NS-Propagandapostkarte: Kämpferischer Auftritt der SA im Kommunisten-Viertel
Von Wolf Stegemann
Immer wieder, und das sehr oft, wird in unseren Artikeln über Rothenburger Ereignisse berichtet, dass bei Treffen der unterschiedlichen NSDAP-Gliederungen, aber auch bei kommunalen oder staatlichen Ereignisse nach der Nationalhymne das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde. Und zwar bei jedem Anlass und so oft, dass der Text auch lange Zeit nach 1945 in den Köpfen der Menschen blieb. Darüber kann der Verfasser aus der eigenen Familie und jüngster Zeit berichten.
„Als ich zusammen mit meiner Mutter im Fernsehen einen Filmbericht über die Olympiade 1936 in Berlin sah, bei der meine Mutter als Zuschauerin auf den Rängen saß, stand die 95-jährige leicht altersdemente Frau plötzlich vom Sessel auf und sang auswendig alle Strophen des Horst-Wessel-Liedes – und hatte ihren Spaß daran. Ich war darüber eigentümlich berührt und froh, dass außer mir diese Szene niemand mitbekam. Das war 2008.“
Wer war Horst Wessel und wie kam es zu seinem Lied?
NS-Propaganda-Heft 1929; Horst Wessel auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg
Hinter dieser geschilderten Erinnerung steckt der Name Horst Wessel. Während des Dritten Reiches hatte kaum jemand von denen, die inbrünstig das Horst-Wessel-Lied gesungen hatten, gewusst, wer Horst Wessel wirklich war. Die Nazi-Propaganda glorifiziert ihn als idealistischen Ur-Streiter: einen Studenten, der den Kampf gegen die Kommunisten in den proletarischen Vierteln rund um den Alexanderplatz in Berlin aufnahm und der 1930 als 22-Jähriger bei einem Überfall in seiner Wohnung tödlich verletzt wurde. Dieser frühe Tod war die Basis der Legenden. Der wirkliche Horst Wessel blieb auch nach 1945 jahrzehntelang unbekannt. Erst als nach der Wiedervereinigung 1990 Wessel-Akten im Stasi-Unterlagen-Archiv entdeckt wurden, konnte der Berliner Historiker Daniel Siemens erstmals ein reales Bild über Horst Wessel zeichnen.
Sohn aus gutbürgerlicher Familie in Bielefeld und Berlin aufgewachsen
Horst Wessel war ein 1907 in Bielefeld (NRW) geborener Sohn des protestantischen Pfarrers Ludwig Georg Wessel. Sechs Jahre später zog die Familie nach Berlin und Sohn Horst wurde als 16-Jähriger Mitglied im „Bismarck-Bund“, dem Jugendverband der rechtskonservativen „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP), und im rechtsextremen „Wiking-Bund“ unter Führung des ehemaligen Marineoffiziers Hermann Ehrhardt bei, der als Nachfolgeverband der 1922 verbotenen „Organisation Consul“ fungierte. Der frühere Geschäftsführer der Dorstener Quarzwerke, Karl Tillessen, war – wie sein Bruder auch – debenso Mitglied in dieser verbrecherischen Organsisation.
SA-Kämpfer Horst Wessel
Nach deren Verbot ging der Jurastudent Wessel 1926 in die SA und NSDAP. Seine Aufgaben bestanden hauptsächlich in der Rekrutierung neuer Mitglieder und dem Aufbau von Gruppen der „Hitler-Jugend“ (HJ). Zwei Jahre später brach er sein Studium ab und stellte sich ganz in den Dienst der SA. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Gelegenheitsarbeiten. Wegen seiner organisatorischen und rhetorischen Fähigkeiten sowie seiner offenen Gewaltbereitschaft war er bald einer der bekanntesten nationalsozialistischen Agitatoren in Berlin, deren „Truppführer“ er 1929 wurde. Er organisierte hauptsächlich die SA-Arbeit im Berliner Stadtteil Friedrichshain, wo auch viele Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) lebten, mit denen sich die SA heftige Straßenkämpfe lieferte. Im gleichen Jahr veröffentlicht die von dem Berliner NS-Gauleiter Joseph Goebbels herausgegebene NSDAP-Zeitung „Der Angriff“ ein Gedicht Wessels mit dem Titel „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen!“, welches später als „Horst-Wessel-Lied“ bekannt werden sollte. Im September 1929 zog Wessel mit seiner Lebensgefährtin Erna Jaenicke in eine gemeinsame Wohnung. Er schränkte daraufhin sein Engagement für die SA und NSDAP stark ein.
