der nächstgelegene Ort sei, an dem er Juden finden könne. Den Jom Kippur habe er gewählt, weil er hoffe, an dem Tag würden sich auch viele „nicht-religiöse Juden“ in der Synagoge aufhalten. Er habe bewusst darauf verzichtet, diese auszukundschaften, um nicht aufzufallen. Wenn er „nur einen Juden“ töte, sei das den Anschlag wert. Demnach glaubte der Autor an eine jüdische Weltverschwörung und wollte in der Synagoge wahllos so viele Juden wie möglich töten. Zudem beschrieb er ausführlich, wie er zwei primitive Schrotflinten („slam-fire shotguns“), zwei Maschinenpistolen und die Munition dafür hergestellt hatte. So wollte er mit seinem Attentat auch die Schlagkraft selbstgebauter Waffen beweisen. Der Täter von Halle reihte sich in eine Internetszene von Rechtsterroristen ein, die einander nachahmen, um ihrerseits möglichst viele Nachahmungstäter zu motivieren. Stephan Balliet sah sich als Kämpfer in einem Rassenkrieg mit dem Ziel, möglichst viele Juden zu ermorden.

Erklärung des Dorstener Stadtrats wider Antisemitismus

Der Anschlag in Halle an der Saale und „andere Entwicklungen, die im Feld des politischen Extremismus in den letzten Jahren in Deutschland verstärkt zu beobachten sind“, haben den Stadtrat Ende Dezember 2019 zur nachfolgenden Erklärung „Demokratie stärken – wider Antisemitismus und Rassismus“ veranlasst:

„Wir, die Mitglieder des Rates der Stadt Dorsten, treten nach dem schrecklichen und menschenverachtenden Anschlag in Halle an der Saale und den zahlreichen antisemitischen Straftaten und Vorkommnisse der letzten Jahre geschlossen gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus auf.
Wir dürfen dankbar sein, dass nach der menschenverachtenden Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und dem millionenfachen Mord an Menschen jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Herkunft – dem Holocaust – wieder jüdische Gemeinden in unserem Land entstanden sind.
Wir leiten für uns als Rat und als Bürgerschaft der Stadt Dorsten daraus eine besondere Verantwortung für die Menschen jüdischen Glaubens in unserer Stadt und unserer Region sowie die für sie zuständige jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen ab.
Wir möchten, dass alle Menschen sicher und ohne Angst vor seelischer, verbaler oder körperlicher Gewalt ihren Glauben leben und frei ausüben können. Wir stehen an der Seite unserer jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn und schauen nicht weg, wie die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu Zeiten des nationalsozialistischen Terrors, der auch in unserer Stadt gewütet hat.
Wir bekennen uns zum Jüdischen Museum Westfalen und werden auch in Zukunft alles tun, damit an diesem (außerschulischen) Lernort für alle Generationen das jüdische Leben in unserer Region sichtbar und erfahrbar wird. Wir sehen uns mit dieser Erklärung in der Tradition von engagierten Menschen, die die Vergangenheit in unserer Stadt notwendigerweise aufgearbeitet und den Grundstein für das heutige Jüdische Museum* gelegt haben. Ihnen sind wir zu großem Dank verpflichtet.
Wir wollen in Zukunft im Rahmen unserer gesetzlichen Zuständigkeit und unserer staatsbürgerlichen Verantwortung die Demokratiebildung in unserer Stadt daher stärker fördern.“

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*) Zu denen, die Dorstens diesbezügliche Vergangenheit aufgearbeitet haben (Forschungsgruppe Dorsten untern Hakenkreuz) und somit den Grundstein für das Jüdische Museum legten, gehörten Wolf Stegemann, Dirk Hartwich, Sr. Johanna Eichmann (OSU), Christel Winkel, Anke Klapsing-Reich und Elisabeth-Cosanne-Schulte-Huxel.
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Die Erinnerung: Zwei Begegnungen mit Julius Ambrunn – „Paul, du darfst nicht mit mir sprechen!“

Von Paul Fiege

Es war während der belgischen Besatzungs­zeit in Dorsten (1923/25). Meine Mutter war sehr krank gewesen und musste zwingend zur Kur fahren. Wir waren sechs Kinder. Mein Vater lebte nicht mehr; er war aus dem ersten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt. In dieser schwierigen Lage hatte Mutter eine ledige Schwägerin, die in Essen wohnte und abkömmlich war, gebeten, solange in Dor­sten die Haushaltsführung zu übernehmen. Unsere Tante Anna willigte ein. Doch schei­terte ihr Kommen daran, dass sie von den Besatzungsbehörden kein Visum für die Reise nach Dorsten bekam. Die städtische Fürsorgerin sorgte dann dafür, dass wir Kin­der während Mutters Abwesenheit im Anna-Stift, dem städtischen Alters- und Kinderheim, aufgenommen und versorgt wurden. Hier im Anna-Stift hatte ich die erste unvergessliche Begegnung mit Julius Ambrunn. Weiterlesen

