„Manchmal werde ich angepöbelt“ – Über Ignaz Bubis‘ Leben als deutscher Jude nach dem Krieg. Ein Interview

Ignatz Bubis (1927-1999)

Ignatz Bubis, Sohn eines Schifffahrtsbeamten, wurde 1927 als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Breslau geboren. Mit dem Aufkommen des Naziterrors floh seine Familie in die polnische Kleinstadt Deblin. Nach der Eroberung durch die Deutschen kam Bubis ins Ghetto, das er dank seines Geschicks als unentbehrlicher Briefträger überlebte. Später wurde er in ein Arbeitslager bei Tschenstochau deportiert. Dem Abtransport zur Vernichtung im Januar 1945 entging er, weil er sich unter einem Strohsack verstecken konnte. Sein Vater und viele seiner Verwandten wurden ermordet. Seine Frau Ida entkam dem Tod im KZ Dachau gleichfalls nur mit Glück. In Dresden baute sich der 18-Jährige im Auftrag der sowjetischen Besatzer eine Tauschzentrale auf, die Konsumwaren gegen Edelmetalle handelte. 1956 ließ er sich in Frankfurt nieder, wo er einen Schmuck- und Edelmetall-Großhandel betrieb. Mit einem billig erworbenen Mietshaus am Kurfürstendamm in Berlin wechselte Bubis ins Immobiliengeschäft. Er baute bald Wohn- und Bürokomplexe in Frankfurt und beteiligte sich an fünf Hotelbauten in Israel. Seine Konfrontation mit der Hausbesetzerszene in Frankfurt der siebziger Jahre trug ihm bei den damaligen Grünen den Ruf eines „jüdischen Spekulanten“ ein. Weiterlesen

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Flucht vor der Geschichte – Täter erklärten sich zu Verführten, Mitläufer zu Opfern: Warum die Deutschen so lange brauchten, bis sie sich ihrer NS-Vergangenheit stellten

Ein deutsches Mädchen ist überwältigt, als es am 17. Mai 1945 bei Buchenwald die exhumierten Körper von einigen der 800 Sklavenarbeiter sieht. Scham und Schuld werden bald von Verdrängung abgelöst; Foto: National Archives FAQ

Von Dr. Heribert Prantl, SZ-Redakteur

Eintrag im Tagebuch des Schriftstellers und späte­ren Diplomaten Wilhelm Hausenstein, niederge­schrieben in Tutzing am Starnberger See am 8. Mai 1945:

„Heute Nachmittag im Dankgottes­dienst, dem eine recht würdige Aufführung einer Mes­se von Haydn einigen Glanz gab. Der Cellist Hoelscher wirkte mit, er hatte vom Hakenkreuz auf die Orgelem­pore hinaufgefunden… Ach, keiner will jetzt ,dabei‘ gewesen sein; keiner hat das Parteizeichen im Rockum­schlag ernst gemeint; die Charaktere stehn in Blüte. Es ist zum Speien. Im Rathaus drängen sich Geschäftema­cher, suspekte Figuren mit nazistischer Vergangenheit in den Vordergrund. Das Leben scheint nicht anders zu sein. Von einer Umkehr merkt man kaum ein Anzei­chen.“

Und am nächsten Tag fährt Hausenstein fort:

„Sie weinen, wenn man ihnen (fürs Erste) die Wohnungen wegnimmt, um Offiziere und Soldaten einzuquartie­ren; das heißt: sie weinen über den Verlust der noch im­mer hergebrachten Bequemlichkeit, aber sie beziehen nichts, rein nichts auf den Gedanken der Züchtigung, deren jeder Deutsche harren muss (jeder, und ich neh­me mich wahrhaftig nicht aus). Wollte nun endlich die Kirche das Wort ergreifen! Wollte sie Prediger aussen­den, wie Savonarola einer gewesen ist!“ Weiterlesen