Unter mysteriös erscheinenden Umständen erschossen
Der Täter Albrecht Höhler (Polizeifotos 1930)
Der junge Horst Wessel wurde am 14. Januar von Albrecht Höhler (1898-1933), einem Mitglied des „Roten Frontkämpferbunds“ (RFB), angeschossen und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Die Umstände dieser Tat blieben bis 1990 der Öffentlichkeit unbekannt. Am 23. Februar starb Horst Wessel an seinen Verletzungen. Goebbels stilisiert ihn daraufhin in einer breit angelegten Propagandakampagne zu einem „Blutzeugen der Bewegung“, woraus ein regelrechter Horst-Wessel-Kult entstand. Seine Taten verklärten die Nazis so, dass sie sogar den Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain in „Horst-Wessel-Stadt“ umbenannten. Ein Segelschulschiff der Reichsmarine erhielt den Namen Horst Wessel. Aus ihm selbst machten sie einen idealistischen Ur-Streiter: einen Studenten, der den Kampf gegen die Kommunisten um die proletarischen Viertel rund um den Alexanderplatz aufnahm und der 22-jährig bei einem Überfall in seiner Wohnung tödlich verletzt wurde. Dieser frühe Tod war die Basis der Legenden. Real ist vielmehr, wie Daniel Siemens herausfand, dass Horst Wessel, lediglich für ein Dreivierteljahr Sturmführer im Bezirk Friedrichshain war, der als ausgewiesener Arbeiterbezirk nicht zu den starken Bezirken der Nationalsozialisten gehört hatte. Die Prozessakten nahm 1933 die Gestapo unter Verschluss, 1945 die Stasi. Der Alliierte Kontrollrat verbot 1945 das Lied. Dieses Verbot ist aufgrund § 86a StGB in Deutschland bis heute in Kraft. In Österreich gelten vergleichbare Bestimmungen.
Zu sechs Jahre Gefängnis verurteilt, nach 1933 im Wald erschossen
Albrecht Höhler geflohen; Steckbrief 1930
Albrecht Höhler (1898–1933) flüchtete zunächst nach Prag, kehrte dann aber nach Berlin zurück, wo er festgenommen wurde. 1930 wurde Höhler wegen Totschlags zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Höhler in ein Gefängnis der Gestapo in Berlin verlegt. Am 20. September 1933 wurde Höhler auf Befehl des SA-Gruppenführers von Berlin von drei Kriminalbeamten am Polizeigefängnis am Alexanderplatz auf Grundlage eines von der Gestapo unterzeichneten Aushändigungsbefehls übernommen, offiziell, um ihn in ein anderes Gefängnis zu überführen. In der Nähe des Potsdamer Platzes stießen einige weitere Fahrzeuge zu dem Gefangenentransporter. Die Fahrzeugkolonne fuhr in Richtung Frankfurt an der Oder. Etwa 12 km vor Frankfurt wurde Höhler in einem Waldstück als Mörder von Horst Wessel zum Tode verurteilte. Höhler wurde daraufhin von mehreren der Anwesenden nahe der Chaussee Berlin-Frankfurt erschossen. Die Leiche wurde an Ort und Stelle notdürftig vergraben. Im offiziellen Bericht zu dem Vorfall wurde wahrheitswidrig behauptet, der Transport sei von einer sieben bis acht SA-Männern umfassenden Gruppe auf der Straße abgefangen und die Beamten unter Androhung von Gewalt zur Herausgabe Höhlers gezwungen worden, der dann mit unbekanntem Ziel verschleppt worden sei.
