Kirchen mussten ihre Glocken zum Einschmelzen abliefern – Aus Friedensgeläut wurde Kanonendonner

Glockenfriedhof im Freihafen Hamburg 1947; Foto: Bundesarchiv

Von Wolf Stegemann

Glocken – ihr Geläut ist ein Symbol des Friedens, aber auch des Krieges. Die Glockenschläge der Stadtpfarrkirche St. Agatha und der Kirchen in den Herrlichkeitsdörfern, die heute Stadtteile von Dorsten sind, begleiten seit der Christianisierung die Kriegsgeschichte die Stadt und ihre Menschen wie ein Chronist.

Im Ersten Weltkrieg wurde 65.000 Glocken eingeschmolzen

Abnahme der Glocken von St. Antonius in Holsterhausen 1917; v. l.: Peter Kobilski, Hermann Lütke, August Flunkert, Josef Rößmann.

Bei der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg 1914 ließ der Pfarrer die drei Glocken der neuen Antoniuskirche in Holsterhausen dem Hurra-Jubel mit einstimmen. Im ersten Kriegsjahr 1914 schrieb Rektor Flunkert von der Antoniusschule u. a. in seine Chronik: „Immer noch ertönten neue herrliche Vaterlandslieder auf den Plätzen und Straßen, besonders, wenn die Glocken einen neuen Sieg verkündeten, und legten Zeugnis ab von der echten vaterländischen Gesinnung.“ Doch schon 1917 verstummten die Glocken. Denn sie mussten – bis auf eine kleine Läute-Glocke – „mit Gott für König und Vaterland“ heruntergeholt und für das Einschmelzen zum Sammelplatz gebracht werden. Die gesetzliche Aufforderung dazu lautete: „Bekanntmachung (Nr. M. 1/1.17 K.R.A.), betreffend Beschlagnahme, Bestandserhebung und Enteignung sowie freiwillige Ablieferung von Glocken aus Bronze. Vom 1. März 1917.“ Aus den Verkündern von Frieden wurden Kanonen. Denn die Militärs aller Couleur hatten es auf die Bronze abgesehen. Nationales Militärinteresse ging noch immer über Gotteslob. Im Ersten Weltkrieg sind etwa 65.000 Glocken eingeschmolzen worden. Nicht aber die aus Dorsten und Holsterhausen. Die Glocken blieben erhalten. Die Menschen waren allerdings erbost  über die Beschlagnahme, auch wenn sie ihre Glocke für den Abgesang noch festlich geschmückt hatten und Kinder sich um die Glocke fürs Foto drapiert hatten.

Voller Zorn warf Kottendorf die Glockenteile vom Agathaturm

Als 1917 die St. Agathakirche eine Glocke abgeben musste, stieg Schmiedemeister Kottendorf in den Turm, zerschlug dort oben die Glocke und warf die Einzelteile zornig auf den Kirchplatz, wo sie eingesammelt wurden. Die Dorstener waren sehr erbost über die Beschlagnahme. Im Sommer 1918 bedrängte das Kriegswirtschaftsamt die Pfarrgemeinde zu weiteren Abgaben von vier Glocken. Doch ein protestantischer Seminarlehrer begutachtete die Glocken und stellte fest, dass sie wegen ihres hohen Klangwertes nicht abgegeben werden dürften. Doch die Behörde bestand auf der Abnahme. Pfarrer Ludwig Heming gab an, dass er keinen Mann zum Runterholen der Glocken hätte. So konnte er die vier Glocken behalten.

Im Zweiten Weltkrieg gingen die Nazi-Behörden rigoroser vor

Auch die Nazi-Behörden sagten im Zweiten Weltkrieg den Glocken den Krieg an. Schon am 5. September 1939, vier Tage nach Kriegsbeginn, untersagte der Staat das Läuten der Kirchenglocken, weil sie die Flak-Abhorchgeräte behinderten. Erst Ende Oktober wurde für Sonn- und Feiertage das feierliche Einläuten am Vorabend gestattet. Auch an Wochenenden durfte bei Begräbnissen vor dem Requiem geläutet werden. Ab Dezember 1939 war nach einer neuerlichen Verfügung des Landrats das Läuten an den Wochentagen in der Zeit von 8 bis 18 Uhr bei Gottesdiensten mit einer Beschränkung auf drei Minuten erlaubt.