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Gestapo- und SS-Leute arbeiteten als Beamte für den BND der 50er- und 60er-Jahre. Bundeskanzler Konrad Adenauer billigte das höchstpersönlich

Von Dr. Malte Herwig

Carl Theodor Schütz schien ein ehrenwerter Mann zu sein. Der Agent mit dem Decknamen „Scherhag“ hatte sich „in menschlicher und politischer Hin­sicht voll bewährt. Seine Haltung war zu je­der Zeit beweisbar untadelig.“ Schütz sei ei­ne „charakterlich einwandfreie, ausgereif­te, sensible, temperamentvolle Persönlichkeit mit ausgeprägtem Willen, die jederzeit ein Vorbild für ihre Mitarbeiter ist“.

"Charakterlich einwandfrei": Was in seiner geheimen BND-Personalakte nicht steht, dass Schütz für den Mord an 335 Geisel in den Ardeatinischen Höhlen mitverantwortlich war; Repro: SZ

So steht es in der geheimen Personalak­te, die der Bundesnachrichtendienst über seinen Mitarbeiter V-2978 führte. Unter der überaus positiven Beurteilung vom 1. Januar 1957 prangt die Unterschrift seines obersten Vorgesetzten, des bundesdeut­schen Geheimdienstchefs Reinhard Geh­len. Mehr als ein Jahrzehnt zuvor hatte der „charakterlich einwandfreie“ Genien-Agent als SS-Hauptsturmführer an der Hin­richtung von 335 italienischen Geiseln vor den Toren Roms teilgenommen. Auf sein Kommando waren die gefesselten Gefange­nen in Fünferreihen vorgeführt und mit Ge­nickschüssen ermordet worden. Fünf Stun­den hatte das Morden am 24. März 1944 gedauert, das als Massaker in den Ardeatinischen Höhlen in die Geschichte einging. Doch Schütz wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen wurde er Angestellter der „Organisation Gehlen“ und später des Bundesnachrichtendienstes (BND). Kein Zu­träger wie die SS-Verbrecher Walter Rauff oder Klaus Barbie, deren Verbindungen zum BND unlängst aufgedeckt wurden. Sondern hauptamtlicher Agentenführer. Weiterlesen

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NS-Vergangenheit deutscher Politiker: Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 in den Westzonen bzw. in der Bundesrepublik Deutschland politisch tätig waren

Der entdeckte NSDAP-MItgliedsantrag des späteren Ministerpräsidenten Filbinger

W. St. – Der Historiker und Journalist Malte Herwig schrieb in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 23. Dezember 2011: „Die NS-Zeit zählt zu den besterforschten Epochen deutscher Geschichte – die folgenden Jahre allerdings nicht. Die Bundesregierung hat auf Anfrage der Linken in ihren Archiven gestöbert und einen umfangreichen Bericht herausgegeben. Das Ergebnis: Die Zahl ehemaliger Politiker mit NS-Vergangenheit ist erschreckend.“ Dabei ging es, wie Herwig schreibt, „um personelle Kontinuitäten in Ministerien und Behörden von Bund und Ländern, um die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen, um Wiedergutmachungsleistungen und die Finanzierung von Gedenkstätten“. Gefunden wurde im Bundesarchiv endlich auch der NSDAP-Aufnahme-Antrag des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Des weiteren kam heraus, dass „allein 26 Bundesminister und ein Bundeskanzler (Kurt-Georg Kiesinger) Mitglieder in der NSDAP oder einer nationalsozialistischen Organisation wie SA, SS oder Gestapo gewesen waren“ (Herwig), darunter auch der bereits erwähnte Hans Filbinger (CDU), Horst Ehmke (SPD), Walter Scheel (FDP), Friedrich Zimmermann (CSU) und Hans-Dietrich Genscher (FDP), Karl Carsten (CDU). Zwei davon waren Bundespräsidenten (Scheel und Carsten). Weiterlesen