Wessels Prozessakten im Stasi-Unterlagen-Archiv entdeckt
Wessels Mitgliedsausweis in der Bismarck-Jugend
Seit dem Krieg waren die Prozessakten verschollen. Diese fand Daniel Siemens bei seiner wissenschaftlichen Detektivarbeit im Stasi-Unterlagen-Archiv. Die Stasi hatte die Akten bewusst unter einer falschen Registraturnummer abgelegt. In den Akten befinden sich Zeugenaussagen über den Mord und dem Tag danach. Albrecht Höhler, der Todesschütze, war ein Zuhälter und Krimineller aus dem kommunistischen Milieu. Daniel Siemens:
„Zeile für Zeile lässt sich in den Akten verfolgen, dass sich Horst Wessel in ein Geflecht aus ideologischen und privaten Fehden mit dem Arbeiter-Milieu verstrickt hatte. Dass er mit einer ehemaligen Prostituierten zusammenzog und dass er Mietstreitigkeiten mit seiner Vermieterin hatte. Das alles summierte sich bei dem Überfall, bei dem der Mörder schließlich auf eigene Faust handelte. Die Nazis warteten die Ermittlungen erst gar nicht ab. Für ihre Propaganda-Zwecke war der Fall ein gefundenes Fressen.“
Der Horst-Wessel-Kult begann gleich nach dem Tod
Grab Horst Wessels im November 1934
Wessel war noch gar nicht tot, da hatte Goebbels schon im Blick, dass sich hier eine NS-Märtyrer-Geschichte ereignen könnte. Horst Wessel wurde im Grab seines Vaters bestattet. Der Grab-Besuch zum Todestag und das rituelle Absingen des Horst-Wessel-Liedes wurden zu sakralen Bestandteilen einer Staatsreligion, der Pfarrerssohn wird zu einer Art Christus-Figur. Plätze, Straßen und Krankenhäuser werden nach Wessel benannt, dabei sind auch die Zeilen des Wessel-Lieds eigentlich nur ein kaum bekanntes Pennäler-Gedicht. In Statuen erscheint sein Dichter hart wie Krupp-Stahl, während er in Wahrheit ein schmächtiger Jüngling war, der bei der „Wiking-Jugend“ Gitarre spielte.
Der Horst-Wessel-Kult nach 1945: Die NPD hielt Verklärungsseminare
Grab nach der Wiedervereinigung 1990
Der Horst-Wessel-Kult wird in heutigen NPD-Kreisen wieder aktiviert. In einem Strategiepapier rühmt der NPD-Nachwuchs das „politische Soldatentum“ nach dem Vorbild von Wessel. Der reale Horst Wessel war indes ein von der Nazi-Ideologie verblendeter Bürgerssohn, der in dem Milieu, mit dem er sich einließ, strauchelte und umkam.
Sein Grab befand sich auf dem St. Nikolai-Friedhof im Prenzlauer Berg neben dem seines Vaters, dem ehemaligen Pfarrer von St. Nikolai. Bis 1945 war es Aufmarschplatz der Nationalsozialisten. 1945 wurde der Namen vom Grabstein entfernt, auf dem auch der sines Vaters stand. Nach der Wiedervereinigung setzten Rechtsradikale einen neuen einfachen Stein. Sie nutzten die Begräbnisstelle als Wallfahrtsstätte.
Eingeebnetes Wessel-Grab
Um den Zugang dazu zu behindern, pflanzte die Friedhofsverwaltung mehrere Sträucher auf dem eingeebneten Platz, die in nächtlicher Aktion aber wieder herausgerissen und durch Blumen ersetzt wurden. Jahr für Jahr huldigten Neonazis vor allem rund um Wessels Todestag am 23. Februar dem SA-Mann, legten Kränze und Blumen nieder. 2001 wollte die „Kameradschaft Germania“ eine Mahnwache samt „Reichskriegsflagge, Fackeln und Megafon“ mit 70 Teilnehmern abhalten. In den letzten Jahren blieb es bei Rosen mit schwarz-weiß-roten Bändern sowie „Unvergessen“-Kerzen. 2013 veranlasste der zuständige Pfarrer die Entfernung des Steins und aller anderen Hinterlassenschaften und ebnete die Grabstelle erneut ein. Vor der Presse: „Wir kontrollieren die Stelle regelmäßig und werden auch künftig alles wegräumen.“ Das Grab ist zwar weg, ob der Friedhof aber zur Ruhe kommt, ist ungewiss.