Fliegerbomben, die Kirchenglocken scheppernd in die Tiefe rissen, dezimierten den Bestand deutscher Glocken drastisch, den Rest besorgte die Kriegswirtschaft. Waren die kaiserlichen Beschlagnahmekommissionen im Ersten Weltkrieg noch wahllos und mitunter human in Sachen Glockenbeschlagnahme für Kanonen, gingen die NS-Machthaber systematischer und weniger rücksichtsvoll vor. Sie befahlen reichsweit und in den besetzten Gebieten die berüchtigte „Glockenabgabe“ an die Rüstungsindustrie. Das war der Höhepunkt der so genannten „Metallspende“ für den Krieg. Die NS-Behörden klassifizierten die Glocken in Typen A, B, C und D. Die Typen C und D repräsentierten historisch wertvolle Glocken. Während A und B sofort hergegeben werden mussten, war Typ C in „Warteposition“, wohingegen Typ D geschützt war. Für den „Endsieg“ ließ manch ein Bürgermeister auch die historisch wertvolle Glocke (Typ D) vom Turm nehmen.

Drei abgenommene Glocken von St. Agatha und eine kleine Glocke von der Seikenkapelle wurden zur Sammelstelle nach Lünen gebracht.

Speck diente zur Bestechung, um 1945 die Agatha-Glocken schnell wieder heim zu holen

Schon am 4. Mai 1940 mussten alle Glocken der „Reichsstelle für Metalle“ gemeldet werden. Im Januar 1942 kamen dann die Beschlagnahmebeschlüsse. Dabei gab es zwar eine Klassifizierung der Glocken nach ihrer historischen Bedeutung – einen wirklich wirksamen Schutz für wertvolle alte Glocken bedeutete das allerdings nicht. Am 8. Januar wurden die Glocken der Heilig-Kreuz-Kirche in Altendorf-Ulfkotte, die zu St. Agatha gehörte, beschlagnahmt. Vier Wochen später die Glocken von St. Agatha, die dem hl. Johannes-, der hl. Maria und der hl. Agatha geweiht waren. Sie wurden von der Firma Nachbarschulte heruntergeholt. Die nach dem Brand von 1719 von Jan Albert de Grave in Amsterdam gegossene kleinste Glocke blieb verschont. Bevor die Glocken herunter genommen wurden, fertigte die Gemeinde eine Tonaufnahme an, die auch über die Geschichte und Inschriften der Glocken Auskunftgab. Zudem fotografierte man die Glocken, bevor sie auf die Reise zum Sammellager nach Lünen gingen, um dort in die Schmelzöfen der Kupfergießerei Lünen geschickt zu wurden. Kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner in Dorsten entdeckte ein in Lünen wohnender Dorstener die drei unbeschädigten Glocken im Sammellager. Sofort benachrichtigte er Propst Westhoff. Flugs wurde Speck gesammelt, um die Lünener zu „bestechen“. Das hatte Erfolg. Sie hievten dann mit einem alten Dampfkran die wertvollen Klangkörper aus dem Glockenfriedhof. Der Dorstener Baxmann holte sie in Lünen ab. Nach Wiederaufbau des Agatha-Turms hingen sie wieder im Dachstuhl.

Agathakirche: Arbeiter der Firma Nachbarschulte holten 1942 die Glocken vom Turm.

Lembecker Glocken wurden in beiden Weltkriegen eingeschmolzen

Alle Glocken der Kirche St. Paulus in Dorf Hervest wurden beschlagnahmt und vom Turm geholt. Dazu musste das Mauerwerk zwischen den vorderen Schallöffnungen entfernt und später wieder eingesetzt werden. Alle Glocken kamen nach dem Krieg unbeschädigt zurück.

Weniger Glück hatten die Lembecker. In beiden Weltkriegen wurden die Glocken der St. Laurentiuskirche beschlagnahmt, fortgeschafft und eingeschmolzen. Im Ersten Weltkrieg war es die kleine 1512 gegossene „Anna“-Glocke. Im Jahre 1923 wurden drei neue Glocken angeschafft, von denen zwei, die Laurentius- und Ludgerus-Glocke zum Einschmelzen an die Reichsstelle für Metalle abgegeben werden musste. Die Firma Nachbarschulte holte die Glocken am 20. Juli 1942 ab. Im Ersten Weltkrieg musste St. Mätthäus in Wulfen eine Glocke hergeben, im Zweiten Weltkrieg wurden von drei Glocken zwei eingeschmolzen. Die dritte Glocke wurde bei der Bombardierung zerstört.