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Altnazis fanden im Vertriebenenbund lange eine Heimat. Neue Studie belegt: acht von 13 Funktionären von 1958 waren in der NSDAP

Die Präsidentin des Vertriebenenbundes, Erika Steinbach, hat die neue Studie in Auftrag gegeben. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

Der Bund der Vertriebenen wurde laut neuen Untersuchungen in seiner Gründungszeit im Wesentlichen von Nationalsozialisten angeführt. Das geht aus einer Studie des Instituts für Zeitgeschichte hervor. Demnach waren 8 von 13 Mitgliedern des ersten, 1958 konstituierten Verbandspräsidiums Mitglieder der NSDAP gewesen. Zum Vergleich: Der Anteil der Parteiangehörigen an der deutschen Bevölkerung betrug laut Studie bei Kriegsende 1945 nur rund zehn Prozent. Die Präsidentin des Vertriebenenbundes, Erika Steinbach, hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben.

Auch von den fünf übrigen, die Adolf Hitlers Partei nicht angehörten, könnten nur zwei „als dezidierte Nicht-Nationalsozialisten“ eingestuft werden. Das schreibt der Autor Michael Schwartz in seinem Buch „Funktionäre mit Vergangenheit“, das die Ergebnisse der vom Bundesinnenministerium geförderten Studie zusammenfasst. Die anderen drei Nicht-Parteigenossen hätten „starke politische Affinitäten zum Nationalsozialismus“ aufgewiesen.
Zwei Präsidiumsmitglieder stuft die Studie als „schwer belastet“ ein. Das sind Alfred Gille, Gebietskommissar der deutschen Besatzungsverwaltung in der Ukraine und in Weißrussland, sowie Erich Schellhaus. Letzterer war während der NS-Zeit Bürgermeister und sei außerdem „sehr wahrscheinlich“ an der „NS-spezifischen Partisanenkriegsführung in Weißrussland“ beteiligt gewesen. Diese Beteiligung könne auch in „die Beteiligung an Massenmorden an jüdischen Bevölkerungsgruppen gemündet“ sein.

Studie von Michael Schwartz

Ergebnis der Studie für Vertriebenenbund „wenig überraschend“

„Möglicherweise schwer belastet“ nennt Autor Schwartz unter anderem Rudolf Wollner, der sich als überzeugter „Weltanschauungskrieger“ im Alter von 17 Jahren freiwillig zur Waffen-SS gemeldet habe. Als „vollkommen unbelastet“ bezeichnet die Studie nur zwei Mitglieder des ersten BdV-Präsidiums: Linus Kather und den Sozialdemokraten Wenzel Jaksch, der von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Ausgerechnet Jaksch habe den Vertriebenenbund besonders geprägt, teilte Steinbach mit. Die Präsidentin des Vertriebenenbundes nannte die Ergebnisse der Studie „wenig überraschend“.
Sie selbst hatte die Untersuchung im Oktober 2007 in Auftrag gegeben, nachdem der „Spiegel“ 2006 über die Nazi-Vergangenheit vieler Verbands-Spitzenfunktionäre berichtet hatte. „Ein Millionenheer an Entwurzelten versuchte verzweifelt, wieder Grund unter die Füße zu kriegen. Organisationsstrukturen dafür gab es nicht“, sagte sie. „So ist erklärlich, dass es Männer mit zuvor gesammelter organisatorischer Erfahrung waren, die das Heft in die Hand nahmen.“

Die erste Verbandsspitze habe sich aber „ganz offenkundig“ für die Demokratie engagiert. Das Institut für Zeitgeschichte nannte die Tatsache, dass Männer mit einer solchen Nazi-Vergangenheit auch nach dem Krieg weiter hochrangige Ämter bekleiden durften, „ein Beispiel für die problematische Elitenkontinuität in der jungen Bundesrepublik“ (dpa).

 

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