Das Singen des Liedes ist strafbar, dennoch wird es immer wieder gespielt
Schändung des Opferdenkmals auf dem Kommunalfriedhof Salzburg 2014
Dass das Horst-Wessel-Lied bis heute noch in vielen Köpfen herumspukt, belegen auch einige gerichtsanhängige Vorkommnisse. Es gibt keine geführten Statistiken über das verbotswidrige Absingen dieses Liedes, nur Einzelfälle:
Bei einem Traditionstreffen eines Fallschirmjägerverbandes in Würzburg wurde 1955 nach dem Deutschlandlied das „Horst-Wessel-Lied“ gesungen. – Im Jahr 1957 wurde es mehrfach von angetrunkenen Staatsanwälten, darunter dem Ersten Staatsanwalt bei der Schleswig-Holsteinischen Generalstaatsanwaltschaft Kurt Jaager, in den Räumen des Oberlandesgerichts in Schleswig „gegrölt“, unter anderem auch zur Mittagszeit in der Kantine des Oberlandesgerichts. Kurt Jaager wurde seines Dienstes enthoben. – Bei einem Gesangskonzert 1986 in Lingen (Emsland) sangen die Choristen zum Abschluss das Horst-Wessel-Lied. Die juristische Auseinandersetzung darüber ging bis zum Oberlandesgericht und führte zur heutigen Rechtsprechung des Verbots. – In den Jahren 1987 bis 1989 gab es in der DDR elf Prozesse gegen Jugendliche (Rostock), weil sie das Lied gesungen hatten. – Der spektakulärste Vorfall mit einem Todesopfer ereignete sich im Jahre 2000 in Halberstadt. Ein 60-jähriger Rentner beschwerte sich bei der Polizei, in der Wohnung über ihm werde lautstark das Horst-Wessel-Lied abgespielt. Die Polizeibeamten verwarnten den 28-jährigen Wohnungsinhaber allerdings nur wegen Ruhestörung. Der Rentner drohte diesem, er werde ihn anzeigen, wenn er noch einmal „Nazimusik“ höre. Später kam es zu einem Zusammentreffen der beiden im Treppenhaus, bei dem der Musikhörer den Rentner erstach. Er machte Notwehr geltend und wurde freigesprochen, da weder dieses Argument widerlegt noch das Abspielen des Liedes nachgewiesen werden konnte, so das Urteil.
Der Text des Kampfliedes der NSDAP-Sturmabteilung
NS-Propaganda-Postkarte
Der Text Wessels glorifiziert die paramilitärische Unterorganisation der NSDAP, die SA. Die Melodie ist eine gängige und wurde aus verschiedenen vorhandenen Kompositionen zusammengestellt, darunter die bayerische Moritat vom Wildschütz Jennerwein. Die SA und der von ihr ausgeübte Terror spielten eine bedeutende Rolle bei der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Im Liedtext wird sie jedoch ausschließlich als Massenbewegung im Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit dargestellt, während der aggressive Charakter der Organisation und ihr ausgeprägter Antisemitismus nicht thematisiert werden. Hier der Text des „Horst-Wessel-Lieds“.
Die Fahne hoch!
Die Reihen fest (dicht/sind) geschlossen!
SA marschiert
Mit ruhig (mutig) festem Schritt
|: Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen,
Marschier’n im Geist
In unser’n Reihen mit :|
Die Straße frei
Den braunen Bataillonen
Die Straße frei
Dem Sturmabteilungsmann!
|: Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen
Der Tag für (der) Freiheit
Und für Brot bricht an :|
Zum letzten Mal
Wird Sturmalarm (/-appell) geblasen!
Zum Kampfe steh’n
Wir alle schon bereit!
|: Schon (Bald) flattern Hitlerfahnen über allen Straßen (über Barrikaden)
Die Knechtschaft dauert
Nur noch kurze Zeit! :|
Zum Abschluss wurde die erste Strophe wiederholt.
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Quellen: Daniel Siemens: „Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten“, Siedler 2009. – „Berliner Kurier“ vom 30. August 2013. – Wikipedia (Aufruf 2016).