90.000 Glocken auf den Glockenfriedhöfen

Sammellager wie das in Lünen entstanden überall im Reich. Die meisten Glocken wurden von diesen Lagern zum zentralen „Glockenfriedhof“ nach Hamburg-Veddel gebracht, wo rund 90.000 Glocken gesammelt wurden, um dort eingeschmolzen zu werden. Man trennte dabei das Metall in Zinn- und Kupferbestandteile. Die Glocken, den Blicken auf den Dachstühlen der Kirchtürme sonst meist entrückt, standen plötzlich zu Tausenden da, stumm, den taxierenden Blicken der staatlichen Metalljäger preisgegeben. Die größten „Rohstoffmengen in Glockenform“ lagen auf dem erwähnten Sammelplatz im Hamburger Freihafen. Hier nahm auch die wenig bekannte Glocken-Rettungsaktion ihren Anfang. Zwei couragierten Männern gelang es unter Lebensgefahr, den Glockentransport in die Schmelzöfen zu stoppen. Sie fertigten von jeder Glocke einen Steckbrief an und stellten einen Glockenatlas zusammen. Diese Kartei ermöglichte nach Kriegsende die Heimkehr der etwa 15.000 geretteten Glocken in die Städte und Dörfer – auch in die der Herrlichkeit. Glocken aus Kirchen in den für Deutschland verlorenen Ostgebieten wurden Anfang der 1950er-Jahre an Kirchen in Westdeutschland verteilt. So befinden sich in westdeutschen Kirchen etwa 120 Glocken aus dem ehemaligen Ostpreußen.

Ein krisensicherer Job

Heute würden vermutlich keine Glocken mehr für Kanonen herhalten müssen. Die heutigen Waffensysteme bestehen aus anderem Material. Früher war das anders, da beim Glocken- und beim Kanonenguss die gleichen Werkstoffe und ähnliche Verfahren zur Anwendung kamen. In Friedenszeiten waren die Bronzewerker Glockengießer und in Kriegszeiten Kanonenzieher. Ein krisensicherer Job würde man heute sagen.

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Deserteure: Feiglinge, Helden oder Opfer? – Dorstener wurde in Dresden hingerichtet – Eine geschichtspolitische Frage, die über die moralische Dimension hinausgeht

Von Wolf Stegemann

1996 stellte eine Gruppe Bürger bei der Stadt Dorsten den Antrag, ein Denkmal für Deserteure des Zweiten Weltkriegs zu errichten, der 1997 von der Politik und der Mehrheit der Bürgerschaft zwar abgelehnt, das Thema aber dennoch lange Zeit kontrovers diskutiert wurde. Dazu Prof. Dr. Wolfram Wette vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt und der Universität Freiburg: „Denkprozesse sind wichtiger als Denkmale!“

Dorstener Gefängnis mit Deserteuren überbelegt

Das Dorstener Gefängnis am früheren Hochstadenwall um 1925 (links oben)

Als das Dorstener Gefängnis bei der Bombardierung im März 1945 zerstört wurde und ausbrannte, war es u. a. von etwa 40 Deserteuren der Wehrmacht überbelegt, die teilweise in den Flammen umkamen. Es waren Soldaten, die das Feldgericht 427 in Utrecht in den letzten Kriegsmonaten zu hohen Gefängnisstrafen bzw. Strafbataillon verurteilt hatte. Das Strafbataillon sollte in Münster zusammengestellt werden. Aus Platzmangel im dortigen Gefängnis wurden die Soldaten in Dorsten untergebracht. Als das Gefängnis brannte, versuchten Anwohner die Zellen zu öffnen und konnten so elf Soldaten frei bekommen. Doch die SS, die in Holsterhausen einquartiert war, umstellte das Gefängnis, verlud die befreiten Soldaten auf einen LKW, darunter Offiziere, und soll sie am Freudenberg oder an der damals noch existenten Steinhalde in Holsterhausen erschossen haben. Die Leichen sind angeblich auf dem Waldfriedhof in Holsterhausen bestattet. Weiterlesen