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Gedenktafel für die verfolgten, vertriebenen und ermordeten Dorstener Juden: Abmontiert und erst auf öffentlichen Druck wieder angebracht – Kommentar: ein Skandal

Von Tisa von der Schulenburg 1983 gestaltete Gedenktafel

W. St. – Auf Initiative der Forschungsgruppe Regionalgeschichte/Dorsten unterm Hakenkreuz, in persona Dirk Hartwich und Wolf Stegemann, brachte die Stadt 1983 die von Sr. Paula (Tisa von der Schulenburg) gestaltete Bronzetafel an der Südseite des Alten Rathauses am Markt an. Sie erinnert an die jüdischen Bürger der Stadt, die zwischen 1933 und 1945 gedemütigt, verfolgt, vertrieben und in den Lagern ermordet wurden. Eigentlich sollte die Tafel an der Stelle der früheren Synagoge in der Wiesenstraße angebracht werden. Dazu gaben die Eigentümer des jetzigen Hauses an dieser Stelle kein Einverständnis, weil sie Schmierereien befürchteten. Daher machte die Forschungsgruppe den Vorschlag, die Tafel an der seitlichen Wand des Alten Rathauses am Marktplatz anzubringen, auf dem 1938 in der so genannten Reichspogromnacht das Synagogeninventar verbrannt worden war. Zudem sei der Marktplatz für eine Gedenktafel, so Dirk Hartwich, ein geeigneter Ort der Aufmerksamkeit, Begegnung und Besinnung. Stets an den Jahrestagen der Synagogenzerstörung luden Forschungsgruppe und Stadt zu einer kleinen Besinnungsstunde an der Gedenktafel ein.

1997 wurde die Tafel vom Alten Rathaus am Markt entfernt und stattdessen eine Informationstafel über die Geschichte des Alten Rathauses angebracht. Erst nach erheblichem öffentlichen Druck – vor allem durch Dirk Hartwich und die Stadträtin Petra Somberg-Romanski – wurde die Tafel, die im Keller des jüdischen Museums verstaubte, an anderer Stelle, an einem privaten Haus in der Wiesenstraße, zehn Jahre später (2008) wieder angebracht. Weiterlesen

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Stolpersteine – Europaweite Aktion gedenkt der Juden im Pflaster. Mit Kommentar

Von Wolf Stegemann

Der Kölner Unternehmer Günter Demnig verfolgt seit 1993 die Idee, mit den so genannten Stolpersteinen an jüdische Bürger, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende und religiös Verfolgte zu erinnern. Ausgezeichnet wurde er für die Gedenk- und Geschäftsidee u. a. mit dem „German Jewish History Award“ der Obermayer Foundation (2005), mit dem Bundesverdienstkreuz, mit der „Alternativen Ehrenbürgerschaft“ in Köln sowie 2012 mit dem Marion Dönhoff-Förderpreis.

Günter Demnig verlegt Stolpersteine in Dorsten; Foto. Wulfen-Wiki

2005 präsentierte Demnig sein Projekt in Dorsten und fand überwiegend Zustimmung und Dorstener, die die Stolpersteine finanzieren wollten. Seither gibt es in Dorsten eine lose zusammengefügte „Aktionsgemeinschaft Stolpersteine“. An der Finanzierung beteiligten sich Gewerkschaften, Schulklassen, Einzelpersonen, Parteien, die durch Finanzierung so genannte Patenschaften übernehmen. Für einen Stein kassiert der Unternehmer 95 Euro. Es gab und gibt auch kritische Stimmen derer, die diese Aktion von der Durchführung her nicht gut heißen: Die Namen der jüdischen Opfer auf den Metallplatten in der Straße werden mit Füßen getreten, im religiösen Judentum wird so etwas kritisch gesehen.

2006 die ersten Metallplatten verlegt

Auf Initiative der „Frauen für den Frieden“ verlegte Günter Demnig 2006 die ersten Stolpersteine in den Straßenbelag vor den Häusern, in denen einst Juden wohnten, die in der NS-Zeit vertrieben oder ermordet worden waren. Die genormten Stolpersteine sind mit Namen und Lebensdaten versehene Messingplatten. In den folgenden Jahren übernahmen Dorstener Bürger und Schüler/innen jeweilige Patenschaften, um die Stolperstein-Aktionen zu finanzieren. Weiterlesen

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