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Wilhelm Daniels desertierte 1945 in Wuppertal und lief über Dorsten, durch den Weseler Wald und Marienthal nach Hause

Wilhelm Daniels 2014; Foto: Maria Nienhaus

W. St. – Damals war das heute großzügige und in den letzten Jahrzehnten an der Borkener Straße in Dingden-Berg liegende neu gestaltete Anwesen noch ein Bauernhof mit Anbau, Kühen, Schweinen, Hühnern, Schnapsbrennerei, vielen Knechten und Mägden. Und es war Krieg. Peter Daniels, der Vater von Wilhelm und seinen drei  Geschwistern, und dessen Frau Emilie, bewohnten mit vielen anderen den Hof, als die Alliierten im März 1945 vom Rhein her kamen, um ins Münsterland zu gelangen. Dabei besetzten die Briten den Daniels-Hof, wo sich der Stab des britischen Feldmarschalls Montgomery einquartierte. „Wir alle mussten das Gutshaus verlassen und in einem Nebengebäude unterkommen.“ Als die Engländer eine Pistole mit Munition im Schlafzimmer entdeckten und dann auch im Kartoffelkeller Jagdwaffen, die der Vater dort eingemauert hatte, anstatt sie abzugeben, nahmen sie den Vater fest, machten ihm den Prozess und verurteilten ihn zur Abschreckung anderer zu 15 Jahren Gefängnis, von denen er zweieinhalb Jahre in Bedburg absaß. Danach kam er frei und durfte auf den Hof zurück. Aus Dankbarkeit, dass er 1948 wieder frei war, errichteten er und seine Frau ein Hofkreuz. „Er hatte großes Glück“, sagt sein Sohn Wilhelm Daniels heute. Denn der Fall hätte auch anders ausgehen können.

Glück hatte auch der Sohn Wilhelm, heute 90 Jahre alt. Er wurde 1944 Soldat und war zuletzt in Wuppertal eingesetzt. Er besorgte sich Zivilkleidung und desertierte am 17. März 1945, war zwei Tage lang zu Fuß unterwegs, vorbei an Dorsten, durch den Weseler Wald, Marienthal bis zum elterlichen Hof, wo die Engländer gerade seinen Vater nach Bedburg brachten. „Auch ich hatte großes Glück“, resümiert Wilhelm Daniels. So bezieht er das Kreuz, das zwei Jahre später sein Vater aus Dankbarkeit errichtete, auch auf sich, der ebenso dankbar war, Krieg und Desertierung überstanden zu haben.

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 Quelle: Gespräch mit Wilhelm Daniels 2014 in Dingden-Berg
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Zivile Kriegsjustiz: Scharfe NS-Gesetze und gnadenlose Richter bedrohten das Alltagsleben mit Gefängnis, Zuchthaus, KZ und dem Fallbeil

Zeitungsausschnitt; Zeitung und Erscheinungstag sind nicht bekannt

Von Wolf Stegemann

Hitlers Politik zielte von Anfang an auf Krieg, die Wirtschaftspolitik aber hinkte aus innenpolitischen Gründen hinterher. Man wollte nach der Endphase der Weltwirtschaftskrise die Konsumgüterproduktion erst im Notfall drosseln. Das blieb zunächst sogar noch so in der Zeit der Blitzkriege 1939 bis 1941, obwohl schon am 17. März ein Ministerium für Bewaffnung und Munition unter Tobt geschaffen wurde. Die „Kriegswirtschaftsverordnung“ (KWVO)  vom 4. September 1939 diente der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft und führte das Delikt „Kriegswirtschaftsverbrechen“ ein. 1942 wurden in einer Ergänzungsverordnung die Strafbestimmungen erweitert. Das Gesetz beinhaltet die Delikte Schwarzschlachtung (auch dafür Todesstrafe), Lebensmittelmarkenfälschung, Abhören von Feindsendern, Schwarzmarktkriminalität, Kriegssteuerbetrug (Sektsteuer wurde wieder eingeführt), Schleichhandel und ähnliches.

Einführung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung

Nicht nur die Wirtschaft, auch die Justiz musste ab 1939 auf Krieg umgestellt werden: Durch Verschärfung von Strafandrohungen, zahllose Erlasse und neue Gesetze wurde ein neues Kriegssonderstrafrecht geschaffen, das für eine nie dagewesene Zahl von Delikten die Todesstrafe vorsah. Das sollte Straftäter von der Ausnutzung er Notlage im Krieg abschrecken und die „Erledigung“ politischer Gegner erleichtern. Die Kriegssonderstrafrechtsverordnung setzte mehrere Tatbestände des alten Militärstrafgesetzbuches außer Kraft und formulierte neue Straftatbestände, die höhere Strafen einschließlich der Todesstrafe vorsahen. Die KSSVO umfasste elf Paragraphen. Ihr sachlicher Kern waren die so genannten Sondertatbestände, welche in den Paragraphen 2 bis 8 definiert waren:

§ 2 Spionage
§ 3 Freischärlerei
§ 4 Zuwiderhandlungen gegen die von den Befehlshabern im besetzten ausländischen Gebiet erlassenen Verordnungen
§ 5 Zersetzung der Wehrkraft
§ 6 Unerlaubte Entfernung und Fahnenflucht
§ 7 Einschränkung der Dienstentlassung
§ 8 Disziplinarübertretungen

Im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) vom 25. August 1998 wird Bezug auf die Kriegssonderstrafrechtsverordnung genommen. „Verurteilende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit“ ergangen sind, wurden damit aufgehoben. Alle Urteile des Volksgerichtshofs sowie der 1945 in den Reichsverteidigungsbezirken eingerichteten Standgerichten waren damit aufgehoben worden, außerdem alle Verurteilungen, die auf Gesetzen und Verordnungen beruhen, die in der dem Gesetz beigegebenen Liste enthalten sind. Im Jahre 2009 wurden mit dem „Zweiten Gesetz zur Änderung des NS-AufhG“ auch alle Urteile wegen Kriegsverrat aufgehoben.

Verordnung gegen "Volksschädlinge" 1939

Verordnung gegen so genannte „Volksschädlinge“

Begriffe aus dem Arsenal der Biologie waren bei den NS-Propagandisten beliebt. Wie die Juden als „Parasiten“ gebrandmarkt wurden, so bezeichnete man Menschen, die sich an der Volksgemeinschaft vergingen, als „Volksschädlinge“, ein Begriff, der sogar rechtsförmig verwendet wurde. Die „Verordnung gegen Volksschädlinge“, gemeinhin als Volksschädlingsverordnung (VVO) bezeichnet, wurde vier Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs am 5. September 1939 erlassen und sollte der nationalsozialistischen Justiz ein wirksames Instrument zum Schutz der „inneren Front“ zur Verfügung an die Hand geben. Die einzelnen Tatbestände und Strafrahmen waren hierbei bewusst äußerst weit gefasst, so dass auch für sehr geringfügige Taten die Todesstrafe verhängt werden konnte. Von insgesamt 15.000 Todesurteilen ziviler Gerichte nach 1939 gingen die meisten auf diese Verordnung zurück.

Die Verordnungen wurden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 „Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts“ vom 30. Januar 1946 mit Wirkung vom 4. Februar 1946 förmlich aufgehoben. Sämtliche Verurteilungen, welche auf der Volksschädlingsverordnung beruhten, sind aber erst 1998 durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege wegen Verstoßes gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit aufgehoben worden.

Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen

Warnung an "Rundfunkverbrecher"

Mehr als die gegnerischen Truppen fürchtete mit zunehmender Kriegsdauer die NS-Führung die Wahrheit, wie sie „Feindsender“ verbreiteten. Mit drakonischen Strafen, gegen Ende des Kriegs regelmäßig mit der Todesstrafe, waren daher nach der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 7. September 1939“ Feindhörer bedroht, die man als „Volksschädlinge“ brandmarkte. Zu ihrer Ergreifung nutzte man alle Mittel bin hin zur Bespitzelung von Eltern durch die eigenen Kinder.

Das Abhörverbot wurde durch Presseveröffentlichungen und Ankündigungen in Filmlichtspielen publik gemacht. Zeitungen berichteten über abschreckende Strafurteile. Mitte 1941 erhielten die Blockwarte den Auftrag, alle Wohnungen aufzusuchen und an den Rundfunkgeräten oder an den Bedienungsknöpfen eine Karte anzubringen, die folgende Warnung enthielt:

„Das Abhören ausländischer Sender ist ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres Volkes. Es wird auf Befehl des Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet. Denke daran!“

In den Geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes heißt es hierzu, diese Aktion „finde in allen Kreisen der Bevölkerung eine stark negative Aufnahme. Man empfinde die Anbringung dieser Zettel als eine Kränkung und Beleidigung […] und lehne besonders ab, dass dort „die Begriffe Führer und Drohung mit Zuchthausstrafe unmittelbar nebeneinander gestellt würden.“

Bekanntmachung einer Hinrichtung

Die Quellenlage erlaubt keine genauen Aussagen zur Verfolgungsintensität. Nach einem Lagebericht von 1941 wurden monatlich zwischen 200 und 440 Personen wegen Abhörens feindlicher Rundfunkpropaganda festgenommen. In einigen näher untersuchten Gestapobereichen wurden Verstöße nur in 23 bis 47 Prozent der Fälle an die Gerichte weitergemeldet. In etwa 10 Prozent der Fälle wurden die denunzierten „Rundfunkverbrecher“ nach einer mehrtägigen Gestapo-Haft entlassen; viele der Angezeigten kamen mit einer Verwarnung davon. Die „Reichskriminalitäts-Statistik“ nennt für die Jahre 1939 bis 1942 für das Deutsche Reich (ohne Österreich) 2.704 Verurteilungen nach der Rundfunkverordnung. Gesamtzahlen für die Folgejahre fehlen, doch offenbaren Zahlenangaben einzelner Städte eine eindeutig steigende Tendenz.

Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes – Wehrkraftzersetzung

Mit Verordnung vom 17. August 1938 wurde gemäß Kriegssonderstrafrecht der Straftatbestand der Wehrkraftzersetzung eingeführt, der mit dem Tod bedroht war. Als Wehrkraftzersetzung galten die öffentliche Aufforderung zur Verweigerung der Dienstpflicht in der Wehrmacht und alle Versuche, den Willen zur „wehrhaften Selbstbehauptung“ zu lähmen. „Öffentlich waren Äußerungen bereits dann, wenn auch nur die Möglichkeit des Hinausdringens etwa aus privatem Kreis bestand, was bei Bedarf jederzeit unterstellt werden konnte. In diesem Verständnis wurden mit wachsender Kriegsdauer schließlich alle kritischen Äußerungen als Wehrkraftzersetzung gewertet, aufgrund deren – neben der Fahnenflucht – die meisten Todesurteile verhängt wurden.
Durch die „Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes“ vom 25. November 1939 wurden Wehrmittelbeschädigung, Störung eines wichtigen Betriebs, Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung, privater Umgang mit Kriegsgefangenen und Gefährdung der Streitkräfte befreundeter Staaten mit hohen Strafen bedroht.

Verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen

Weitreichende Bedeutung für deutsche Staatsangehörige erlangte der § 4(1) der Verordnung, der den Umgang mit Kriegsgefangenen beschränkte beziehungsweise als „verbotenen Umgang“ unter Strafe stellte:

„Wer vorsätzlich gegen eine zur Regelung des Umgangs mit Kriegsgefangenen erlassene Vorschrift verstößt oder sonst mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt, wird mit Gefängnis, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft.“

Eine „Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen“ vom 11. Mai 1940 stellte klar, dass jeglicher Umgang mit Kriegsgefangenen und jede Beziehung zu ihnen untersagt war, sofern diese nicht zwangsläufig durch Arbeitsverhältnis bedingt seien.

In einem internen Schreiben hatte Heinrich Himmler bereits am 31. Januar 1940 die Staatspolizeileitstellen und weitere ihm unterstehende Dienststellen angewiesen, zuwiderhandelnde deutsche Frauen „bis auf weiteres in Schutzhaft zu nehmen und für mindestens ein Jahr einem Konzentrationslager zuzuführen“. Als „gröbliche Verletzung des gesunden Volksempfindens“ sei jeglicher gesellschaftlicher Verkehr anzusehen, zum Beispiel ein Treffen bei Tanzfesten. Eine örtlich zuvor durchgeführte öffentliche Anprangerung und zwangsweise Kopfschur solle polizeilich nicht verhindert werden. Wenige Monate später korrigierte Himmler sein Vorgehen, das die Justiz gänzlich übergangen hatte. Nunmehr sollten deutsche Frauen, die sich mit Kriegsgefangenen eingelassen hatten, nach ihrer Verhaftung den Gerichten überstellt werden. Erst dann, wenn das Gericht einen Haftbefehl ablehne oder ihn aufhebe, sei die Beschuldigte erneut in Schutzhaft zu nehmen und ihn in ein Konzentrationslager zu überführen.

Verbotener Umgang mit Zwangsarbeitern und Ostarbeitern

Exekution eines Ostarbeiters mit dem mobilen Galgen eines "fliegenden" Polizeikommandos

Ende des Jahres 1940 arbeiteten im Deutschen Reich rund 1.2 Millionen Kriegsgefangene (darunter französische, britische und belgische Staatsangehörige) meist in der Landwirtschaft und im Baugewerbe. In steigendem Maße wurden Zivilarbeiter zum Arbeitseinsatz angeworben oder gepresst und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Ende 1942 arbeiteten rund 4,6 Millionen Ausländer im Reich; 1944 waren es 5,9 Millionen, darunter 2 Millionen Frauen. Viele von ihnen unterlagen als Ostarbeiter durch die Polen-Erlasse einem polizeilichen Sonderrecht. Es gab kein förmliches Gesetz, das auch den Umgang mit polnischen, russischen oder ukrainischen Zivilarbeitern verbot. Gestapo und Sondergerichte weiteten jedoch eigenmächtig die Umgangsbeschränkungen für deutsche Reichsbürger auch auf diesen Personenkreis aus. Wer des verbotenen Umgangs mit osteuropäischen Zivilarbeitern beschuldigt war, konnte ebenfalls in „Schutzhaft“ genommen und in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. Die Sondergerichte dehnten in der Folge den in der Verordnung auf Kriegsgefangene beschränkten Tatbestand gleichfalls auf Zivilarbeiter aus. Förmlich aufgehoben wurde die Verordnung durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946.

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Quellen: Text zusammengestellt aus mehreren Quellen. Friedemann Bedürftig „Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg. Das Lexikon“, Piper 2002. – Wikipedie, Online-Enzyklopädie (2015). – Barbara Just-Dahlmann/Helmut Just „Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945“, Äthenäum 1988. – Richard Barth/Friedemann Bedürftig „Zweiter Weltkrieg. Taschenlexikon, Pieper 2000. – Joseph Wulf „Das Dritte Reich und seine Diener“, Araniverlag 1961.
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Muna Wulfen – Von der Wehrmacht gebaut, von Engländern und der Bundeswehr genutzt

Von Wolf Stegemann

Rund 370 staatliche Einrichtungen mit der Bezeichnung Munitionsanstalt wurden ab 1936 im Deutschen Reich durch die Wehrmacht aufgebaut und betrieben. Nach der jeweiligen Teilstreitkraft wurde unterschieden zwischen Heeresmunitionsanstalt (Wulfen), Luftmunitionsanstalt und Marinemunitionsanstalt. Bekannte Munitionsanstalten sind z. B. Seewerk I und Seewerk II in Vorpommern oder das Werk Tanne in Niedersachsen. Damals wie heute sind die Anlagen oft unter der Abkürzung Muna bekannt.

Im Jahre 1937 wurden die ersten Bunker in Wulfen errichtet

Im Vierjahresplan 1936 bis 1940 legte die Regierung den Grundstein für die Kriegsvorbereitungen des Zweiten Weltkriegs, zu denen auch die Munitionsanstalten gehörten. Um das spätere Auffinden der Industrieanlagen für feindliche Bomberstaffeln zu erschweren, wurden die Standorte für die Anlagen auf ganz Deutschland verteilt. Häufig wählte man land- oder forstwirtschaftliche Regionen, die zudem eine leichte Rohstoffversorgung (Hydrierwerk Gelsenkirchen) ermöglichten, und einen einfachen und sicheren Abtransport des Sprengstoffes gewährleisten sollten. 1937 errichtete das Heeresbauamt der Wehrmacht die ersten Bunker für die Heeresmunitionsanstalt in Wulfen, in der während des Krieges vor allem Ostarbeiter Munition herstellen mussten. Weiterlesen

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